Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/17 | Geschrieben von Karsten Krampitz

#Luderei /// Die große Verdrängung

Über den Umgang der evangelischen Kirche 
mit ihrer DDR-Geschichte

Ein Blick auf den Veranstaltungskalender der EKD und die darin enthaltene Fokussierung auf ganz bestimmte Ereignisse offenbart eine geistige Erinnerungslandschaft mit für die evangelische Kirche typischen Fund- und Leerstellen. So wird regelmäßig der Confessio Augustana gedacht, der führenden Reformatoren und freilich auch der Barmer Erklärung, der Bekennenden Kirche und Dietrich Bonhoeffers. Daneben aber finden sich etliche historische Vorgänge und Persönlichkeiten, die keine, erheblich weniger oder auch die falsche Beachtung erfahren. Eine solche Tendenz ist beispielsweise beim Thema „Kirche in der DDR“ zu beobachten.

Auch wenn man im theologischen Sinne nicht von einer Tradition sprechen kann, so ist die „Kirche im Sozialismus“ zweifellos ein verschmähtes Erbe der EKD. Erwähnt sei nur das langjährige – und erfolgreiche! – Friedensengagement des BEK, des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Als sich der deutsche Überfall auf Polen, der Beginn des Zweiten Weltkriegs, am 1. September 1979 zum vierzigsten Mal jährte, verabschiedeten die EKD und der BEK eine gemeinsame Erklärung. Das international viel beachtete „Wort zum Frieden“ ging auf eine Initiative des DDR-Kirchenbundes zurück. In diesem ersten gesamtdeutschen Kirchenpapier seit zehn Jahren hieß es: „Lange bevor ein Krieg ausbricht, hat er in den Gedanken und Herzen der Menschen schon begonnen. Misstrauen und Angst und das Gefühl der Bedrohung löschen alle anderen Hoffnungen aus.“ – Heute fehlt eine mahnende Stimme, wie es seinerzeit der BEK war. Die Kirche beansprucht für sich allzu oft eine „Wächterfunktion“, schaut aber in zentralen Fragen weg.

Die Erinnerung lohnt: Die DDR-Kirchen standen der unabhängigen Friedensbewegung inhaltlich erheblich näher als die EKD, die bis zur Abschaffung der Wehrpflicht bzw. deren Aussetzung im Jahr 2011 den Dienst des Christen mit der Waffe theologisch und ethisch auf eine Stufe setzte mit der Wehrdienstverweigerung. Das Engagement für Frieden und Ab-
rüstung war ein zentrales Wesens­merkmal der DDR-Kirchen. In der Kan-
zelabkündigung nach der Nieder­schlagung des Prager Frühlings im August 1968 beklagte die Berlin-Brandenburgische Landeskirche, „dass noch immer militärische Mittel eingesetzt werden, um politische Fragen zu lösen“. Ein solcher Protest dürfte einmalig sein in der Geschichte des Protestantismus in Deutschland. Auch im Verhältnis zum Judentum setzten die DDR-Kirchen eigene Akzente. Im Jahr 1975 konterkarierten sie die offizielle Außenpolitik des SED-Staates, indem sie gegen die UN-Resolution protestierten, welche Zionismus und Rassismus gleichsetzte. Kirchenbundchef Albrecht 
Schönherr erklärte damals dem Ver-
treter der DDR-Regierung, Staatssek­retär für Kirchenfragen Hans Seige­wasser, dass das Volk Israel von Christen nicht wie jedes andere Volk angesehen werden könne. Man müsse sehen, was den Juden durch Christen und besonders durch Deutsche angetan worden ist.

Kirche und Gesellschaft in der DDR

Im Rückblick stellen die Kirchen in der DDR oder wie es Karl Barth formulierte, in „Gottes geliebter Ostzone“, ein eigenartiges Phänomen dar: Obwohl der Schrumpfungsprozess anhielt, nahm 
das Gewicht der Kirchen in der Gesell-
schaft mit jedem Jahr zu. Doch als sich im Jahr 2009 die Gründung des von der EKD eigenständigen Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zum vierzigsten Mal jährte, blieben die Feierlichkeiten und Symposien aus. Dabei hätte sich den Historikern hier eine letzte Gelegenheit geboten, öffentlichkeitswirksam mit den damals noch lebenden Akteuren ins Gespräch zu kommen. Ohne offizielle Veranstaltung blieb auch der 40. Jahrestag der „Freiheitsrede“ von Heino Falcke, gehalten im Jahr 1972 auf der 4. Tagung der ersten Synode des DDR-Kirchenbundes. Heino Falckes damaliges Hauptreferat „Jesus befreit – darum Kirche für andere“ gilt als das historische Ereignis des Protestantismus in der DDR! Der Rektor des Gnadauer Predigerseminars und spätere Propst von Erfurt forderte die Christen in seinem Land auf, aus ihrer Passivität oder ihrer Opposition herauszutreten und in kritischer Solidarität an einer gerechteren Gesellschaft mitzuwirken. Ein so bis dato nicht dagewesener Vorfall: Erstmals fiel vor einem größeren Publikum das Wort vom „verbesserlichen Sozialismus“! Für die Friedens- und Umweltgruppen, die einige Jahre später in den Räumen der Kirche Schutz fanden, hatte die Formel vom „verbesserlichen Sozialismus“ fast schon eine programmatische Bedeutung. Dieses Wort ermöglichte vielen DDR-Bürgern ein erstes kritisches Denken, Reden und schließlich auch Handeln, ohne dass der oder die Einzelne von der staatlichen Seite sofort als Gesetzesbrecher denunziert werden konnte.

