Wie ist das Urteil im Rahmen aktueller Entwicklungen zu verstehen? Was könnte es bedeuten, dass Karlsruhe den Fall zurück an das Bundesarbeitsgericht verwiesen hat? Und welche anderen rechtlichen Mittel hätten bei einer Kündigung wegen Kirchenaustritt oder Homosexualität zur Verfügung gestanden?
Fort- und Rückschritte
Wer kein Kirchenmitglied ist oder einer anderen Religion angehört, wird bei Deutschlands zweitgrößtem Arbeitgeber, also den kirchlichen Einrichtungen, systematisch ausgegrenzt oder benachteiligt. Wer aus der Kirche austritt, wird fristlos entlassen. In katholischen Einrichtungen kommen Homosexualität und Wiederheirat als Kündigungsgründe hinzu. Und zwar nicht nur bei Priestern, Pastoren oder Kirchenfunktionären, sondern auch bei Tätigkeiten ohne jede Ver- kündigungsnähe, also bei Hausmeistern, Küchenhilfen, Pflegern, Ärztinnen, Erziehern, IT-Fachleuten etc.
Das in düsteren Adenauer-Zeiten eingeführte Betriebsverfassungsgesetz gilt in kirchlichen Einrichtungen nicht, weshalb dort nicht gestreikt werden darf. Diese gelten auch nicht als sogenannte Tendenzbetriebe und dürfen deshalb spezielle Anforderungen an weit mehr Beschäftigte als nur an Tendenzträger stellen. Die Diskriminierungen wurden von Gerichten zwar vereinzelt verurteilt, aber seit einem kirchenfreundlichen Karlsruher Urteil im Jahre 1985 war damit Schluss. Seither tat sich wenig und sogar das EU-Antidiskriminierungsgesetz wurde 2006 im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) kirchenfreundlicher als nötig umgesetzt.
Spätestens seit der Kampagne Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz (GerDiA) wird jedoch mehr und lauter skandalisiert, dass Beschäftigte kirchlicher Einrichtungen auf mehrere Grundrechte verzichten müssen. Meine parallel gestartete Studie Loyal dienen belegt, welchen systematischen Gebrauch die evangelischen und katholischen Arbeitgeber von ihren Sonderrechten machen und wie massiv diese Bewerbungen, Arbeitsalltag und Privatleben der Betroffenen prägen. Und wie umstritten die kirchenfreundliche Rechtstradition ohne jede verfassungsrechtliche Grundlage unter Rechtsexperten und in einigen politischen Kreisen inzwischen ist.
Außerdem argumentieren Gerichte in den letzten Jahren verstärkt mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und einige Betroffene klagen, um dessen Verwässerung gegenüber der EU-Vorlage abzuschaffen.
Optimistisch stimmte auch das Urteil vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aus dem Jahr 2010, das im Kündigungsfall des Kirchenmusikers Bernhard Schüth eine Menschenrechtsverletzung bestätigte, weil sein Grundrecht auf Privat- und Familienleben nicht berücksichtigt worden war. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) griff das auf und bewertete das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienleben des Düsseldorfer Chefarztes gegenüber der korporativen Religionsfreiheit des Arbeitgebers so, dass er wieder in der Klinik arbeiten durfte. Genau dieses BAG-Urteil von 2011 wurde nun vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben.
Bis vor Kurzem konnte man also durchaus den Eindruck gewinnen, es tue sich etwas und das letzte diesbezügliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 1985 sei wirklich überholt. Umso heftiger fallen die Reaktionen auf die Fortsetzung der kirchenfreundlichen Rechtstradition durch das neue Urteil aus.
Rechtstradition fortgesetzt
„Vertraglich vereinbarte Loyalitätsobliegenheiten in kirchlichen Arbeitsverhältnissen unterliegen weiterhin nur eingeschränkter Überprüfung durch die staatlichen Gerichte“ betitelt das Bundesverfassungsgericht seine Pressemitteilung vom 20. November zum Urteil. Klarer kann ein weltliches Gericht seine Bankrotterklärung in Sachen Trennung von Kirche und Staat eigentlich nicht ausdrücken.
