Am 1.1.1978 löste ein neues Arzneimittelgesetz (AMG 1978) das Vorgängergesetz aus dem Jahre 1961 ab. Mit dem neuen Gesetz war ein einschneidender Paradigmenwechsel verbun- den: Der Staat bekannte sich zu seiner Verantwortung im Rahmen der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln.
Davor war die staatliche Beteiligung am Arzneimittelwesen nicht mehr als eine einfache Registrierung und eine „Herstellungserlaubnis“, die Prüfung von Wirksamkeit und Sicherheit der Mittel blieb den Herstellern überlassen. Eine Reihe von „Arzneimittelskandalen“, von denen der Contergan-Skandal Anfang der 1960er Jahre nur der bekannteste war, führten zu einem allmählichen Umdenken.
Die entscheidende Neuerung war, dass Arzneimittel einem staatlichen Zulassungsverfahren unter Prüfung ihrer Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach wissenschaftlichen Kriterien unterworfen wurden. Das entsprach seinerzeit den europaweiten Bemühungen, einen Rechtsrahmen zum Verbraucher- und Patientenschutz beim Markt für Arzneimittel zu schaffen.
Die ersten Gesetzentwürfe aus dem Hause von Ministerin Katharina Focke führten dieses Prinzip auch konsequent durch. Jedoch kam der Punkt, an dem die Vertreter sogenannter „Traditioneller“ oder „Erfahrungsmedizin“ realisierten, dass ihre Mittel unter den vorgesehenen Bedingungen keinen Zugang mehr zum sogenannten ersten Arzneimittelmarkt haben würden. Sie wussten, dass Berufung auf „Tradition“ und „gute Erfahrungen“ nicht ausreichen würde, um die nun im Raum stehenden wissenschaftlichen Anforderungen insbesondere an Wirkungsnachweise zu erfüllen. Allen voran die Anthroposophen und die Homöopathen.
Versuche, auf den Gesetzentwurf Einfluss zu nehmen, ließen nicht auf sich warten. Führende Erfahrungsmediziner erstritten sich einen Platz im „Beirat Arzneimittelsicherheit“, dem entscheidenden Gremium bei der Gesetzesvorbereitung, und brachten teils abenteuerliche Argumentationen vor. Es war die Rede von einem „anderen Zugang zur Medizin“, dem berühmten „medizi-
nischen Pluralismus“, dem Rechnung zu tragen sei – also die Forderung nach einem separaten Wissenschafts
begriff. Auch wurde dem Gesetzgeber das Recht bestritten, überhaupt Marktzugangsregelungen für Arzneimittel zu treffen. Die Begründung für diese steile These war, dass mit den Vorgaben des neuen AMG so etwas wie eine staat-
liche eines bestimmten „Wissenschaftsparadigmas“ verbunden sei, eine Beschränkung auf einen „reduktionistischen Materialismus“, was wiederum die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Wissenschaft tangiere. Der nachmalige Bundespräsident Prof. Karl Carstens, damals Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, stellte das Projekt eines neuen Arzneimittelgesetzes gar unter „Sozialismusverdacht“.
Dies führte tatsächlich dazu, dass Sonderrechte für die großen Domänen der „Erfahrungsmedizin“, die nun „Besondere Therapierichtungen“ hießen, im neuen Arzneimittelgesetz verankert wurden: Homöopathie, Anthroposophie und Phytotherapie erhielten – in geradezu grotesker Umkehrung der eigentlichen Intention des Gesetzgebungsprojekts – die Arzneimitteleigenschaft unter Dispens von der Anforderung eines wissenschaftlich fundierten Wirkungsnachweises.
Die Entscheider waren sich wohl durchaus klar über das Fehlen von Wirksamkeitsbelegen für die „Besonderen Therapierichtungen“, meinten aber, mit dem Gedanken des „Hilfts nicht, so schadets nicht“ dem Anspruch des AMG als Verbraucherschutzgesetz Genüge zu tun und gleichzeitig den „Erfahrungsmedizinern“ ihren Willen lassen zu können. Vor diesem Hintergrund ist auch die Bestimmung zu sehen (§ 5 Heilmittelwerbegesetz), dass einfach registrierte Homöopathika (die Mehrzahl) nicht, auch nicht Fachkreisen gegenüber, mit Indikationsangaben beworben werden dürfen.
Der Zulassungsvorbehalt für Mittel, die mit Indikationsangaben beworben werden sollen, wurde einer besonderen Kommission aus „Vertretern der Therapierichtung“, also einer Binnenanerkennung ohne die Möglichkeit einer neutralen Überprüfung, übertragen. An die Stelle wissenschaftlicher Belege traten dabei „homöopathische Erkenntnismaterialien“ – nur bei lebensbedrohlichen Indikationen hielt man einen wissenschaftlichen Beleg für angemessen. Eine solche Zulassung ist aber bislang noch nie ausgesprochen worden. Kritische Stimmen sehen in einer solche „Binnenanerkennung“ den „endgültigen Ausweis der Nichtwissenschaftlichkeit“, die „medizinischem Sektierertum“ Tür und Tor öffne.
