Prisma | Veröffentlicht in MIZ 2/25 | Geschrieben von Udo Endruscheit

Arbeit und Menschenbild

Arbeit ist für die meisten Menschen ein ganz zentraler Bestandteil ihres Lebens. So ist es nicht verwunderlich, dass auch von huma­nistischer Seite einiges dazu geschrieben wurde. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre beispielsweise stellte seine Idee eines „Humanismus des Bedürfnisses“ dem „Humanismus der Arbeit“ gegenüber. Udo Endruscheit sieht es kritisch, dass über Arbeit zunehmend allein aus einer alles ökonomisierenden Perspektive gesprochen wird. (MIZ-Redaktion)

Wenn Arbeit zur Schuld wird

Man muss sich derzeit nur ein paar Tage lang durch politische Reden, Talkshows und Meinungsbeiträge kämpfen, um das neue Leitmotiv deutscher Krisenrhetorik zu erkennen: Die Bevölkerung – oder jedenfalls große Teile davon – ist zu bequem geworden. Schon der Altkanzler forderte „mehr Bock auf Arbeit“. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wird deutlicher und warnt vor dem „Mentalitätsproblem der Deutschen“. Und Bundeskanzler Friedrich Merz, der sich nicht erinnern kann, „in den letzten Jahren von einem SPD-Sozialpolitiker ein klares Bekenntnis zur Erwerbsarbeit gehört zu haben“, legt nach: Zu viele Menschen hätten sich offenbar „vom Arbeitsleben verabschiedet“. Kurz: Der Durchschnittsdeutsche leistet zu wenig und trägt damit die Verantwortung für wirtschaftlichen Niedergang.

Was hier als Debatte über den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft inszeniert wird, ist in Wirklichkeit ein moralisch aufgeladenes sozialpolitisches Ressentiment, das ganze Gesell­schaftsgruppen stigmatisiert: Rentner, Erwerbslose, Geringverdiener, Kranke, Behinderte. Unterstützt wird dieses Framing nicht nur von der politischen Rechten, sondern zunehmend auch von liberal-konservativen Ökonomen wie Henrik Müller, der im Spiegel jüngst warnte, die arbeitsteilige Gesellschaft entwickle sich „zur Do-it-yourself-Veranstaltung“, weil zu viele Menschen nicht produktiv genug seien – oder einfach nur nicht mehr wollten.
Wer genauer hinschaut, sieht: Hier geht es um ein tiefgreifendes gesellschaftliches Deutungsmuster. Eines, das Arbeit nicht mehr als Teilhabe, Würde und Selbstverwirklichung versteht, sondern als bloße Bringschuld. Und wer sie nicht mehr leisten kann – oder nicht mehr will –, wird moralisch abgewertet. Dass gleichzeitig Hunderttausende ME/CFS-Erkrankte zumeist jüngeren Alters ohne Perspektive aus dem Erwerbsleben gedrängt werden, dass Pflege- und Sorgearbeit in weiten Teilen nach wie vor unsichtbar bleibt, dass Prekarität, Burnout und Entgrenzung von Arbeit längst strukturelle Probleme sind – all das bleibt in dieser Debatte weitgehend unausgesprochen. Und die Konsequenzen hieraus für den Zusammenhalt einer Gesellschaft und für die republikanisch-demokratische Idee werden offenbar völlig ausgeblendet.
Dieser Text ist eine Replik auf eben diese Verengung. Er fragt: Was ist aus dem gesellschaftlichen Konsens geworden, der Arbeit einst mit Respekt und Solidarität verband – und nicht mit Geringschätzung, Kontrolle und Verwertungslogik?

Eine Verschiebung der Selbstverständlichkeiten

Noch vor wenigen Jahrzehnten war Arbeit mehr als nur Erwerbstätigkeit. Sie galt als identitätsstiftend, als Brücke zwischen individueller Lebensführung und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Inzwischen hat sich die Perspektive verändert. Arbeit ist zur ökonomischen Kenngröße geworden, deren Wert sich immer mehr an Verwertung, Kosten und Einsparpotenzial bemisst. Wo einst Respekt war, ist heute Rechtfertigungsdruck. Wer heute nicht mehr den Anforderungen entspricht, fällt zwar noch in ein soziales Netz, gilt aber inzwischen als jemand, der so etwas wie gesamtgesellschaftlichen Respekt kaum noch verdient.

