Paulus: Vom Verfolger zum Missionar
Paulus war ein religiöser Extremist. Bereits als gläubiger Jude verfolgt er die junge christliche Gemeinde aktiv und versteht sich als Eiferer für das jüdische Gesetz. Dabei genügt es ihm nicht, nur verbal gegen sie vorzugehen – er will sie aktiv unterdrücken. Als er sich dann zum Christentum bekehrt, ändert sich sein Verhalten kaum. Nun sind es Juden und andersgläubige Christen, die er heftig bekämpft. Besonders die Anhänger Jesu in Jerusalem, die zum engsten Jüngerkreis gehören, geraten in Konflikt mit Paulus. Die heftigen Auseinandersetzungen sind heute in der wissenschaftlichen Forschung gut dokumentiert, vielen Gläubigen jedoch weitgehend unbekannt. Die Urgemeinde wird von Gläubigen immer noch als konfliktfreie Zeit idealisiert, sie wissen in der Regel nichts von den Machtkämpfen, die um sie herrschten. Und Paulus war mittendrin.
Paulus’ Wissen über Jesus
Paulus war wahrscheinlich einer der besten Kenner des Lebens und Wirkens Jesu. Drei bis fünf Jahre nach der Kreuzigung besucht er Petrus, einen der Hauptjünger Jesu, in Jerusalem und verbringt zwei Wochen bei ihm. Er lernt zudem Jakobus, den leiblichen Bruder Jesu und späteren Leiter der Urgemeinde, kennen. Niemand dürfte besser über Jesus und sein Auftreten unterrichtet gewesen sein als Paulus. Dennoch erfahren wir von Paulus kaum etwas über das Leben Jesu, fast keine Worte, keine Geschichten. Der Grund: Die Lehren Jesu und die des Paulus unterscheiden sich grundlegend.
Unterschiede zwischen Jesus und Paulus
Jesus war gläubiger Jude und erwartete – wie bereits sein Lehrer Johannes der Täufer – das baldige Kommen des Reiches Gottes. Alle seine Gleichnisse drehen sich um dieses Reich, das den zentralen Inhalt seiner Verkündigung darstellt. Für Paulus hingegen spielt das Reich Gottes kaum eine Rolle. Stattdessen rückt er den auferstandenen Christus, seine Kunstfigur, ins Zentrum seiner Verkündigung.
Die theologische Forschung ist sich heute weitgehend einig, dass Jesus sich selbst nicht als Messias oder Heilsbringer betrachtete. Vielmehr lebte er eine innige Gottesverehrung und verstand sich als Teil der jüdischen Gemeinschaft. Paulus hingegen macht Jesus zur zentralen Heilsgestalt – zu einem Messias, dessen Tod am Kreuz die Menschheit von ihren Sünden erlöst hat. Und die spätere Kirche wird Jesus sogar zu einem Gott erklären.
Ein weiterer zentraler Unterschied liegt im Umgang mit dem jüdischen Gesetz. Während Jesus das Gesetz an einigen Stellen relativiert, an anderen jedoch verschärft, schafft Paulus es für seine Anhänger vollständig ab. Für die Urgemeinde in Jerusalem, die den Tempelkult, das Gesetz und die Beschneidung beachtete, war dies undenkbar. Paulus stellt sich damit nicht nur gegen Jesus, sondern auch gegen dessen engste und ursprüngliche Anhänger.
Der Extremist Paulus und seine Gegner
Paulus hatte wegen seiner Lehre viele Gegner, insbesondere unter den Jüngern Jesu und der Urgemeinde in Jerusalem. Jakobus, der Bruder Jesu und Leiter der Urgemeinde, sah sich sogar gezwungen, eigene Missionare in die Gemeinden des Paulus zu entsenden, um dessen Lehren zu korrigieren. Diese Missionare untergruben die Missionsbemühungen des Paulus, was dieser in seinen Briefen mehrfach beklagt. Dennoch war Paulus auf die Unterstützung der Jerusalemer Urgemeinde angewiesen, da er nach der Mission im „Osten“ nun auch den „Westen“ erreichen wollte.
Als Paulus nach Jerusalem kommt, bringt er gesammelte Gelder (die sog. Kollekte) für die Gemeinde in Jerusalem mit und hofft auf deren Zustimmung für seine Mission. Doch stattdessen wird er, möglicherweise sogar mit Billigung der Urgemeinde, verhaftet und angeklagt. Seinen Weg nach Rom muss er schließlich allein antreten. Für viele Mitglieder der Urgemeinde ist Paulus schlicht ein Ketzer. In Rom stirbt er einen unspektakulären Tod – ohne Ruhm und Anerkennung. Zunächst hatten die Urgemeinde, die Jünger und insbesondere Jakobus über ihn gesiegt.
