Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 2/24 | Geschrieben von Ernst Peter Fischer

„Eine Pille gegen die Erwärmung der Erde“

Ein Gespräch mit Ernst Peter Fischer über das Erfolgsmodell Wissenschaft, Geheimnisse und unrealistische Erwartungen

Wissenschaftliches Denken hat dazu geführt, dass die Menschen ihr Wissen enorm ausweiten und sich so neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen konnten. Gleichzeitig wächst die Zahl der Menschen, die Produkte, die auf wissenschaftlicher Forschung beruhen, ganz selbstverständlich im Alltag nutzen, Wissenschaft an sich aber distanziert gegenüberstehen. Über diesen Widerspruch, wissenschaftlichen Fortschritt und den Vertrauensverlust in die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft sprach MIZ mit dem Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer.

MIZ: Herr Prof. Dr. Fischer, mit Blick auf Ihre lange Pub­likationsliste nehmen wir an, dass sie Wissenschaft als ein Erfolgsmodell einschätzen. Liegen wir da richtig?
Ernst Peter Fischer: Da liegen Sie richtig. Die Chemie ist zum Beispiel eine biblische Wissenschaft. Sie ernährt die Hungrigen, kleidet die Nackten und heilt die Kranken. Und die Menschheit würde ohne das iPhone vor Langeweile aussterben, welches sie der Physik verdankt, deren Vertreter die nötigen Transistoren entwickelt haben – wobei ich allerdings sicher bin, dass kein Mensch, der auf ein Handyknöpfchen drückt, weiß, was er oder sie damit bewegt oder wie die Musik in das Kästchen kommt, das ja keinen Tonträger – etwa eine Schallplatte – hat. Albert Einstein hat einmal gesagt, es sollten sich alle schämen, die sich der Wunder der Wissenschaft bedienen und nicht mehr davon verstehen als eine Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst. Die meisten Menschen sind konsumierende Kühe, nichts weiter.
MIZ: In Anbetracht der zunehmenden bzw. immer wieder aufkommenden Kritik an der Wissenschaft, was lässt Sie zu dem Schluss kommen, dass Sie mit Ihrer Einschätzung richtig liegen?
Ernst Peter Fischer: Die aufkommende Kritik hat mit einem eklatanten Mangel an Bildung zu tun und falschen Erwartungen, die man an die Wissenschaft stellt. Soziologen dürfen im Feuilleton immer noch die Meinung verbreiten, die Naturwissenschaften entzaubern die Welt, weil sie die Dinge berechenbar machen. Sie scheinen nicht verstehen zu wollen, dass deterministische Gesetze seit dem 19. Jahrhundert die zweite Geige spielen und es überall um Wahrscheinlichkeiten und Verteilungen geht. Selbst die künstliche Intelligenz operiert mit bedingten Wahrscheinlichkeiten, wobei ich Ihnen viel Glück wünsche, wenn Sie einen Amtsträger darüber informieren und ihm den Begriff erläutern wollen. Die Leute sind zudem unverschämt anspruchsvoll geworden und erwarten etwa von Klimaforschern klare Auskünfte über die eindeutigen Schuldigen, was dann politisch zu klaren Anweisungen über das richtige Handeln führt, wobei das Publikum verlangt, „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Die Leute verteidigen ihre Rechte und wollen von Pflichten nichts wissen.
MIZ: Es gibt ja den Vorwurf, Wissen­schaft sei eine Erzählung unter vielen, die zu Unrecht für sich beansprucht, exklusiv Wissen zu schaffen. Was genau ist Wissenschaft und wie unterscheidet sie sich von anderen Versuchen, die Welt zu erklären?
Ernst Peter Fischer: Wissenschaft be­ansprucht nicht, exklusiv Wissen zu schaffen. Es ist ein seit ein paar Jahr­hunderten erfolgreich betriebener Versuch, beobachtbare Abläufe in der Natur zu verstehen, um die erworbenen Kenntnisse anwenden und zur Erleichterung des Lebens nutzen zu können. „Wissen ist Macht“, hieß das mal, und die Betreiber von Wissen­schaft haben verschiedene Verfahren entwickelt, um Fragen der Art beantworten zu können, warum sich Planeten auf Ellipsenbahnen bewegen, wieso Menschen mit dem Kopf nach unten im Weltall hängen können, warum es nachts dunkel wird, wie sich die Aggregatzustände des Wassers unterscheiden, wie die Vielfalt der Lebensformen entstanden ist, ob es Atome gibt, obwohl man sie nicht sehen kann, wie sich chemische Verbindungen – Goethes Wahlverwandtschaften – erklären lassen und immer so weiter. Als grundlegende Methode beginnt ein Forschungsprojekt mit einer Hypothese, die experimentell zu testen ist und deshalb falsifizierbar sein sollte, wie der Philosoph Karl Popper in seiner Logik der Forschung herausgearbeitet hat. Die Hypothese, dass auf der Rückseite des Mondes ein blaues Einhorn Tango tanzt, konnte im 19. Jahrhundert nicht falsifiziert werden. Viele Hypothesen von heutigen Wissenschaftsgegnern sind von dieser Qualität.
MIZ: Können Sie uns ein historisches wie aktuelles Beispiel für eine Sternstunde der Wissenschaft nennen?
Ernst Peter Fischer: Ein Beispiel für eine historische Sternstunde ist Albert Einsteins Wunderjahr 1905, in dem er die spezielle Relativitätstheorie entwickelt, die Lichtquantenhypothese aufstellt, es ihm gelingt, die Atome in einem gegebenen Volumen zu zählen und er die Äquivalenz von Energie und Materie erkennt – E=mc2. Als zweites Beispiel weise ich auf die Publikation des Buches Über den Ursprung der Arten hin, das Charles Darwin 1859 vorgelegt hat. Im 20. Jahrhundert würde ich in den Weltraum blicken und dort nach der Mondlandung und dem Hubble Space Teleskop schauen. Das heißt, eigentlich sollte man noch den Einblick in die Struktur des Erbmaterials erwähnen, der 1953 die berühmte Doppelhelix aus DNA erkennen konnte. Das fünfzig Jahre danach abgeschlossene Genomprojekt liefert in meinen Augen keine Sternstunde der Wissenschaft. Großforschung ist nicht automatisch große Forschung.
MIZ: Wie kommt wissenschaftlicher Fortschritt zustande? Ist es die immer wiederholte Anwendung der bewährten Methoden, die zu neuen Perspektiven führt? Oder entstehen Paradigmenwechsel anders?
Ernst Peter Fischer: Bei dieser Frage fällt auf, dass sich Wissenschaft durch ihre Fortschritte ausweisen kann, was man in Kunst oder Philosophie nicht unbedingt erwartet. Ist Picasso fortschrittlicher als Rembrandt? War Hegel besser als Kant? Wissenschaftlicher Fortschritt bedeutet mehr Macht über die Natur, und wer systematisch danach sucht, wird sich bemühen, seine Techniken zu verbessern, um zum Beispiel die Messgenauigkeit zu erhöhen, die Instrumente zu verfeinern und die Rechenkapazitäten der Computer zu erhöhen.
Paradigmenwechsel kommen so eher weniger zustande, sie haben mehr mit einem Umdenken zu tun, das man zum Beispiel verstehen kann, wenn man Erkennen dadurch definiert, dass man sagt, eine äußere Beobachtung muss mit einem inneren (seelischen) Bild zusammentreffen und als passend beurteilt werden. Dies war der Fall, als Johannes Kepler im 17. Jahrhundert die alte Kreisbahn der Planeten durch eine Ellipsenform ersetzte. Götter machen Kreise, keine Ellipsen. Diese Form der Umlaufbahn konnte nicht mehr mit himmlischen Kräften verstanden werden. Sie benötigte eine physikalische Erklärung, die Isaac Newton schließlich liefern konnte.