Was lange als Randdenken galt, sickert längst in den politischen und medialen Mainstream ein: die Vorstellung, dass der Wert eines Menschen mit seiner ökonomischen Verwertbarkeit steht und fällt. Wenn über Erwerbslose, Frührentner, psychisch Erkrankte oder Langzeitkranke nicht mehr in Kategorien der Hilfe, sondern der „Belastung“ gesprochen wird, ist dies Ausdruck einer fundamentalen Verschiebung. Es sind Narrative, die sich mit erschreckender Nahtlosigkeit in die sozialdarwinistischen Deutungs­muster der Neuen Rechten fügen. Denn wer Schwäche als selbstverschuldet, Hilfsbedürftigkeit als Makel und Krankheit und Behinderung als „Kostenfaktor“ begreift, nimmt den Abschied von einer demokratisch-solidarischen Ordnung billigend in Kauf.
In der frühen Bundesrepublik war das gesellschaftliche Ansehen der Arbeit keineswegs an berufliche Pres­tigehierarchien gebunden. Ganz gleich, ob jemand im Blaumann oder im Anzug zur Arbeit ging – die individuelle Lebensleistung wurde im Allgemeinen geachtet
Dieser gesellschaftliche Konsens war stark. Er stiftete Zusammenhalt – auch innerhalb der Arbeitnehmerschaft, die sich nicht untereinander nach oben und unten sortierte, sondern weitgehend solidarisch dachte. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. In der zunehmend fragmentierten Arbeitswelt, in der prekäre Jobs und elitäre Wissensberufe sich unversöhnlich gegenüberzustehen scheinen, ist auch der Respekt vor der einfachen, körperlich anspruchsvollen oder „handfesten“ Arbeit vielfach verloren gegangen.
Wo einst eine gemeinsame Erfah­rung von Arbeit verband, ist heute oft Distanz, Geringschätzung oder demonstratives Abgrenzungsbedürfnis an deren Stelle getreten. Und mit dieser Entsolidarisierung wächst auch die Schwäche der Arbeitnehmerschaft, die sich kaum noch als kollektives Gegenüber zur dominanten Markt­logik versteht – sondern in ihre Ein­zelbiografien und Statusängste zerfällt.

Wie aus sozialem Fortschrittsglauben politischer Überdruss wurde

Wer wie der Autor in den frühen 1970er Jahren politisch und gesellschaftlich sozialisiert wurde, wuchs in einem Klima auf, das nicht frei war von Problemen, aber doch geprägt war von einer Grundüberzeugung: Die Dinge lassen sich zum Besseren wenden. Das war kein naiver Fortschrittsglaube, sondern ein pragmatischer Optimismus. Die soziale Marktwirtschaft – in ihrer noch nicht zur Leerformel verkommenen Fassung – erschien als ein realistisches Modell für eine Gesellschaft, in der wirtschaftliche Dynamik und soziale Verantwortung kein Gegensatz waren.

