Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 2/25 | Geschrieben von Zentralrat der Konfessionsfreien

Absolute Mehrheiten für säkulare Politik

Wie eine religionspolitische Zeitenwende in der rechtsstaatlichen Praxis Deutschlands gelingen kann

Die Bundesrepublik Deutschland steht an einem religionspolitischen Wende­punkt. Was sich in der Gesellschaft längst vollzogen hat – die Abkehr von kirchlicher Bindung und der Megatrend der Säkularisierung – wird im politischen Betrieb weitgehend ignoriert. Die staatliche Religionspolitik folgt noch immer einem Modell, das unter völlig anderen Voraussetzungen entstand: einer fast vollständig christlich geprägten Bevölkerung, einer institutionell dominanten Kirche und einem konfessionellen Konsens über die Gestaltung des öffentlichen Raums.

Doch dieser Konsens existiert nicht mehr. Heute sind die Konfessionsfreien mit fast 47 Prozent die größte weltanschauliche Gruppe im Land. Selbst unter Kirchenmitgliedern bezeichnen sich nur noch wenige als religiös, und breite Mehrheiten sprechen sich für grundlegende Reformen aus:
Nur 13 Prozent der Bevölkerung gelten noch als kirchlich-religiös, gerade einmal 6 Prozent besuchen regelmäßig Gottesdienste; demgegenüber stehen 56 Prozent uneingeschränkt nicht-Religiöse und 25 Prozent religiös-Distanzierte. 75 Prozent fordern die Abschaffung der Kirchensteuer, über 70 Prozent sprechen sich für einen gemeinsamen Ethikunterricht statt dem getrennten Religionsunterricht aus. Mehr als 80 Prozent wollen eine säkulare Regelung des Schwanger­schafts­abbruchs und 90 Prozent lehnen islamische Organisationen ab, die religiöse Gebote über das Grundgesetz stellen.

Verfassungstreue statt religiöser Einflussnahme

Eine moderne Religions- und Weltan­schauungspolitik, die diesen Wandel ernst nimmt, bezieht ihre Legitimation nicht aus institutionellen Bündnissen mit Religionsgemeinschaften, sondern aus dem Verfassungsprinzip der weltanschaulichen Neutralität. Entscheidend ist nicht, welche Religion den meisten Einfluss geltend macht, sondern ob der Staat allen Bürgerinnen und Bürgern gleiche Rechte garantiert. Säkulare Politik ist kein Kulturkampf gegen Re­ligion, sondern ein verfassungsrechtlich begründetes Ordnungsprinzip. Sie behandelt die Religions- und Welt­anschauungsgemeinschaften wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure: mit Grundrechten, aber ohne Sonderrechte. Und sie schützt nicht nur vor religiöser Bevormundung, sondern auch vor politischer Vereinnahmung – etwa durch den Politischen Islam, dessen Vertreter mit Rückgriff auf das Grundgesetz bestehende kirchliche Sonderrechte auch für sich fordern.

Veraltetes Kirchenrecht 
als Einfallstor

Während manche politisch Verantwort­liche die Sonderrechte der Kirchen mit dem Hinweis verteidigen, dass es für sie einen gravierenden Unterschied zwischen dem Christentum und dem Islam gäbe, kennt das Grundgesetz ein solchen Unterschied nicht; nach dem Grundgesetz sind alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleich zu behandeln. Wenn der Staat den Kirchen Sonderrechte einräumt, kann er sie islamischen Organi­sationen nicht verwehren – sofern sie die Vor­aussetzungen erfüllen. Dies bietet ein Einfallstor auch für Verfassungs­feinde. Denn der legalistische Islam nutzt das veraltete Staatskirchenrecht strategisch, indem er durch Formel­bekennt­nisse eine scheinbare Verfas­sungs­treue signalisiert. In seiner Suche nach politischer Legitimierung ist er oft erfolgreich, sowohl bei politischen Parteien als auch bei kirchlichen Partnern.

Gleiches Recht für alle — Sonderrechte für niemanden

Aus säkularer Perspektive ergibt sich eine klare Konsequenz: Gleiches Recht für alle – auch für religiöse Gemeinschaften. Dieses Prinzip lässt sich nur durch den schrittweisen Abbau kirchlicher Sonderrechte mit dem Verfassungsgrundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates in Einklang bringen. Würde man stattdessen beginnen, diese Privilegien systematisch auf andere Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften zu übertragen, entstünden drei gravierende Probleme.

