Buchbesprechung | Veröffentlicht in MIZ 4/24 | Geschrieben von Helge Döhring

Rezension von Rolf Cantzen: Magische Haut

Rolf Cantzen: Magische Haut. Eine Reliquien­verschwörung. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2024. 287 Seiten, Klappenbroschur, Euro 18.-, ISBN 978-3-86569-403-4

Zehn Jahre vor der Jahrtausendwende will ein Kreis mit kirchlichem Geheim­dienstcharakter, bestehend aus den Getreuen des wahren Katholizismus, den Mitgliederschwund der Kirche stoppen. Ihm gehören hochrangige Funktionäre an, darunter ein Kardinal aus Köln, ein Bischof aus Osnabrück, ein Exorzist aus Polen und ein Priester. Besonders die Esoterikszene nimmt mächtig Anlauf, ihnen den Rang im Einfluß auf gläubige Seelen abzulaufen. Nur eine irrwitzig widersprüchliche Idee scheint helfen zu können, die mit Kirchendogmen zu kollidieren droht. Nachdem nämlich festgestellt wurde, dass Jesus ohne seine Vorhaut gen Himmel fuhr, nährte sich über Jahrhunderte der Verdacht, dass dieses heilige Präputium, in Öl eingelegt, 2000 Jahre überdauert haben könnte. Doch Obacht. Aus mitunter profanen Gründen, die durch Rückblenden in die Zeit der Plünderung Roms 1527 illustriert werden, entstanden diverse Fälschungen. Die meisten Exponate waren lediglich haltbar ge­machte Tintenfischringe, die auf der dringlichen Flucht aus Rom als lebens­rettende Verhandlungsmasse herhalten mußten. Zu Beginn der 1990er Jahre organisieren die Getreuen des wahren Katholizismus eine klandes­tine 
Suchaktion nach dem mutmaßlichen Versteck des Präputiums. Die dazu nötigen Einbrüche durch Mittels­männer vertuschen sie mit einem dichten Geflecht aus innerkirchlichen Hierarchien, Abhängigkeiten, Korrum­pierungen, Erpressungen und weiteren Gewalttätigkeiten. In dieser brisanten und für die Kirche existen­ziellen Lage heilige der Zweck die Mittel. Kritische Stimmen von Kirchenreformern, Femi­nistinnen und anderen innerkirchlich progressiven Kräften sollen strategisch eingebunden und somit unter Kontrolle gehalten werden. Erst wenn Lockungen durch Appelle an die Eitel­keiten, Ehrungen, gezielte Postenver­gabe, Vergünstigungen und sanfte Dro­hungen nicht helfen sollten, würden härtere Mittel zur Anwendung kommen und sogar vom Papst gedeckt sein. Bei der Suche nach dem heiligen Präputium tut sich ein kirchenkritischer Journalist besonders hervor und kommt der „Reliquienverschwörung“ in die Quere.