MIZ: Was ist es, das Wissenschaft erfolgreich macht? Bzw. worin genau besteht die Leistungsfähigkeit von Wis­senschaft?
Ernst Peter Fischer: Wissenschaft gibt den Menschen Macht über die Welt, und sie hat unter anderem die Versorgung der Haushalte mit Elektrizität möglich gemacht und verstanden, wie man Energie bekommt und damit umgehen muss, um eine Zivilisation am Laufen zu halten. Wissenschaft kann den Menschen auch Angst nehmen, indem sie zum Beispiel Blitze und Gewitter nicht als Zorn der Götter, sondern als physikalische Prozesse erfasst. Sie kann auch die Position der Erde im Weltall darstellen und dabei klar machen, wie unwahrscheinlich der Zusammenstoß mit Kometen ist. Natürlich gibt es plötzlich Menschen, die sich Sorgen machen, von einem schwarzen Loch oder einem Frankenstein Monster verschluckt zu werden, aber denen kann durch Bildung geholfen werden.
MIZ: An die vorherige Frage anschließend, wo stößt Wissenschaft an ihre Grenzen?
Ernst Peter Fischer: Wissenschaft ist als Kind der Aufklärung stark geworden, was das Versprechen einschloss, die Welt durchsichtiger zu machen. Niemand ahnte, wie komplex alles ist. Heute liefern die Meldungen über Wissenschaft eher das, was Robert Musil bereits 1930 als „unermessliche Undurchdringlichkeit“ der Welt bezeichnet hat, wodurch selbst das Gehirn eines Leibniz überfordert wäre. An dieser Grenze gilt es aber nicht zu verzweifeln.
MIZ: Gibt es etwas, was die Wissenschaft nicht leisten kann bzw. nicht leisten sollte?
Ernst Peter Fischer: Was das Können angeht, so hat es immer wieder Gren­zen gegeben – selbst naturgesetzlich festgelegte –, die schließlich durch neue Ideen überwunden werden konnten, etwa das Auflösungsvermögen von Mikro­skopen. Was das Sollen angeht, so kann man fragen, ob man historische Ent­wicklungen hätte aufhalten können, etwa die zur Atombombe. Die Antwort heißt ganz sicher Nein!, denn die Kernwaffe basiert auf Einsteins E=mc2, wie in einer der vorherigen Fragen erläutert, und diese Einsicht stammt aus dem Jahre 1905. Mit ihr beantwortet er die Frage, ob die Masse eines Körpers von seinem Energiegehalt anhängt. Damals hatten die Physik noch kein Modell eines Atoms und den Begriff Atombombe hätte niemand verstanden.