Die politischen Strukturen des sich selbst so nennenden Arbeiter- und Bauernstaates waren nie dafür gedacht, dass in ihnen eines Tages Menschen zusammenkommen, um miteinander kritische Fragen zu diskutieren. Diese Aufgabe fiel in den 1980er-Jahren der evangelischen Kirche zu; daran ist sie gewachsen, aber auch gescheitert. Während sich die katholische Kirche in der DDR weiterhin politisch abstinent verhielt, boten zahlreiche evangelische Kirchengemeinden den Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen einen Raum zur Organisation, zur Diskussion und zur Selbstfindung. Die evangelische Kirche selbst fungierte aber immer nur als Dolmetscher im Konflikt mit dem SED-Staat. Dass ihre Vermittlung am Ende innerhalb der DDR-Strukturen vergeblich war, erklärt sich Horst Dohle, ehemaliger Büroleiter des Staatssekretärs für Kirchenfragen, primär damit, „dass man es mit einem Staat zu tun hatte, der Probleme, die in der Kirche ausgesprochen wurden, als Probleme der Kirche gesehen und behandelt hat“.

Warum nun derselbe Staat relativ hohe Leistungen an die Kirche zahlte, pro Jahr durchschnittlich 15,4 Mil-
lionen DDR-Mark, mit einer Schwan­kungs­breite von 12,0 Millionen (1956) bis 20,2 Millionen Mark (1981), kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Insgesamt wurden in vierzig Jahren SED-Diktatur immerhin 629.425.293 DDR-Mark an die Kirchen überwiesen. Der größte Teil davon, 93 Prozent, an die evangelischen Kirchen. Albrecht Schönherr, Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer usw., sie alle standen damit de facto auf der Gehaltsliste des SED-Staats – erstaunlich: Nach dem damals propagierten marxistisch-leninistischen Verständnis galt Religion als Ausdruck gesellschaftlicher Ent­fremdung. Und das Vorhandensein von Religion und Kirche in der DDR war immer auch eine Aussage hinsichtlich des Verwirklichungsgrades des So­zialismus. – Vielleicht war die DDR in ihrer Geschichte einfach auch etwas komplizierter und widersprüchlicher als es von den Geschichtspolitikern wie Hubertus Knabe u.a. heute propagiert wird? Die DDR war ein Unrechtsstaat, aber nicht nur.

Gratwanderung

Die evangelische Kirche wollte, wie es 
1976 Oberkirchenrat Manfred Stolpe wortmächtig formulierte, weder „Trans-
missionsriemen der Partei noch ein 
Trojanisches Pferd der Konterrevolu-
tion“ sein. In den Neunzigerjahren sah sich brandenburgische Minister­präsident ob seiner Vergangenheit schwerster Vorwürfe ausgesetzt: Als Kirchenjurist habe er in den verschiedenen kirchenleitenden Ämtern seinen Verhandlungsauftrag mit dem Staat ohne Rücksprache mit anderen Leitungsorganen der Kirche so interpretiert, dass er geglaubt habe, mit der Staatssicherheit verhandeln zu können. Die inhaltliche Ausgestaltung dieser Kontakte meinte Stolpe so vornehmen zu können, dass sie für seine kirchliche Umgebung verborgen blieb.

Gratwande­run­gen seien gefährlich, konstatierte nach der Wende Stolpes früherer Dienst­herr, Bischof Albrecht Schön­herr. Es gebe Stre-
cken, bei denen 
man zweifle, ob 
man noch auf dem richtigen Pfad sei. Allerdings: „Grat­wanderungen vermitteln auch unerwartete Ausblicke.“ Selbst wenn der Sozialismus in der DDR keine Legitimation gehabt habe, so der Brandenburger Altbischof, habe doch die „Kirche im Sozialismus“ ihre Berechtigung gehabt – auf dem schmalen Grat zwischen Opposition und Opportunismus.

Die acht selbstständigen evangelischen Landeskirchen waren ohne Zweifel Sand im Getriebe des SED-Staats – aber auch dessen (Ersatz-)Motor: In den Jahren von 1957 bis 1990 wurden über die Konten der westdeutschen evangelischen Kirchen immerhin geschätzte 8,5 Milliarden DM in die DDR transferiert. Die evangelische Kirche stellte für den DDR-Staat eine der wichtigsten Devisenquellen dar. Etwa 50 Prozent des kirchlichen Gesamthaushalts wurde von den Westkirchen finanziert. Dank kirchlicher Transfergeschäfte sah sich die DDR zu jeder Zeit in der Lage, auf dem Weltmarkt einzukaufen.

