Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/23 | Geschrieben von Dirk Winkler

Das Ende der Menschenrechte oder das Ende des Relativismus?

75 Jahre ist es her, dass die Allgemeine Erklärung der Menschen­rechte verfasst wurde. Am 10.12.2023 wird es aus diesem Anlass viele Festakte und ergreifende Reden geben. Ehrliche und verlogene Reden. Reden, die die Menschenrechte kompromisslos verteidigen und Reden, die die Idee der Menschenrechte, mittels Relativismus, offen oder verdeckt, versuchen auszuhöhlen.

Warum wird das so sein? Weil die Menschenrechte etwas bedrohen, von dem einige Menschen nicht lassen wollen. Von der individuellen Macht und der Teilhabe an der Macht, als Teil 
eines Kollektivs. Die Geschichte ist reich 
an Beispielen, wie Menschen von den Menschenrechten ausgeschlossen wurden. Dokumente von Menschenrechten lassen sich bis ins 13. Jahr­hundert finden. Die bekanntesten und wirkmächtigsten waren die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789. Doch waren die Ver­fassungsväter der Vereinigten Staa­ten zum Teil Sklavenhalter und die Revolutionäre der Französischen Revo­lution haben blutigsten Terror verübt.

Die Relativierung des Menschseins

Die Geschichte der Menschenrechte war immer auch eine Geschichte von In- und Outgroup-Denken, wie es die Menschheit von den verschiedenen religiösen Weltanschauungen schon immer gewohnt war. (Menschen)Rechte waren lange Zeit Rechte für Menschen, die einer bestimmten Gruppe angehört haben. Und seit einigen Jahrhunderten an erster Stelle die Rechte des freien Weißen Mannes.

Entscheidend ist auch heute noch, dass ein Individuum als Mensch anerkannt wird, damit ihm Menschenrechte zuerkannt werden. Grausamkeit fängt immer dort an, wo andere Menschen nicht als vollwertige Menschen anerkannt werden. Alle Kulturen, zu allen Zeiten, kannten andere Gruppen, die sie „Barbaren“ nannten oder als „weniger entwickelt“ ansahen. Für sich selbst hatten einige Kulturen den Eigennamen „Mensch“.
Die Menschenrechte verlieren dort ihre Schutzfunktion, wo anderen Menschen das Menschsein offen oder insgeheim abgesprochen wird. Das war schon so, bevor die Menschrechte überhaupt artikuliert wurden und das wird immer so sein, auch wenn sie in goldenen Lettern an jedem Haus angeschrieben werden.
Das Menschsein kann und darf nicht relativiert werden. Das ist die erste Grundvoraussetzung, damit Men­schenrechte keine hohlen Phrasen sind. Angesichts dessen, dass Rassismus heute allgemein und in allen Kulturen geächtet ist, sollte man meinen, dass es die Menschheit endlich geschafft hat, den Menschenrechten zumindest theoretisch zum Durchbruch zu verhelfen.
Angesichts von Gesellschaften, in denen noch heute Frauen massiv benachteiligt und unterdrückt werden, muss man sich aber die Frage stellen, ob in diesen Gesellschaften nur der Mann als vollwertiger Mensch gesehen wird? Dass gerade in diesen Gesellschaften die Universalität der Menschenrechte in Frage gestellt und relativiert wird, darf im Grunde nicht überraschen. Im Interesse aller Menschen dieser Kulturen ist diese Infragestellung und Relativierung allerdings nicht. Sie dient nur dem Machterhalt eines Teils der Menschen (Männer) gegenüber einem anderen Teil der Menschen (Frauen). In Wahrheit werden hierbei nicht vorgeblich schützenswerte kulturelle Eigen­schaften relativiert, sondern das Mensch­sein an sich.

Die Relativierung des Individualismus

Wenn die Relativierung des Mensch­seins die eine Flanke ist, an der die Menschenrechte angegriffen werden, so ist die andere Flanke, über die Angriffe vorgetragen werden, die Infrage­stellung des Individualismus.