Der Aufstieg der paulinischen Lehre
Doch das Blatt wendete sich bald. Die Urgemeinde musste wegen des Jüdischen Kriegs aus Jerusalem fliehen und verschwand später im Ostjordanland. Ihre Lehren gerieten nach und nach in Vergessenheit. Die Briefe des Paulus hingegen verbreiteten sich immer weiter und gewannen immer mehr an Einfluss. Ausgerechnet der Mann, der von vielen als Ketzer angesehen wurde, wurde durch diese Entwicklung quasi zum „Kirchenvater“.
Die Lehren des Paulus verdrängten nach und nach die Lehren Jesu. Sie wurden schließlich zur Grundlage der frühen Kirche. Die paulinische Theologie, die die ursprünglichen Lehren Jesu weitgehend ersetzte, wurde orthodox und prägt die christliche Tradition und das Abendland bis heute.
Die Theologie des Paulus
Es war Paulus, und nicht etwa Jesus, der dem Christentum seinen Stempel aufdrückte. Während die Lehre Jesu kaum die Grundlage dafür bot, öffnete Paulus den Weg zu einer neuen Religion – seiner eigenen. In ihrem Mittelpunkt steht eine primitive Opfertheologie: Der Tod Jesu am Kreuz, ursprünglich als sinnlos empfunden, wird von Paulus als ein Opfer für die Sünden der Menschen umgedeutet. Jesus, der gläubige Jude, hätte dies als Blasphemie empfunden. Doch der kann sich nicht mehr wehren.
Paulus sieht die Welt als einen Ort der Sünde und des Verderbens. Er führt den Gedanken ein, dass die Sünde Adams – einer mythologischen Figur, die Paulus jedoch als historische Person ansieht – sich auf alle Generationen vererbt hat. Diese pessimistische Sicht führt zu einer ausgeprägten Diesseitsflucht und einem asketischen Denken, das später das christliche Mittelalter dominiert.
Problematische Vermächtnisse
Paulus’ Lehre hat die Dogmenbildung der Kirche über Jahrhunderte geprägt. Besonders fatal war die Wirkung des 13. Kapitels des Römerbriefs. Darin fordert Paulus einen absoluten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, da – so seine Überzeugung – alle staatliche Gewalt von Gott eingesetzt sei. Widerstand gegen die Obrigkeit sei daher ein Verbrechen gegen Gott. Dieses Denken hat über Jahrhunderte hinweg dazu beigetragen, dass Diktatoren und Machthaber sich als von Gott legitimiert betrachteten und ihre Macht als unantastbar ansahen.
Besonders im Protestantismus fand diese paulinische Auffassung breite Unterstützung und trug maßgeblich zum Versagen der Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus bei. Die paulinische Theologie legitimierte nicht nur autoritäre Herrschaft, sondern auch soziale Ungleichheit. Paulus hatte ein völlig unkritisches antikes Verständnis von Sklaverei. Er betrachtet es als einen natürlichen Zustand und gebot Sklaven, in ihrer Knechtschaft zu verbleiben. Seine Worte wurden noch im 19. und 20. Jahrhundert genutzt, um Ausbeutung und Sklaverei zu rechtfertigen.
Auch die Sicht auf Sexualität und Geschlechterrollen wurde von Paulus stark geprägt. Er selbst war unverheiratet, betrachtete dies als Ideal und hatte ein reserviertes Verhältnis zur Sexualität. Homosexuelle stellt er auf eine Stufe mit Mördern und Dieben. Seine Theologie betont Gehorsam und Unterwerfung gegenüber göttlicher und weltlicher Autorität, was über Jahrhunderte das christliche Denken bestimmte. Der Mensch wird zum Sünder, der sein Leben lang Angst vor Hölle und Gericht haben muss.
Die gravierenden Mängel und der Aberglaube der paulinischen Theologie, insbesondere in ihrem Menschen-, Staats- und Gesellschaftsverständnis, haben über Jahrhunderte hinweg eine zersetzende und aufklärungsfeindliche Wirkung entfaltet.
Fazit
Das Christentum ist in Wahrheit Paulinismus. Es hat mit der Lehre des galiläischen Wanderpredigers Jesus kaum noch etwas zu tun. Paulus formte eine neue Religion, die sich stark von den ursprünglichen Lehren Jesu entfernte. Seine Theologie aber beeinflusst bis heute das Denken von über zwei Milliarden Christen, die glauben, sie würden den Lehren Jesu folgen – tatsächlich aber folgen sie Paulus.