Aber läßt sich eine Vorhaut als Symbol für eine Reanimierung von Glaubenskulten überhaupt nutzbar machen, ohne dass sich die Kirche der Lächerlichkeit preisgibt?
Im tiefen Osten Deutschlands setzen die Getreuen des wahren Katholizismus eine deutlich minderbemittelte Klos­ter­bewohnerin unter Drogen und bringen sie schließlich nach Schottland, wo sie von „Ärzten“ und „Schwestern“ betreut wird. Des Nachts erwartet sie einen lustvollen „goldenen Pfeil“, der sie schwängert, wobei ihr die DNA der vermeintlich authentischen Vorhaut eingepflanzt wird, auf dass sie einen neuen Jesus austrage. Die Psychopharmaka werden während der Schwangerschaft durch weniger gesundheitsgefährdende Opiate ersetzt. Das Kind schließlich heißt Renatus, und da bei dem bewußt durchgeführten Kaiserschnitt nicht ohne Absicht etwas schief läuft, stirbt die Mutter.
Renatus, der Jesusklon, wird zunächst bei einer feministischen Kirchen
reformerin geparkt, die jahrelang als Pflegemutter herhalten darf. Deren Affäre, später Lebensgefährte, war der­jenige, der für die Getreuen des wahren Katholizismus mit Hilfe eines Schutz­befohlenen die Einbrüche organisierte. Im Alter von acht Jahren soll Renatus in einem Kloster verstärkt unter die Kontrolle der Getreuen des wahren Katholizismus gebracht werden. Denn „Hautrup“, gefühlt „Haudruff“, ist zugleich ein Internat. Es birgt routinierten sexuellen Mißbrauch, gepaart mit Unarten wie Wegschauen und Vertuschen. Renatus, der zunächst keine Anstalten macht, als Wunderkind zu erscheinen, soll jedoch genau als solches zugerichtet werden, um der Welt als neuer Jesus zu erscheinen und entsprechend präsentiert werden zu können. Zunächst entsteht das Gerücht, er könne Vögel wieder lebendig machen. Als einer der klösterlichen Kinderficker sich ihm beim Klavierunterricht nähert, passiert tatsächlich ein Wunder: Der Musiklehrer kommt mit schweren Unterleibsverbrennungen ins Krankenhaus und muß fortan seine „Karriere“ beenden. Doch erholt sich der geheime Kreis von diesem Rückschlag, da sich eine zunehmende Anzahl von Klosterbesuchern durch die Kräfte von Renatus geheilt sieht. So gibt er wöchentliche Termine, auf dass der Zustrom nicht an allen Tagen das Grundstück belagere.
Der kritische Journalist entgeht unterdessen nur mit äußerster Vorsicht einem Mordkomplott durch die Getreuen des wahren Katholizismus, der deutlich aufzeigt, welch perfide und unsittlichen Methoden die Kirchenvertreter für ihr Ziel einer „Rekatholisierung“ durch eine „neue katholische Erweckungsbewegung“ für die „Wiederbelebung volksreligiöser Momente“ einsetzen können. Geschickt versuchen sie weiterhin, Renatus in ihrem Sinne zu manipulieren und einen Kult um ihn herum aufzubauen. Ihr Plan wirkt umständlich, grotesk bis zum Wahnsinn und scheint zu gelingen. Vor über einem Dutzend Kardinälen und Bischöfen als Wunderkind vorgeführt, hilft nur noch eines...
So einfach der Plot ausfällt, der Romaninhalt hat es auch außerhalb dieser Mischung aus Roadmovie, Detektivgeschichte und Humoreske in sich. Er ist nicht nur dramaturgisch sauber ausgestaltet, sondern auch sehr politisch, indem er die Anatomie und komplexe Wirkungsweisen von Kirchenmacht detailreich beleuchtet. Dabei versteht er es, seine Kritik an den Grausamkeiten der Kirchen in einen wohltuend dämpfenden Sarkasmus zu hüllen und dazu die geschilderten Widerwärtigkeiten stilistisch durch edle Ausdrucksweisen in indirekter Rede mit Versüßungseffekten zu kontrastieren. Ein künstlerischer Balanceakt vom Feinsten, den der Autor auf knapp 300 Seiten wacker behauptet. Ausnahmen davon erscheinen als Zugeständnisse an Leser, die den Roman in den falschen Hals bekommen könnten. Doch seien Sie versichert: Die Kirchenkritik des Autors ist und bleibt schonungslos!
Eine weitere Erzähltechnik erzielt eine höhere Nahbarkeit des Romangeschehens, und zwar durch die Verwendung wechselnder subjektiver Sichtweisen. Dazu bedient sich der Autor mehrerer Ich-Erzähler aus unterschiedlichen Spektren des Kirchenwesens samt Umfeld. Diese Methode diverser persönlicher Fokussierung vermag eine größere Bandbreite an Leserinnen und Lesern näher ins Romangeschehen einzubinden, unabhängig davon, welche individuelle Perspektive sie selber einnehmen, vom Atheisten bis zum kritischen Kirchenfunktionär.

Helge Döhring