Im westlichen intellektuellen Dis­kurs ist in Bezug auf Individualismus und Kollektivismus (Gruppen) eine Neigung zum Relativismus festzustellen. Teil der Selbstkritik des Westens ist dabei der angeblich übersteigerte Indi­vi­dualismus im Westen, insbesondere in der Ökonomie. So werden Kapitalismus, Konsumismus und Individualismus als einander bedingend angesehen und mit dem einen wird das andere gleich mit kritisiert. In kollektivistischen (nicht westlichen) Gesellschaften hingegen wird die Gemein­schaft hervorgehoben und mit prosozialem Verhalten assoziiert. Mangelnde Individualrechte werden dabei geflissent­lich übersehen. Dieser Relativismus gefährdet das Primat der Menschen­rechte.
Menschenrechte zielen stets auf das Individuum und nicht auf Ethnien, 
Gruppen oder gar kulturelle Eigen­arten als Ganzes.
Man muss in aller Deutlichkeit sagen, dass Menschen­rechte und Individualismus nicht von­einander zu trennen sind, denn die Menschenrechte werden mit dem Argument relativiert, dass in anderen Kulturen das Individuum eben nicht jenen Stellenwert in der Gesellschaft hat, wie im Westen. In nicht-westlichen Gesellschaften werde die Gemeinschaft höher bewertet, was eine mindestens gleichwertige ethische Position sei.
Statt der Gemeinschaft als kulturelle, religiöse oder ethische Werte­gemeinschaft kann auch die territoriale Staatlichkeit als Fetisch ins Feld geführt werden, um im Namen dieser angeblich mindestens gleichwertigen Position Individualrechte zu verletzen.
Warum aber wird der Individua­lismus von einigen so kritisch gesehen? Dies liegt vermutlich daran, dass von den Kritikern des Individualismus immer automatisch Egoismus mitgedacht wird. Individualismus wird dabei in einen strikten Gegensatz zu pro­sozialem Verhalten gesetzt. Das Gegen­teil von prosozialem Verhalten ist aber asoziales Verhalten und nicht Individualismus.
Richtig ist, dass sich Individualismus immer in gesellschaftlichen Rahmen­bedingungen abspielt, die eine Entfal­tung des Individuums erst möglich machen. Dafür ist die konsequente Ein­haltung der Menschenrechte unabdingbar. Die Individualisten bilden gemeinsam ganz zwangsläufig eine Gemeinschaft. Und je mehr prosoziales Verhalten in einer Gemeinschaft zu finden ist, desto freier kann der Individualismus gelebt werden. Und was kann prosozialer sein, als den Mitmenschen in seiner Individualität anzunehmen?
Asozial hingegen ist es, den Mensch mehr oder weniger nur als Teil einer Identitätsgruppe wahrzunehmen. Damit steckt man den Menschen letztlich in ein Gefängnis – ein soziales Gefängnis und verletzt damit zwangsweise seine individuellen Menschen­rechte.

Die Entwicklung der Relativierung

Über lange Phasen der Menschheits­geschichte hinweg war diese davon geprägt, dass jede Gruppe ihre eigenen Wahrheiten als absolut erachtete, und Macht das alleinige Kriterium war, nach dem „Wahrheit“definiert wurde. Von den großen Konzepten der Religionen und Weltanschauungen bis hinunter zu Gruppen und gar Einzelpersonen, die ihre „kleinen“ Wahrheiten im menschlichen Zusammenleben mit Sturheit und Intoleranz durchzusetzen versuchten. Werte und Konventionen der Einen wurden als den Werten und Konventionen der Anderen überlegen verstanden. Die Folge war mindestens Verachtung, aber auch Diskriminierung bis hin zur Entmenschlichung des Anderen oder ganzer Gruppen.