Heute fragt man, ob man verhindern kann, dass die KI die Kontrolle in menschlichen Gesellschaften übernimmt. Intelligenter als die Menschen sind die Maschinen schon, wie zu lesen ist, auch wenn vorsichtig zwischen der biologischen Intelligenz einer Person und der digitalen Intelligenz eines Computers unterschieden wird.

MIZ: Mit der Kritik an der Wissenschaft geht auch der Vorwurf der „Entzau­berung der Welt“ (Max Weber) einher. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ernst Peter Fischer: Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie sehr die Idee einer Entzauberung der Welt an der Wirklichkeit der Wissenschaft vorbeigeht. Ich habe dies ausführlich in meinem Buch Die Verzauberung der Welt dargestellt. Wissenschaft kann Geheimnisse nicht lüften, nur vertiefen. Das macht sie so attraktiv. Dummerweise wissen das ihre schimpfenden Feinde nicht. Die Armseligen kann ich nur bedauern.
MIZ: Wo liegen nach Ihrer Einschätzung die Ursachen für den Vertrauensverlust in die Wissenschaft?
Ernst Peter Fischer: Wer auf die Welt als Ganzes zu schauen versucht, stößt auf Umweltprobleme, den Klimawan­del, die Müllmengen in den Meeren, eine Pandemie, Hungersnöte, explodierende Kosten im Gesundheitswesen und irgendwie scheint das alles mehr mit Wissenschaft und Technik und weniger mit den Menschen zu tun zu haben, die als ahnungslose Konsumenten weiter machen wollen wie bisher und enttäuscht sind, wenn die Wissen­schaft nicht auf Knopfdruck eine Lösung liefert. Bei einer Infektion hilft ein Antibiotikum dem Köper mit hoher Temperatur. Da kann man doch eine Pille gegen die Erwärmung der Erde verlangen.
MIZ:
Was kann bzw. was muss getan werden, damit künftige Generationen Wissenschaft wieder positiv sehen bzw. das Interesse an Wissenschaft wieder geweckt wird?
Ernst Peter Fischer: Aristoteles hat ge­schrieben, die Menschen streben von Natur aus nach Wissen, weil sie die Schönheit der Welt erklären möchten. Wer mit offenen Augen in die Natur mit ihrer Lebensvielfalt und an den Himmel mit seinen Sternen schaut, wird neugierig werden und Interesse an Wissenschaft gewinnen. Er oder sie kann nicht anders. Wer lieber auf sein iPhone glotzt und nicht einmal wissen möchte, wie das Wunder in seiner oder ihrer Hand funktioniert, wer also nicht mehr staunen und sich wundern kann, der ist Einstein zufolge tot. Ich befürchte, dass die Mehrheit der Menschen längst tot ist. Sie leben zwar länger, haben aber keine Ahnung, wozu sie das tun. Das Leben hat mehr Jahre, aber die Jahre nicht mehr Leben. Erst schlagen Menschen die Zeit tot, und dann sich selbst.

Ich hätte einen Vorschlag, hier etwas in Bewegung zu setzen. In seinen Tagebüchern der Jahre um 1970 hat der Schweizer Schriftsteller Max Frisch gefragt, ob man wirklich so lange leben will, wie es die Medizin möglich macht. Warum entscheidet nicht jeder oder jede, wann es für sie oder ihn genug ist. Frisch hat die Gründung einer Vereinigung Freitod empfohlen, in der man lernen kann, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Wir brauchen so etwas dringender denn je. Nicht dem Tod ausweichen. Dem Tod entgegentreten. Welche Rolle spielt der Sensenmann im Leben eines Einzelnen oder der Gesamtheit von Menschen? Wissenschaft kann bei der Umsetzung einer Entscheidung zum Selbstmord helfen. Wir kontrollieren mit wissenschaftlicher Hilfe längst den Anfang des Lebens. Es wird Zeit, sich um das Ende zu kümmern.