Dieser Begriff ist in Baden-Württem-berg aber bereits „besetzt“ und bezieht sich auf einen völlig anderen Sachverhalt, nämlich auf die sogenannte „Simultanschule“, in der alle Schülerinnen und Schüler ohne Rücksicht auf ihre religiöse Zugehörigkeit gemeinsam unterrichtet wurden. Wie unklug diese Namensgebung war, zeigt sich jetzt bei der Vorbereitung der notwendigen Ergänzung des Schulgesetzes. Es kommt über diese neue Schulart zu einem neuen „Kulturkampf“, aber diesmal mit anderen Vorzeichen: Während es beim Schulstreit des neunzehnten Jahrhunderts darum ging, die Herrschaft der Kirchen über das Erziehungswesen abzuschaffen und an die Stelle der konfessionellen Bildungseinrichtungen eine staatliche „Simultanschule“ zu setzen, haben jetzt die großen Kirchen im Land Baden-Württemberg durchgesetzt, dass die neu eingerichtete Gemeinschaftsschule mit dem Etikett „christlich“ versehen wird.
Um zu verstehen, was sich derzeit im grün-rot regierten „Ländle“ abspielt, ist ein Blick in das Gesetzbuch sowie in die Bildungs- und Verfassungsgeschichte des Landes notwendig.
Für alle öffentlichen und privaten Schulen in Baden-Württemberg sind die Erziehungsziele der Landesverfassung verbindlich, am wichtigsten ist die Bestimmung in Artikel 12:
„Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.“
Darüber hinaus enthält die Landes-
verfassung noch weitere Erziehungsziele (beispielsweise das Gebot, dass in allen Schulen der „Geist der Duldsamkeit und der sozialen Ethik“ zu walten habe und dass die Jugend „zu freien und verantwortungsfreudigen Bürgern zu erziehen“ sei). Insgesamt ist das ein bunter Strauß. Zwar gehören dazu auch die „Ehrfurcht vor Gott“ (allerdings ohne dies auf eine christliche Gottesvorstellung einzuengen) und der „Geist der christlichen Nächstenliebe“, aber dadurch werden die Schulen nicht zu christlichen oder gar konfessionellen Einrichtungen.
Insofern besitzen die Schulen in Baden-Württemberg grundsätzlich keinen religiösen „Charakter“ – mit
einer Ausnahme: Die Grund- und Haupt-
schulen, die früheren „Volksschulen“, nehmen eine Sonderstellung ein: Sie werden in der Landesverfassung als „christliche Gemeinschaftsschulen“ definiert.
Dies hat historische Ursachen: 1876 wurden im damaligen Großherzogtum Baden – das war damals ein liberales Musterländle – gegen den erbitterten Widerstand vor allem der katholischen Kirche die evangelischen, katholischen und jüdischen Volksschulen zu „Simultanschulen“ vereint. In ihnen wurde der Unterricht für alle Schüler gemeinsam erteilt, außer im Fach Religion. Diese „Simultanschule“ war eine überkonfessionelle Gemeinschaftsschule, also keine „christliche“ (auch keine „bikonfessionelle“), sondern eine säkulare Schule. Im Königreich Württemberg blieben die Volksschulen hingegen konfessionell getrennt, dort gab es also bis zur Nazi-Zeit evangelische und katholische Volksschulen.
Nach 1945 entstanden auf dem Gebiet des heutigen Baden-Württem-berg zunächst drei Länder, die ihr Schulwesen jeweils eigenständig regelten. Die öffentlichen Volksschulen wurden
► „christliche Schulen“ im Bundesland Württemberg-Hohenzollern, teilweise als evangelische bzw. katholische Bekenntnisschulen,
► „christliche Gemeinschaftsschulen“ im Bundesland Württemberg-Baden,
► „Simultanschulen mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinn“ im Bundesland Baden.
Wer alt genug ist, um sich erinnern zu können, der weiß, warum nach 1945 auf einmal von „christlichen Gemeinschaftsschulen“ oder von „Simultanschulen mit christlichem Charakter“ gesprochen wurde. Die neuen Länder im Südwesten versuchten in bewusster Abkehr von der nationalsozialistischen Epoche der Bildungspolitik eine neue Farbe zu geben: „Aus braun mach schwarz“.