Aus selbstkritischer westlicher Perspektive muss man heute feststellen, dass mit der Erringung der westlichen Vormachtstellung eine Arroganz und Geringschätzung nicht-westlicher Werte, Zivilisationen und Kulturen einherging, die Sklaverei und Kolonialismus, Ausbeutung und Genozide nicht nur legitimierte, sondern sogar beförderte.
Erst mit dem Einzug der Idee der Menschenrechte und ihrer Durch­dringung der westlichen Gesellschaften begann die Selbst­sicherheit, dass man die Wahrheit ausschließlich auf seiner Seite habe, langsam zu bröckeln. Zugleich sollten sich Rassismus, Eurozentrismus, christlicher Missions­eifer, Sexismus und Überlegenheits­gefühle westlicher Gesellschaften noch sehr lange Zeit halten.
Die Widersprüche zwischen dem Ideal der Menschenrechte und den tatsächlichen Verhältnissen, in denen weite Kreise der Bevölkerung von allen oder zumindest einigen Menschen­rechten ausgeschlossen waren, führten schließlich dennoch dazu, die eigene Sicht auf eigene Wahrheiten sowie Überlegenheitsgefühle zunehmend in Frage zu stellen.
Es entwickelte sich der Relativismus als Korrektiv zur eigenen Voreingenom­menheit in Bezug auf die Konstruktion von Wahrheit, Werten und Konven­tionen. Gekennzeichnet war er von einer sehr starken emanzipatorischen Wirkung für zuvor benachteiligte Gruppen bis hin zu Einzelindividuen.
Zweifelsfrei ist der Grundsatz richtig, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt und insbesondere gesellschaftliche Verhältnisse an Vorbedingungen geknüpft sind, die ihrerseits auf Bedin­gungen der jeweiligen Umwelt und ge­schicht­licher Entwicklung fußen. Indes geriet der wertvolle Beitrag des Relativismus zur Weiterentwicklung der Menschheit über das Zuträgliche hinaus und entwickelte sich zu einem anti-emanzipatorischen Diskurselement.
Heute kann man in westlichen Ge­sell­schaften allerorten eine Träg­heit in Bezug auf die Verteidigung der Menschen­rechte antreffen, die zwi­schen­zeitlich alle Formen der Zu­sam­menarbeit mit autoritären Macht­habern, Staaten und Gesell­schaf­ten mög­lich macht, ohne dass sich das west­liche Gewissen rührt angesichts der Verletzung von Menschenrechten. Dies gilt auf staatlicher und unternehmerischer Ebene, wie auf der Ebene des Einzelnen.
Die Menschenrechte an sich werden in einer neurassistischen Art und Weise in Frage gestellt. So als müsste man verstehen, dass die Menschenrechte als westliche Erfindung vollumfänglich zuvorderst – man denke dabei nur an die Demokratie und die Gleichstellung von Mann und Frau – für die Menschen des Westens geeignet seien, aber nicht zwingend auch für andere Staaten oder Kulturkreise.
Der Relativismus ist zu einem Deckmäntelchen verkommen, um nicht zu Lasten von Profit und Bequemlichkeit für humane Werte einstehen zu müssen. Dabei kann man sich sogar noch großartig als antirassistisch, als tolerant und aufgeklärt gerieren. Das gilt mit unterschiedlichen Schwerpunkten für die große Politik wie auch für den Einzelnen in seiner kleinen privaten Welt.
Der Relativismus hat sogar Auswir­kungen hervorgebracht, die unsere wichtigste Erkenntnismaschine sabo­tieren. Die naturwissenschaftliche Me­tho­de als effizientestes Instrument der Erkennt­nisgewinnung wird mit Ein­gebung und Dilettantismus relativiert, auf dass neben wissenschaft­lich fundierten Aussagen auch Behaup­tun­gen stehen gelassen werden, die keinerlei Realitätsgehalt aufweisen.