Erstens würde es den Staat erheblich mehr kosten – und diese steigenden Ausgaben müssten auch von der wachsenden, bald absoluten Mehrheit der Konfessionsfreien mitgetragen werden. Zweitens droht die Übersichtlichkeit des Rechts- und Verwaltungssystems verloren zu gehen: In einer pluralen Migrationsgesellschaft mit zunehmender Vielfalt religiöser Bekenntnisse wäre ein geregelter, gleichberechtigter Umgang kaum noch sicherzustellen. Und drittens wächst in dieser Unübersichtlichkeit die Gefahr, dass auch solche Gruppierungen Sonderrechte erhalten, die mit den Grundwerten unserer Verfassung nicht vereinbar sind – etwa Organisationen, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ablehnend gegenüberstehen. Ein solches System unterhöhlt nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, sondern auch den gesellschaftlichen Frieden.

Fünf Impulse für eine religionspolitische Zeitenwende

Die politische Umsetzung des Säkularismus beginnt also dort, wo sich staatliche Ordnung und religiöse Sonderregelungen kreuzen. Wir haben dafür fünf Impulse entwickelt:

1. Modernisierung der Religionspolitik

Die Trennung von Staat und Religion muss endlich vollständig umgesetzt werden – rechtlich, institutionell und finanziell. Dazu gehört die Abschaffung der Staatsleistungen ebenso wie der staatlich organisierte Einzug der Kirchensteuer über das Finanzamt. Religiöse Organisationen dürfen keine Mitspracherechte in Gesetzgebungsverfahren oder der Bildungspolitik haben, keine staatlich finanzierten theologischen Fakultäten betreiben und keinen öffentlich-rechtlichen Status mit Sonderrechten innehaben. Sie sollten wie alle anderen zivilgesellschaftlichen Akteure privatrechtlich organisiert sein. Der Staat kann nur „Heimstätte aller Bürger” sein, wenn seine Institutionen und die ihn repräsentierenden Personen das Verfassungsprinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität achten und frei von religiösen Symbolen sind. Das sorgt für rechtliche Gleichbehandlung, spart Milliarden an Steuermitteln, schützt die Demokratie vor undemokratischen Strukturen und verhindert, dass religiöse Gruppen mit verfassungswidrigen Zielen durch bestehende Privilegien politischen Einfluss gewinnen.

2. Wirksamer Bund-Länder-Aktionsplan gegen den Politischen Islam

Im Koalitionsvertrag zwischen der Union und der SPD wurde ein Bund-Länder-Aktionsplan gegen Islamismus verankert – ein realpolitischer Rahmen, den es jetzt konsequent umzusetzen gilt. Ziel ist nicht nur die Fortführung einer Task Force, sondern die Einbettung in ein dauerhaftes, ressortübergreifendes Gremium im Bundesinnenministerium, das Prävention, Bildung, digitalen Raum und internationale Dimensionen verbindet. Ein wesentlicher Schritt dabei ist der vom Arbeitskreis Politischer Islam (AK Polis), dem Mernissi-de Gouges Bildungs- und Sozialwerk und der Ibn Rushd-Goethe Moschee mit 50 Fachleuten durchgeführte Workshop am 9. Juli in Berlin, den der Innenministerium-Staatssekretär Christoph de Vries als “Startschuss” für diese Aktionsplanung bezeichnete. De Vries lobte den AK Polis als „Leuchtturm in der Zusammenarbeit“, weil er säkulare, liberale und muslimische Stimmen gleichberechtigt einbindet. Der AK Polis verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl den militanten als auch den legalistischen Islamismus in den Blick nimmt und den Dialog mit liberalen sowie säkularen Muslimen sucht und fördert.

3. Bekenntnisfreie Schulen
Durch seine konfessionelle Trennung überfordert der Religionsunterricht öffentliche Schulen organisatorisch, fördert die gesellschaftliche Spaltung und torpediert integrationspolitische Maßnahmen. Immer weniger Eltern melden ihre Kinder dafür an, gleichzeitig wachsen problematische Einflüsse, etwa durch islamischen Unterricht, der von religiös-politischen Verbänden geprägt wird. Wir setzen uns daher für die im Grundgesetz (Art. 7 Abs. 3) explizit genannte Möglichkeit ein, öffentliche Schulen als bekenntnisfrei zu definieren – so müssen sie keinen konfessionellen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach anbieten. Damit werden Schulen zu Orten des gemeinsamen Lernens, an denen Grundwerte wie Toleranz und demokratische Teilhabe vermittelt werden. Das stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, entlastet das Lehrpersonal und verhindert, dass religiöse Gruppen hoheitliche Bildungsräume instrumentalisieren.