Aus Sicht der SED-Führung war die evangelische Kirche nicht nur ein Fremdkörper in der sogenannten entwickelten sozialistischen Gesellschaft – ihr kam auch eine Scharnierfunktion zu: Ohne ihre Vermittlung hätte es 
Häftlingsfreikäufe seitens der Bundes­republik in diesem Umfang nicht geben können: Zwischen 1964 und 1990 
verdiente die DDR mit dem Men­schen­handel (um nichts anderes handelte 
es sich) 3,4 Milliarden DM. Infolge dieser Zahlungen kamen ca. 33.000 Häftlinge frei und konnten gemeinsam mit ca. 250.000 nichtinhaftierten Ausreisewilligen in den Westen übersiedeln. Als Umschlagplatz für die Freikäufe fungierte in der DDR das Diakonische Werk, das zugleich auch die Garantie dafür bot, dass von dem Geld keine Embargo-Waren, Waffen etc. einkauft wurden. Einer solchen Valutaquelle erfreute sich kein anderer Ostblockstaat.

Das eigentliche historische Verdienst 
der evangelischen Kirche in der DDR dürfte in ihrer sozialpolitischen Arbeit 
liegen, darin dass sie in den 1980er-Jahren ihre Türen weit öffnete für die Mühseligen und Beladenen – für 
Behinderte, Punks, „Gammler“, Homo­sexuelle und nicht zuletzt für die Antragsteller: Die überwiegende Zahl der Ausreisewilligen sah sich vom Staat den verschiedensten Schikanen ausgesetzt. Ohne zu wissen, wann und ob der Ausreiseantrag bearbeitet wurde, hatten viele dieser Menschen mit der Antragsstellung ihre Arbeit verloren und sahen sich in ihrer sozialen Existenz bedroht. Ein nicht geringer Teil dieser Leute sollte im kirchlichen Bereich Erwerbsarbeit finden: auf Friedhöfen, in der Diakonie oder in kirchlichen Archiven etc. – Doch die „Kirche für andere“, so das Bonhoeffer-Wort, sollte in Vergessenheit geraten. In den heftigen Debatten der Nachwendezeit spielte dieser Teil der Geschichte keine Rolle.

Nach der Vereinigung

Die Verbitterung und Härte, mit der 
in den 1990er-Jahren um die Rolle der Kirchen und ihre etwaigen Verwick­lungen in das Machtgefüge des SED-Staates diskutiert wurde, lässt uns heute staunen und sich mit einem rein wissenschaftlichen Interesse an der Geschichte kaum erklären. Wenn so gut wie alle westlichen Länder die DDR in den 1970er-Jahren als Staat anerkannt hatten, wie hätte die evangelische Kirche dem gleichen Staat diese Anerkennung verwehren können? Schon gar nicht, wenn sie von diesem Staat etwas wollte.

Ebenso erstaunt es, mit welcher Selbstverständlichkeit die westdeutsche Kirche ihr Modell auf den Osten übertrug. Ein verbitterter Werner Krusche, Altbischof in Magdeburg, resümierte 1993: „Die politische Absicht ist klar. Weil zu befürchten ist, dass die evangelischen Kirchen in der ehemaligen 
DDR auch im geeinigten Deutschland 
ihre gesellschaftskritische Funktion wahrnehmen werden und also weiterhin einen Unruheherd darstellen können, müssen sie als Handlanger der SED und als Stasi gesteuert verleumdet werden, damit ihre Stimme als unglaubwürdig abgetan werden kann.“

Dass in der späten DDR die evangelischen Landeskirchen einen besseren Sozialismus wollten und gleichzeitig an der engen Verbindung zu den 
Gliedkirchen der westdeutschen EKD 
festhielten, lässt sich heute schwer kommunizieren. Die Erinnerungspolitik der 
evangelischen Kirchen scheint generell 
darauf ausgerichtet zu sein, die Men­schen mit dem historischen Geschehen zu versöhnen – einem Geschehen, das aber immer diffiziler und verworrener gewesen ist als der spätere Wille zum Gedenken. Über Jahrzehnte hinweg wurde in der Kirche die Geschichte aufgespalten in einen offiziellen herzeigbaren Teil und in einen inoffiziellen Teil, der zwar nicht abgestritten wird, über den man aber nicht redet, insbesondere was die Kir­chen­geschichte in der NS-Zeit betrifft. In 
diesem Sinne stellen die Jahre in der 
DDR keine Leerstelle dar, in der Erin­nerungslandschaft der EKD, vielmehr ähneln sie einem verwilderten Garten, um den sich niemand kümmert. Offenbar sind die Kirchenhistoriker an ihre Grenzen gestoßen. Ein gestörtes Verhältnis aber zur eigenen Geschichte bewirkt immer eine gestörte Identität. Eine Kirche mit einer gestörten Identität – wie will die heutzutage noch glaubwürdig sein?