Prisma | Veröffentlicht in MIZ 3/24 | Geschrieben von Martin Bauer und Rolf Cantzen

„Äußerungen über die Vorhaut Jesu wurden im Jahre 1900 päpstlicherseits untersagt“

Ein Interview mit Rolf Cantzen über seinen neuen Roman, 
der dieses Verbot nicht einhält

„Eine Reliquienverschwörung“ – so lautet der Untertitel von Rolf Cantzens neuem Roman Magische Haut, der im Sommer erschienen ist. Aber in dem Buch geht es nicht in erster Linie um eine religiöse Praxis, die im deutschsprachigen Raum keine allzugroße Rolle mehr spielt, sondern um die sehr aktuelle Frage des Machterhalts der katholischen Kirche in Zeiten fortschreitender Säkularisierung und des Missbrauchsskandals. MIZ sprach mit dem Autor über Fiktion und Realität, über Vorhaut-Kapläne und vorgebliche Aufklärer.

MIZ: Was ist denn eine „Reliquien­verschwörung“? Rotten sich da Kno­chensplitter, Tuchfetzen und andere heilige Kleinigkeiten zusammen, um die Welt zu erobern?

Rolf Cantzen: Ja, genau darum geht es: Ein letztes Aufbäumen einer finanziell gut ausgestatteten Organisation, die sich darauf besinnt, dass allerlei Obskures sie lange an der Macht gehalten hat. Doch die Schweißtücher, Kreuzessplitter, das Ei des Heiligen Geistes, die Knochen und Schädel von merkwürdigen Heiligen haben eigentlich längst ausgedient. Da fragt sich eine Gruppe frommer Männer, warum sie nicht die Vorhaut Jesu reaktivieren sollen, aber nicht mehr als hochheilige Reliquie, sondern als leibhaftiges Stückchen vom göttlichen Glied. Die Suche nach der wahren Vorhaut führt sie in Klöster, Museen und Kirchenkeller. Schließlich werden sie fündig.

MIZ: Nun gibt es die Vorhaut Jesu (oder was dafür ausgegeben wird) ja wirklich und tatsächlich auch mehrfach. Wie weit bildet dein Roman Realität ab, und ab wann nimmst du dir literarische Freiheit?

Rolf Cantzen: Ja, es gibt 13 Vorhäute Jesu, andere sprechen von 17, aber ich wollte nicht übertreiben. Sie wurden an unterschiedlichen Orten Europas verehrt. Ich habe ein wunderbares Buch gefunden aus dem Jahre 1907, das darüber informierte, an welchen Orten Vorhäute verehrt wurden und wie. Ich habe mich dann für eine Vorhaut entschieden – natürlich die echte – und bin ihr mit mehreren Geschichten durchs späte Mittelalter zur Plünderung Roms 1527 gefolgt. Die echte Vorhaut, da bin ich ganz sicher, würde jetzt noch in Hildesheim liegen, wäre sie nicht gestohlen und zweckentfremdet worden – in meinem Roman – durch die „Getreuen des wahren Katholizismus“. Die echte Vorhaut ist übrigens am Geruch zu erkennen, besonders an den Jahrestagen ihrer Abtrennung, also am 1. Januar und kurz danach. Sie riecht dann ein wenig nach Fisch und Weihrauch. Das ist nichts Besonderes. Die Reliquien der Heiligen aktivieren sich, so ist zu lesen, sie duften dann, bluten sogar und tun gelegentlich Wunder. Wenn das vergleichsweise banale Reliquien schaffen, warum dann nicht das Filetstückchen? Dass die Vorhaut mit Jesus post mortem in den Himmel auffuhr, um dort wieder am alter Stelle anzuwachsen, haben Theologen ernsthaft diskutiert – allein schon deshalb, weil Jesus ja Christ geworden ist, und christliche Männer darüber verfügen. Aber was soll ein erwachsener Jesus mit so einer Babyvorhaut? Im Roman werden die unterschiedlichen theologischen Auffassungen in dieser Sachen nebenbei kontrovers diskutiert.

MIZ: Kannst du zu dem Kult um die Vorhaut ein bisschen mehr sagen?

Rolf Cantzen: Es gab mehrere Kulte um die Vorhaut. Die schönste wohl in Antwerpen. Dort gab es eine Vorhaut-Kapelle, die von einem Vorhaut-Orden betrieben wurde. Vorhaut-Kapläne veranstalteten zum Jahrestag Prozessionen durch Antwerpen, die den Vorhaut-Kult als eine Art patriarchalen Fruchtbarkeitskult erkennbar machen. Ich habe das genau recherchiert und noch ein bisschen mehr dazu geschrieben. In einer italienischen Stadt, in Calcata, wurde noch bis in die 1960er Jahre die Vorhaut verehrt. Doch diese Vorhaut war die falsche, ein Fake, das deutsche Söldner dort hinterlassen haben. Im Roman wird klar, wie es dazu kam.

MIZ: Bekannt bist du eigentlich als Autor von Radio-Features zu Kultur­themen. Das ist von der Form her ja „Sachbuch zum Hören“. Was reizt dich als Autor an literarischen Texten?