Auch die konservativen und liberalen Kräfte jener Zeit, insbesondere CDU und FDP, empfand man kaum als Gegner einer gerechten Gesellschaft, sondern als Mitspieler in einem pluralistischen Ringen um die besten Wege – mit anderen Akzenten, aber innerhalb eines geteilten Verständnisses von Verantwortung und Gemeinwohl. Es war möglich, ein linksliberales Weltbild zu vertreten, ohne dabei in dogmatische Grabenkämpfe oder identitätspolitische Zerfaserung abzugleiten.
Im Rückblick erscheint diese Zeit wie ein historisches Fenster, in dem man ernsthaft glauben durfte, soziale Gerechtigkeit sei eine vorrangige politische Aufgabe – keine rhetorische Tapete. Wer damals jung war, durfte annehmen, dass sich diese Gesellschaft in Richtung größerer Teilhabe, größerer Bildungsgerechtigkeit und größerer Solidarität entwickeln würde. Dass sich ein demokratischer Wohlfahrtsstaat und eine innovative, soziale Wirtschaftspolitik nicht ausschließen, sondern gegenseitig stärken könnten.
Doch dieser Glaube wurde schleichend ausgehöhlt. Zunächst unmerklich, dann mit zunehmender Dreistigkeit. Die Abkehr von einer keynesianisch motivierten Wirtschaftspolitik begann nach der ersten bundesrepublikanischen Rezession Mitte der 1970er Jahre, die durch die damalige Ölpreiskrise mitverursacht war. Der wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel hin zum Vertrauen in die „Kraft der Märkte“ begann. Die Entfesselung der Märkte, der Primat der Kapitalinteressen, die Privatisierungswellen und die systematische Schwächung der öffentlichen Daseinsvorsorge – all das ging nach und nach unvermeidlich einher mit einem sich verändernden Menschenbild: Der Bürger wurde zum Kunden, der Sozialstaat zum Kostenfaktor, die Arbeit zum bloßen Mittel der Selbsterhaltung. Mit der Agenda 2010 wurde dieser Paradigmenwechsel zu einer Verwertungslogik menschlicher Arbeitskraft politisch festgeschrieben – und ausgerechnet von einer SPD betrieben, die sich ihrer eigenen Geschichte zu entledigen schien.
Für viele war dies der Punkt des Bruchs. Nicht aus Ideologie, sondern aus Enttäuschung. Der Optimismus verwandelte sich in Skepsis – gegenüber all jenen, die das Versprechen auf Teilhabe und Gerechtigkeit durch kalte Effizienzlogik ersetzt haben. Heute, ein halbes Jahrhundert nach meiner eigenen politischen Sozialisation, muss ich feststellen: Die Geringschätzung der Arbeit ist nicht nur ein kulturelles, sondern ein strukturelles Problem geworden – tief verwurzelt in einem System, das seine gesellschaftlichen Verpflichtungen dem Primat der Verwertung geopfert hat.
Wer einwendet, diese Kritik an der gesellschaftlichen Entwertung der Arbeit blende die realen ökonomischen Herausforderungen und Zwänge der Gegenwart aus, der übersieht, dass auch unsere heutige Wirtschaftspolitik nicht naturgegeben ist – sondern das Ergebnis politischer Setzungen und Prioritäten. Das kürzlich erschienene 50. Memorandum der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Mai 2025)1 macht eindrucksvoll deutlich, wie eine sozial gerechte, beschäftigungsfördernde und ökologisch verantwortbare Wirtschaftspolitik auch heute möglich wäre – jenseits der herrschenden Verwertungslogik. Die Forderung nach einer solidarischen Gesellschaftsordnung ist also keineswegs bloße Sozialromantik. Sie ist vielmehr Ausdruck eines politischen Realismus, der ökonomische Vernunft und soziale Verantwortung zusammen denkt – anstatt sie gegeneinander auszuspielen.

Die Tonlage ändert sich

In den Jahrzehnten, in denen sich dieser Wandel vollzog, wurde auch der politische Ton gegenüber der Arbeit an sich kälter. Die Überhöhung von „Unternehmertum“, das Auftauchen des Begriffs des „Shareholder Value“ selbst in den öffentlichen Verwaltungen, die Stilisierung von Eigenverantwortung zur moralischen Maxime und das ständige Misstrauen gegenüber dem, was nicht unmittelbar monetär be- und verwertbar war, schufen eine Atmosphäre, in der es fast anstößig erschien, sich auf den Staat zu berufen – selbst als Steuerzahler, als Pflegebedürftiger, als Hilfesuchender.

Selbst in ihrer konservativsten Aus­prägung hatte die alte Bonner Republik ein Gespür für das gesellschaftliche Gleichgewicht. Franz-Josef Strauß etwa – gewiss kein Sozialromantiker – verstand als Finanzminister zusam­men mit dem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Karl Schiller, dass wirtschaftliche Stabilität ein ge­samt­gesellschaftliches Gut ist. Das Sta­bilitätsgesetz von 1967 war Aus­druck eines gemeinsamen Willens, makro­ökonomische Verantwortung zu übernehmen – nicht für „die Wirtschaft“ im abstrakten Sinne, sondern für Arbeitsplätze, Löhne, Kaufkraft und soziale Kohärenz.
Heute wirkt dieser Geist wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. Stattdessen reden wir über „Fach­kräftemangel“, über das „Fehl­verhalten“ von Bürgergeld­beziehern, über „Über­alterung“ und „Lasten der Sozial­kassen“ – als ob Gesell­schaft eine Bilanz sei, kein lebendiger Organismus.

Anmerkung

1 https://www.alternative-wirtschaftspolitik.de/de/article/10656897.memorandum-2025.html