Ereignisse der letzten Jahre in Europa und der Welt, die Anlass zum Umdenken geben – von der Ermordung von Journalisten in Saudi-Arabien über die brutale Missachtung von Frauen­rechten in Afghanistan und die Inhaf­tierung von Regimegegnern in der Türkei, in China und Russland bis hin zur Niederschlagung der Proteste in Weißrussland, dem brutalen Überfall Putins auf die Ukraine und der Nieder­schlagung der Frauenproteste im Iran – sollten mehr als nur ein Weckruf sein, endlich kompromisslos für die Men­schenrechte einzustehen, auch wenn es für einen selbst unbequem wird.
Wie lange haben wir die Augen verschlossen vor den Menschen­rechts­ver­stößen des Regimes Putin. Jetzt, da wir zu sehen beginnen, können wir das, was in Russland geschehen ist, nicht länger „wegrelativieren“. Und einmal aufgewacht müssen wir erkennen, dass wir auch das Unrecht in anderen Teilen der Welt nicht länger relativieren können.
Die Auswüchse des Relativismus sind zurückzuschneiden auf grundsätzliche erkenntnistheoretische Aspekte. Innerhalb menschenrechtsbasierter Standpunkte hat der Relativismus nichts 
mehr zu suchen. Diese dürfen und müssen absolut gesetzt werden.
Und weil in den letzten Jahren verschämte Versuche unternommen wurden, die Menschenrechte nicht-westlichen Kulturen dadurch schmackhaft zu machen, dass man, zu Recht oder zu Unrecht, die Wurzeln dieser Rechte, insbesondere auch durch islamische Einflüsse, in allen Kulturen auszumachen glaubte, sei endlich selbstbewusst gesagt, dass das eine Scheindebatte ist.
Selbst wenn die Menschenrechte tatsächlich eine westliche „Erfindung“ sein sollten, die sich aus der westlichen Kulturentwicklung ergeben hat, so würde dies dennoch in keiner Weise eine etwaige Überlegenheit westlicher Menschen begründen. Nicht, wenn man die Menschen als eine Spezies begreift. Es wäre schlicht ein geographischer Zufall, wenn Menschen im Westen die Menschenrechte entwickelt hätten; und diese wären keineswegs biologistisch und damit rassistisch ein Produkt des „Westmenschen“. So zu denken wäre in Wahrheit rassistisch. Das Gleiche ließe sich auch zur Bedeutung der modernen Wissenschaft sagen.
Dem Menschen als Spezies sind bestimmte Dinge universal zuträglich und andere Dinge nicht. Die Menschen weltweit haben in ihrem Menschsein derart viele universelle Gemeinsamkeiten, dass die kulturellen Unterschiede nicht länger als Maßstab dafür dienen sollten, welchen Kulturen man die Menschen­rechte selbstverständlich vollumfänglich zugänglich macht und bei welchen man es duldet, dass sie keinen vollständigen Zugang dazu erlangen.
Dass damit nicht einem Kreuzzug für die Menschenrechte das Wort geredet wird, sollte gutwillig selbstverständlich sein. Kreuzzüge, aus welcher Motivation heraus auch immer, sind ein Widerspruch zu den Menschen­rechten an sich. Auch sind die realen gesellschaftlichen und staatlichen Machtverhältnisse eben so, wie sie sind, und man muss sich realpolitisch darauf einstellen. Aber die Stoßrichtung der anzustrebenden Entwicklung sollte ganz klar sein. Profit und Bequemlichkeit dürfen jedenfalls kein Grund sein, um sich wegzuducken und vom Relativismus einlullen zu lassen.

Selbstbewusste Haltung zu den Menschenrechten

Anlässlich der Reden zu den Feier­lichkeiten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sollten wir alle aufmerksam und sensibel sein, wenn angefangen wird zu relativieren. So wie wir immer aufmerksam sein sollten, wenn Menschenrechte relativiert und in Frage gestellt werden. Denn wenn wir nicht persönlich und als Gesellschaft jederzeit kosequent für die Menschenrechte einstehen, werden sie nach und nach wegrelativiert.