Rolf Cantzen: In meinen Features und auch bei meinen „Sachbüchern“ muss ich mich, auch wenn es mir manchmal schwerfällt, an die Fakten halten. So ein Roman erlaubt es, über die Fakten hinauszugehen, um sie noch ein wenig kenntlicher zu machen oder sie ins Groteske zu steigern. Das habe ich bei meinem ersten Roman – Mordskarma – gemacht. Dort ging es um die Esoterik­szene. Für Magische Haut habe ich mir zugängliche Literatur gelesen. Eine kleine Literaturauswahl habe ich angehängt. Da aber Äußerungen über die Vorhaut Jesu im Jahre 1900 päpstlicherseits untersagt worden waren, bot sich hier eine gute Gelegenheit, diese Leerstelle ein wenig aufzufüllen.

MIZ: Es fällt auf, dass der Roman aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, und zwar durch wechselnde Ich-Erzähler. Welche Vorteile bringt diese Art des Erzählens mit sich?

Rolf Cantzen: Möglich wurde es so, über die Jahrhunderte hinweg die Geschichte zu verfolgen. Außerdem lasse ich meine Protagonisten in Ich-Form berichten. Das erlaubte mir eine größere Nähe zu meinen Figuren, wenn zum Beispiel meine Protagonistin, eine Nonne, wie die Heilige Theresa vom Engel mit dem Goldenen Pfeil träumt. Ein weiterer Vorteil dieser unterschiedlichen Perspektiven: Die Akteure können sich auch gegenseitig beschreiben. Da brauche ich keine übergeordnete, erklärende Position.

MIZ: Besonders intensiv erzählt erscheinen mir übrigens die Stellen, in denen die unsympathischen Charaktere zu Wort kommen...

Rolf Cantzen: Nun ja, gläubige Katho­liken können böse sein, hinterher beichten, dann erhalten sie die Absolution. Ich kann schreibend böse sein, mir selbst die Absolution erteilen und bin hinterher wieder ein netter Mensch.

MIZ: Du hast dich in Sachbüchern und Radiobeiträgen mit dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Einrichtungen beschäftigt. Spielt das Thema in Magische Haut eine Rolle?

Rolf Cantzen: Ja, Renatus, eine meiner Hauptfiguren, lebt in einem Internat, das dem sehr ähnelt, in dem ich einige Zeit verbringen musste. Ich habe heute noch die Gerüche in der Nase und die Geräusche im Ohr. Im Roman geht es allerdings nur nebenbei um sexualisierte Gewalt. Ich habe lange recherchiert zu sexualisierter Gewalt in Internaten und der kirchlichen „Aufklärung der Fälle“. Diese verlief in „meinem“ Internat nahezu reibungslos. Der Aufklärer – heute ist er Bischof in Hildesheim – gibt mir trotz mehrfacher Anfragen dazu kein Interview. Ich habe mit Opfern gesprochen, die das Erlebte nicht veröffentlicht sehen wollten. Ich habe das respektiert, konnte aber Einiges im Roman thematisieren und einen der bekannten Täter erging es im Roman übler als in der Realität.

MIZ: War die Bearbeitung des Themas in Romanform für dich dann sowas wie „therapeutisches Schreiben“?

Rolf Cantzen: Ein sehr guter Freund von mir noch aus alten Internatszeiten ist Psychotherapeut. Er sagt immer: „Dieses katholische Internatszeug, das werden wir nie los.“ Ich antworte immer: „Das wollen wir doch mal sehen.“ Natürlich hat er Recht, aber ich habe es immerhin mit diesem Roman versucht.

MIZ: Gibt es schon Rückmeldungen auf den Roman, beispielsweise von Betroffenen?

Rolf Cantzen: Ein Literaturwissen­schaftler gratulierte zur gelungenen Montagetechnik. Ein früherer Inter­natszögling meinte, ja so war es, aber warum hast du nicht mehr von den Pfaffen umgebracht? Andere hielten es für spannend, witzig und gut lesbar. Einen sehr gebildeten Menschen hat es gefreut, dass so wenig frei erfunden war. Und ein treuer Hörer meiner Radiosendungen schrieb mir: „Interessanter Versuch, aber vielleicht sollten Sie besser Radiofeatures schreiben.“

MIZ: Zu deinem Personal gehört auch eine erzreaktionäre katholische Gruppierung, deren Mitglieder die katholische Kirche vor der Bedeutungs­losigkeit retten wollen. Gibt es dafür ein historisches Vorbild?

Rolf Cantzen: Ich habe schon ein wenig an das Opus Dei gedacht.

MIZ: Wir wollen natürlich nicht verraten, wie die Geschichte ausgeht, aber gibt es am Ende sowas wie ein Happy-End?

Rolf Cantzen: Es bleibt ein wenig in der Schwebe, könnte sogar noch weitergehen. Aber immerhin emanzipiert sich die zentrale Figur von seinen Erzeugern und will die ihm zugewiesene Rolle nicht übernehmen. Die Kirchen-Rettungs-Bemühungen erleiden zunächst einen Rückschlag. Aber sie haben noch etwas in petto, beziehungsweise im Labor...

Rolf Cantzen: Magische Haut. Eine Reliquien­verschwörung. Roman. Aschaffenburg 2024, Alibri. 289 Seiten, Klappenbroschur, Euro 18.-, ISBN 978-3-86569-403-4