Nach der Vereinigung der drei Länder zum Bundesland Baden-Württemberg (1952) galten in den einzelnen Landesteilen für die Volksschulen zunächst die bisherigen Bestimmungen weiter. 1967 aber brauchte die CDU auf einmal eine neue Mehrheit, um weiter regieren zu können und bildete mit der SPD eine große Koalition. Die SPD verlangte hierfür von der CDU, die Konfessionsschulen im ganzen Land abzuschaffen. Durch eine Verfassungsänderung erhielten alle öffentlichen Volksschulen (jetzt: Grund- und Hauptschulen) 1967 die Schulform der „christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen, die am 9.12.1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben“ (Landesverfassung Artikel 15).
Für die Grund- und Hauptschulen (und nur für diese!) wurde seinerzeit zusätzlich bestimmt, dass die Kinder „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen“ werden (Landesverfassung Artikel 16). Alle anderen öffentlichen Schulen des Landes, also die Realschulen, die Sonderschulen, die Gymnasien und die beruflichen Schulen, besaßen und besitzen keinen religiösen oder weltanschaulichen „Charakter“.
Die Auseinandersetzung um das neue Gesetz
Anfang 2012 gab die neue Landesregierung einen Gesetzentwurf für ihre neue Gemeinschaftsschule in die Anhörung. Im Gesetzestext selbst taucht der Begriff „christlich“ nicht auf. Aber in der Begründung wurde in verschwurbelten Formulierungen angedeutet, die neue Gemeinschaftsschule sei sozusagen eine Verwandte der schon bestehenden christlichen Gemeinschaftsschule. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft witterte den Braten und protestierte dagegen; auch die Evolutionären Humanisten Freiburg haben sich gegen diesen „Etikettenschwindel“ ausgesprochen.
Die Kirchen sahen das offenbar ganz anders. Die Erwähnung der christlichen Gemeinschaftsschule in der Begründung reichte ihnen nicht und – oh Wunder – sie setzten sich durch. Das Kultusministerium hat den Regierungsfraktionen am 28. Februar 2012 mitgeteilt:
„Das Kultusministerium hat sich mit den Kirchen geeinigt, in dem Gesetzentwurf zur Gemeinschaftsschule in § 8 a Absatz 1 Schulgesetz folgenden Satz einzufügen: ‘Die Gemeinschafts-schule wird als christliche Gemein-schaftsschule nach den Grundsätzen der Artikel 15 und 16 der Landesverfassung geführt.’“ Der Wortlaut verrät: Die Kirchen hatten offenbar heftigen Druck ausgeübt.
Wir brauchen keinen neuen Kulturkampf
Das Vorhaben der grün-roten Koalition ist mit der Verfassung nicht vereinbar: Die beiden einschlägigen Verfassungsartikel 15 und 16 enthalten rechtlich abschließende Regelungen: Ausschließlich die Grund- und Hauptschulen besitzen einen „christlichen“ Charakter und nur für sie gilt der zusätzliche Erziehungsauftrag „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“. Es ist unzulässig, diese Schulform durch eine einfach-gesetzliche Regelung zu ändern oder auf andere, neu eingerichtete Schularten zu übertragen. Hierzu bedürfte es einer Verfassungsänderung.
Der durch nichts begründete Besitzanspruch der Kirchen und das Nachgeben der grün-roten Regierungskoalition bedeuten einen politisch-historischen Rückschritt; sie markieren den Rückfall in eine durch die bisherige Entwicklung überholte Kulturkampf-Haltung. Es ist weder einseh- noch vermittelbar, warum ausgerechnet diese neue Gemeinschaftsschule, die nicht zuletzt der Schülergruppe mit Migrationshintergrund (und damit oft auch nichtchristlicher Religionszugehörigkeit) bessere Bildungschancen ermöglichen soll, dezidiert an ein einzelnes religiöses Bekenntnis gebunden werden soll. Welches Signal soll der besondere Erziehungsauftrag „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ (Art. 16 LV) muslimischen oder konfessionslosen Eltern geben? Wenn der Staat dem Druck der Kirchen auf das öffentliche Bildungswesen nachgibt, wird der in Baden-Württemberg seit 1967 aufgebaute Schulfrieden gestört, die neue Gemeinschaftsschule würde in fataler Weise falsch etikettiert und mit einer völlig unnötigen, gefährlichen Hypothek belastet. Ihr Charakter als Schule für alle würde damit beschädigt und die Kritik, es handle sich bei der neuen Gemeinschaftsschule lediglich um eine Nachfolge-Institution der bisherigen Hauptschule, würde Auftrieb erhalten.
Es ist zu erwarten, dass klagen de Eltern vor dem Bundesverfassungsgericht Recht bekommen und das begrüßenswerte politische Vorhaben einer Schule für alle dadurch Schaden nimmt.