Die Humanistische Union kritisiert den Beschluss als „rückständig“, u.a. da er weiterhin ein weitreichendes Selbstbestimmungsrecht der Kirchen behauptet. Der für seine Kirchennähe bekannte 2. Senat des BVerG interpretiert nämlich erneut Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV so, als ob sich daraus eine Art Supergrundrecht ableiten ließe, das über allen anderen Grundrechten stehe. Diese Ansicht gehört auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand, widerspricht sie doch der verfassungsmäßig gebotenen Abwägung von Grundrechten und dem Inhalt von Art. 140 selbst. Darin heißt es nämlich lediglich: „Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Ein ganz normales Arbeitsverhältnis ist aber keine innerreligiöse Angelegenheit, wie etwa Tätigkeiten mit sogenannter Verkündigungsnähe von Pfarrern und Pastoren.
Die Karlsruher Richter setzen also eine Rechtstradition fort, bei der Behauptungen ohne zwingende Grundlage aufgestellt werden und von Gesetz zu Gesetz und von Urteil zu Urteil übernommen werden.
Sie argumentieren sogar anhand von zwei Prüfungsstufen:
„Die staatlichen Gerichte haben auf einer ersten Prüfungsstufe zunächst (...) auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der verfassten Kirche zu überprüfen, (...) ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt. (...) Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, richtet sich alleine nach den von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben.
Erst auf einer zweiten Prüfungsstufe sind die Grundrechte der betroffenen Arbeitnehmer und deren durch das allgemeine Arbeitsrecht geschützte Interessen mit den kirchlichen Belangen und der korporativen Religionsfreiheit im Rahmen einer Gesamtabwägung zum Ausgleich zu bringen.“
Selbst wenn man den Kirchen ein Selbstbestimmungsrecht über alle in ihren Einrichtungen Beschäftigten zugestehen möchte (nicht muss!), so findet man in deren eigener katholischer Grundordnung bzw. EKD-Richtlinie eine Abstufung der einzuhaltenden Loyalitätsanforderungen – und zwar abhängig der jeweiligen Verkündigungsnähe.
So stützte sich das Arbeitsgericht Aachen auf die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes“, der katholischen Kirche und sprach einem wegen Konfessionslosigkeit abgelehnten Pfleger eine Entschädigung zu.
Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht meint, „Kirchen dürfen selbst bestimmen“, hätte geschaut werden müssen, was denn bestimmt wurde – und man hätte die Kündigung des Arztes nicht akzeptieren dürfen.
Zweierlei Maß
Das Bundesarbeitsgericht kritisierte im Chefarzt-Urteil außerdem den unterschiedlichen Umgang mit Loyalitätsverstößen in der betreffenden Klinik. Man könne nicht Einzelne herausgreifen, sondern müsse mit einem erkennbar gleichen Maßstab hantieren. Ein wichtiges Kriterium, das seither insbesondere gegen Kündigungen Homosexueller Anwendung findet, da diese häufig „herausgegriffen“ werden.
Auch hierzu – man muss sagen: entblödet sich das BverG nicht, der Kirchenlehre zu folgen:
„Auch die Annahme des Bundesarbeitsgerichts, die Beschwerdeführerin habe bereits seit längerem von dem ehelosen Zusammenleben des Klägers mit seiner späteren zweiten Ehefrau gewusst, was erkennen lasse, dass sie ihre Glaubwürdigkeit nicht durch jeden Loyalitätsverstoß eines Mitarbeiters als erschüttert ansehe, setzt sich über den Maßstab der verfassten Kirche hinweg. Die schärfere Sanktionierung des Lebens in kirchlich ungültiger Ehe beruht auf dem besonderen sakramentalen Charakter der Ehe und dem für das katholische Glaubensverständnis zentralen Dogma der Unauflöslichkeit des gültig geschlossenen Ehebandes zu Lebzeiten.“
Im Urteil heißt es hierzu weiter:
„Das ehelose Zusammenleben mit einem anderen Partner trotz fortbestehender Ehe hat nach dem Maßstab der verfassten römisch-katholischen Kirche demgegenüber eine andere Qualität. Zwar entspricht die nichteheliche Lebensgemeinschaft neben einer weiterbestehenden Ehe ebenfalls nicht dem Ethos der römisch-katholischen Kirche. Die katholischen Diözesanbischöfe haben jedoch in Ausübung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und in Ausfüllung der durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 den Kirchen überlassenen Spielräume entschieden, diesem Glaubenssatz mit Wirkung für das weltliche Arbeitsverhältnis nicht dasselbe Gewicht zuzumessen wie dem Verbot der erneuten Heirat zu Lebzeiten des ursprünglichen Ehepartners. Die Beschwerdeführerin betont in diesem Zusammenhang, dass erst durch die Wiederheirat der Loyalitätsverstoß eine neue Qualität erreiche, indem der Bruch mit der nach kirchlichem Recht weiterhin gültigen Ehe offiziell dokumentiert und perpetuiert werde (...). Die Wiederverheiratung schaffe zugleich einen kaum mehr änderbaren Dauerzustand, während der Ehebruch – obschon nach der Lehre der Kirche eindeutig missbilligt – durch ein zukünftiges Unterlassen korrigierbar sei und daher noch die Möglichkeit bestehe, dass die eheliche Lebensgemeinschaft wieder hergestellt werde.“
Selbst dass die Klinik in der Vergangenheit mehrfach auch Chefärzte in zweiter Ehe weiterbeschäftigt habe, sei durch das Bundesarbeitsgericht nicht zu bewerten, finden die Karlsruher Richter.