4. Abschaffung des religiösen Sonderarbeitsrechts

Das kirchliche Sonderarbeitsrecht ist für rund zwei Millionen Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen die Ursache einer strukturellen Diskrimi­nierung, die mit staatlichem Arbeits­recht unvereinbar ist. Dies betrifft Einstellungen und Entlassungen, etwa aufgrund sexueller Orientierung, privater Lebensentscheidungen oder Äußerungen. Zwei zentrale Gesetze – § 118 Abs. 2 BetrVG und § 9 und § 20 Abs. 1 Nr. 4 AGG – schaffen legale Ausnahmeregelungen, die jedem weltlich orientierten Arbeitsrecht widersprechen. Wir fordern deshalb eine ersatzlose Streichung dieser Sonderregeln. Das garantiert gleiche Rechte für alle Beschäftigten, verhindert religiöse Paralleljustiz und schützt vor Willkür durch Arbeitgeber. Zudem beugt es einem möglichen Ausgreifen auf islamische Träger vor, die ähnliche Regelungen übernehmen könnten. Ein solidarisches, säkulares Arbeitsrecht stärkt Rechtsstaatlichkeit und betriebliche Fairness in allen gesellschaftlichen Bereichen.

5. Fiskalische Entlastung in Milliardenhöhe

Wir fordern die ersatzlose Streichung des § 10 Abs. 1 Nr. 4 Einkommen­steuergesetz (EStG), der die Kirchen­steuer als Sonderausgabe vollständig von der Einkommensteuer abziehbar macht. Diese Regelung führt dazu, dass dem Staat im Jahr 2024 rund 4,6 Mrd. € an Einnahmen entgangen sind Über die gesamte Legislaturperiode ergibt sich ein fiskalischer Ausfall von etwa 18 Mrd. €. Die Kirchen erhalten jährlich über 12 Mrd. € Kirchensteuer, tatsächlich zahlen ihre Mitglieder aber nur rund 8 Mrd. € – den Rest trägt die Allgemeinheit. Mit der Abschaf­fung dieser Subvention könnten erhebliche Mittel für Schulen, Kranken­häuser, Pflegeeinrichtungen und Infra-
strukturprojekte frei werden. Gleich­zeitig würde das Steuerrecht transparenter und gerechter: Keine bevor­zugte Behandlung finanzstarker Kirchen­mitglieder und einzelner Glaubens­richtungen, sondern gleiche Regeln für alle.

Fünf Verbesserungen durch säkulare Politik

All diese Vorschläge erwachsen aus der Kombination von säkularen Mehrheiten in der Bevölkerung und dem Verfassungsgebot der weltanschaulich neutralen Staates – nicht aus Misstrauen gegenüber Religion, sondern aus Respekt vor dem Recht des Individuums, frei von Religion sein zu dürfen. Zu dieser Religionsfreiheit gehört das Recht, keine religiösen Angelegenheiten mitfinanzieren zu müssen oder gar, sich religiös motivierten Gesetzen zu unterwerfen. Der Staat garantiert die Religionsfreiheit, indem er sich selbst aus religiösen Strukturen zurückzieht. Daraus ergeben sich fünf wesentliche Verbesserungen:

1. Säkulare Politik schafft Rechts­sicherheit, in der der Staat kohärent handeln kann, ohne sich in religiöse Sondernormen zu verstricken.
2. Einheitliches Recht fördert die so­ziale Integration – durch gleiche Regeln für alle.
3. Durch den Abbau von Sonder­rechten werden erhebliche Haus­haltsmittel frei, die zielgerichtet für das Gemeinwohl verwendet werden können.
4. Eine säkulare Ordnung stärkt das Vertrauen in die Demokratie, weil staatliches Handeln mit den Überzeugungen der absoluten Mehrheit übereinstimmt.
5. Extremismusprävention wird effektiver, weil religiöse Einflusskanäle auf staatliche Strukturen geschlossen werden.