Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) ließ anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des AGG durch Rechtsexperte_innen eine Evaluation erstellen.1 Darin wird die Kirchen klausel (§ 9) als ein Teil des AGG bezeichnet, der von Anfang an einer der umstrittensten war. Der Paragraf erlaubt es nämlich kirchlichen Arbeitgebern nicht nur in sogenannten verkündigungsnahen Berufen, ihre Kriterien zu katholischer oder evangelischer Kirchenmitgliedschaft und zum Lebenswandel (katholisch) anzuwenden. Nein, auch Personal in Pflege und Medizin, Reinigungskräfte, Verwaltungsangestellte und im Erziehungsbereich Tätige müssen die sogenannten Loyalitätspflichten erfüllen. Sie werden sonst nicht oder nur zu schlechteren Bedingen eingestellt oder gekündigt.
Das AGG bietet ihnen keinen Schutz vor dieser Diskriminierung, sondern zementiert die vorher schon umstrittenen Sonderrechte der Kirchen weiter. Auch das Bundesverfassungsgericht befand 1985 und 2014, die Kirchen dürften selbst bestimmen, an wen sie welche Anforderungen stellen möchten. Karlsruhe folgt damit dem Argument der Kirchen, dass alle Mitarbeitende in kirchlichen Kitas, Kliniken und Pflegediensten in einer sogenannten Dienstgemeinschaft gleichermaßen dem Herrn dienen. Das Konstrukt ist übrigens juristisch und theologisch umstritten und ebenfalls eine deutsche Besonderheit.
Sonderrechte der Kirchen weichen von EU-Vorgabe ab
Die Autor_innen der Evaluation legen detailliert dar, inwiefern die EU-Richtlinie eine Ungleichbehandlung jedoch nur erlaubt, wenn es um „wesentliche berufliche Anforderungen nach der Art der Tätigkeit“ geht. Konform dieser EU-Vorgabe müsse im § 9 AGG der Tätigkeitsbezug ergänzt werden, um nur an verkündigungsnahe Berufe wie etwa Pfarrer oder Caritas-Vorsitzende entsprechend ungleiche Anforderungen stellen zu dürfen. Man könne aber auch ganz auf § 9 verzichten, denn in § 8 AGG ist eben jene „wesentliche berufliche Anforderungen nach der Art der Tätigkeit“ für alle Arbeitgeber möglich und müsse demnach nicht noch in einem Sonderparagrafen für Kirchen festgelegt werden. Inwiefern jemand genügend Achtung vor der kirchlichen Prägung der Einrichtung habe, könne bei verkündigungsfernen Berufen im Einstellungsverfahren auch ohne das formale Kriterium einer Kirchenmitgliedschaft geprüft werden, so die Autor_innen.
Die Evaluation geht ausführlich auf die beiden Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus 2016 ein, nach denen die EU-Konformität der Kirchenklausel vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) überprüft werden soll. In einem Fall geht es um eine konfessionslose Bewerberin, die von der Diakonie ablehnt wurde, also eindeutig um das AGG-Diskriminierungsmerkmal „Religion und Weltanschauung“. Da „Familienstand“ kein solches AGG-Merkmal ist, wurde der inzwischen recht bekannte Fall des Düsseldorfer Arztes, dem aufgrund seiner Wiederheirat gekündigt wurde, bislang eigentlich nicht als „AGG-Fall“ betrachtet. Doch das BAG argumentierte auf der Basis der Ungleichbehandlung innerhalb der katholischen Klinik: Während evangelische Kolleg_innen erneut heiraten dürften, obliege der Arzt den Anforderungen seiner katholischen Kirche und somit auch seines Arbeitgebers. Durch diese Argumentation des BAG ist das Merkmal „Religion und Weltanschauung“ angesprochen, wodurch das Gericht den Fall bzw. die Kirchenklausel ebenfalls vom EuGH prüfen lassen kann.
Religion und Weltanschauung als Diskriminierungsmerkmal
Im Deutschen bilden „Religion und Weltanschauung“ ein oft selbstverständliches Begriffspaar. Die Autor_innen der Evaluation sehen darin jedoch Forschungs- und Diskussionsbedarf, um die Kategorie Weltanschauung stärker auf das Individuum beziehen zu können.
Zudem ist die Diskriminierung aufgrund der Weltanschauung nur im arbeitsrechtlichen Teil des AGG erwähnt. Dass dies im zivilrechtlichen Teil des AGG noch nicht der Fall ist, bezeichnet die Evaluation als eine Schutz- und Regelungslücke. In dem Teil geht es um Massengeschäfte wie beispielsweise um die Anmietung von Versammlungsräumen oder die Teilnahme an einer nicht-geschlossenen Veranstaltung (Disco, Theater).
Schon die Übersetzung der EU-Vorgabe führe zu unterschiedlichen Reichweiten des Begriffs in den europäischen Ländern. In Großbritannien sind zum Beispiel Glaube, Anschauung und Überzeugung (belief) vor Diskriminierung geschützt, in Frankreich Überzeugungen (les convictions), so die Recherchen der Autor_innen. Sie plädieren für eine Erweiterung von „Weltanschauung“ etwa durch „feste Überzeugung(en)“ oder „tiefgreifende Überzeugung(en)“ im Sinne von Artikel 4 Grundgesetz und Artikel 10 Grundrechte-Charta. Es müsse sich mit Blick auf die Gewissensfreiheit um etwas handeln, das die Persönlichkeit im Kern so präge, dass eine Verleugnung der Überzeugung die Person in Gewissensnöte brächte.
Bislang sei juristisch ungeklärt, ob es sich bei Veganismus oder Teilen der Tierschutzbewegung um eine Weltanschauung handle. Marxismus als gesamtgesellschaftliche Theorie, die Anthroposophie und der atheistische Humanismus würden im rechtlichen Kontext dahingegen bereits als Weltanschauung betrachtet, legen die Autor_innen dar.
Gegen eine Erweiterung in Richtung politische Auffassungen sprechen sie sich jedoch ganz klar aus. Sie erläutern, weshalb „Weltanschauung“ 2006 vom damaligen Gesetzgeber aus dem zivilrechtlichen Teil wieder gestrichen wurde. Damals habe man befürchtet, „dass Anhänger*innen z.B. völkischer und rassistischer Ideologien versuchen könnten, Versammlungsräume oder andere zivilrechtliche Güter gerichtlich einzuklagen, deren Anmietung oder Erlangung ihnen aus anerkennenswerten Gründen verweigert wurde. Diese Begründung ist rechtsdogmatisch wenig überzeugend. Es ist bereits widersprüchlich, wenn die Streichung mit der Gefahr begründet wird, dass Rechtsradikale den Schutz der Weltanschauung für ihre Zwecke im Wirtschaftsleben nutzen könnten, da ihre Gesinnung als politische Gesinnung von der Rechtsprechung nicht als Weltanschauung anerkannt wird“, so die Autor_innen der lesenswerten Evaluation.
Anmerkung
1 http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Recht_und_gesetz/10_Jahre_AGG/10_Jahre_AGG_node.html