Gleichbehandlungsgesetz
Hätte die Diskriminierung aufgrund von Homosexualität oder Konfessionslosigkeit stattgefunden, hätte man sich auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) berufen können. Aber Familienstand ist darin kein Diskriminierungsmerkmal. Klagen in sogenannten AGG-Fällen sind also wei- terhin wichtig, um zu klären, ob die Kirchenklausel (§9 AGG) der EU-Vorgabe entspricht. Brüssel geht in seiner Richtlinie nämlich von „beruflichen Anforderungen“ aus, die je nach Verkündigungsnähe gestellt werden dürfen. Aus der deutschen Umsetzung können Gerichte hingegen eine pauschale Diskriminierung aller Beschäftigten ableiten, also vom Hausmeister über die Pflegekraft bis zum Arzt.
Das Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung (BUG) sieht den Fall des Chefarztes im Kontext europäischer Rechtsnormen: „Die Bestätigung, dass ein katholischer Arbeitgeber die Lo- yalitätsobliegenheiten alleine definie- ren darf, ist unangemessen und igno- riert im vorliegenden Fall das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbriefte Recht auf Familie. Es bleibt abzuwarten, ob die weitreichende Kirchenautonomie in der Regelung von Beschäftigungsverhältnissen aufrechterhalten bleiben kann, wenn das Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion (will heißen auch der Konfessionslosigkeit) oder aufgrund der sexuellen Orientierung bei Gerichten zu verhandeln ist. Die dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zugrundeliegende europäische Richtlinie sieht einen rechtlichen Diskriminierungsschutz vor, den es hier abzuwägen gilt“, so die BUG-Geschäftsführerin Vera Egenberger.
Wie geht es weiter?
Das BVerG verwies den Fall zurück an das BAG, „da die bei der Anwendung des § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz vorgenommene Interessenabwägung dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht der Beschwerdeführerin nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang Rechnung trägt“.
Zum Glück ist es den unabhängigen BAG-Richtern jedoch unbenommen, bei ihrer erneuten Abwägung bzw. Argumentation wieder zu einer Aufhebung der Kündigung zu kommen. Falls nicht, könnte der Arzt dem Weg des Kirchenmusikers zum EGMR folgen, wo man den Schutz des Privat- und Familienlebens hoch zu bewerten scheint.
Bei ver.di verfolgt man das Geschehen genau, ist es doch der selbe 2. Senat des BverfG, der demnächst zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen urteilen wird. „Ver.di schuldet den kirchlichen Arbeitgebern keine Loyalität“, das Urteil sei rückwärtsgewandt und vertiefe bestehende Zweifel an der Glaubwürdigkeit des kirchlichen Arbeitsrechtes, so ver.di: „Katholische Arbeitgeber mögen das Urteil noch so sehr begrüßen, die arbeitsrechtliche Sanktionierung von geschiedenen Wiederverheirateten und auch von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften ist aus ver.di-Sicht schlicht inakzeptabel und findet zu recht kaum noch Verständnis in der bundesdeutschen Gesellschaft“, fügt Berno Schuckart-Witsch, der ver.di-Zuständige für Kirchen, Diakonie und Caritas hinzu.
Selbst in Rom wird seit einiger Zeit über Veränderungen im Umgang mit Wiederverheirateten nachgedacht. Die Deutsche Bischofskonferenz ließ etwas wie „Erbarmen“ nach individueller, eingehender „Gewissensprüfung“ verlautbaren. Das klingt nicht gerade nach juristisch verwertbaren Argumenten. Aber das scheint ja sowieso nicht alle weltlichen Gerichte Deutschlands gleichermaßen zu interessierten.