Niemand sah voraus, dass diese Sonderrolle wissenschaftlich invalider „Therapierichtungen“ zu einem „Aufwachsen“ insbesondere der Homöopathie und zu einer allgemeinen Verfestigung des falschen Eindrucks einer validen medizinischen Methode führen würde. Nicht zuletzt die (teilweise) Erstattungsfähigkeit durch die gesetzlichen Krankenkassen trug das ihre dazu bei. Der dadurch entstandene Glaubwürdigkeitsbonus hat längst die Annahme des „Hilft’s nicht, so schadet’s nicht“ ad absurdum geführt. So weist z.B. der Weltärztebund darauf hin, dass die früheren Annahmen einer Unschädlichkeit von Pseudomethoden unhaltbar sind bzw. deutlich zu kurz greifen. Und zwar deswegen, weil Vertrauen in wissenschaftlich nicht abgesicherte Mittel und Methoden zu „gefährlichen Verzögerungen und Chancenverlusten“ bei notwendigen wirksamen Behandlungen und damit zu Bedrohungen für Leib und Leben der Patientenschaft führen kann. Es ist nicht zu verantworten, dies staatlicherseits auch noch zu befördern. Der Handlungsbedarf in der Politik ist evident.
Die Erstattungsproblematik
Homöopathika sind verordnungsfreie Arzneimittel, deren Erstattung mit der Gesundheitsreform 2004 grundsätzlich ausgeschlossen wurde. Die Homöopathie und die Anthroposophie lobbyierten danach erneut dafür, ihren Mitteln wieder die GKV-Erstattungsfähigkeit zu verschaffen. Mit dem 3. GKV-Versorgungsstrukturgesetz 2012 wurde dann auch den Kassen die Möglichkeit eröffnet, die Erstattung nicht verordnungsfähiger Mittel (also auch für die der „Besonderen Therapierichtungen“) in ihre jeweilige Satzung aufzunehmen. Auch die Kassen selbst hatten sich dies gewünscht – als Wettbewerbsinstrument, wegen der „Beliebtheit“, wie manche Kassenchefs offen einräumten. Nicht als Teil einer sinnvollen medizinischen Versorgung.
Es gab schon damals Stimmen, die fragten, wie denn Mittel ohne Wirkungsnachweis die Generalklausel des § 12 Sozialgesetzbuches V erfüllen sollten, die nur Erstattungen für Leistungen erlaubt, die „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen“? Tatsächlich landete diese Frage bald vor dem Bundessozialgericht. Das dann auch bestätigte, dass „eine Begünstigung von Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen mit der Folge, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen“, nicht in Betracht komme.
Obwohl damit klar war, dass die „Besonderen Therapierichtungen“ die Hürde des § 12 SGB V nicht nehmen können, geschah daraufhin – nichts. Business as usual. Weder gab es eine Klarstellung des Gesetzgebers, noch besannen sich die Kassen selbst. Mehrere Gesundheitsminister zeigten sich in der Vergangenheit, trotz kritischer Interventionen, durchaus zufrieden mit diesem status quo.
Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz: die Referentenentwürfe
Mit der zweiten Fassung des Entwurfs zum Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) hatte Minister Lauterbach im Januar 2024 vorgesehen, dem „Satzungsleistungsparagrafen“ (§ 11 Abs. 6 SGB V) expressis verbis das anzufügen, was längst die Konsequenz aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hätte sein müssen: dass auch über Satzungsleistungen eine Erstattung für Leistungen der „Besonderen Therapierichtungen“ sozialrechtlich ausgeschlossen ist. Man hätte also mit Fug und Recht sagen können, Lauterbach verschaffe der ohnehin schon bestehenden „latenten“ Rechtslage Geltung und helfe damit auch ein Stück weit auch wieder der Wissenschaft auf die Beine.
Hätte. Jedoch enthielt der Ende März 2024 vorgelegte dritte Entwurf eines GVSG diesen Passus nicht mehr. Sehr bedauerlich, dass der Minister offenbar die weithin, auch in den Medien durchaus positive Aufnahme seines Vorstoßes nicht in politischen Rückenwind umwandeln konnte und dass Vernunft und Rationalität, eine ehrliche patientenorientierte Medizin und auch die Wissenschaft offenbar einmal mehr politischem Pragmatismus zum Opfer fielen.
Mitten in dieser Situation hat der 128. Deutsche Ärztetag am 10. Mai 2024 einen Beschluss gefasst, der die Homöopathie als „in der Regel nicht vereinbar mit rationaler Medizin, dem Gebot der bestmöglichen Behandlung sowie einem angemessenen Verständnis medizinischer Verantwortung und ärztlicher Ethik“ bezeichnet. Ein klares Signal der organisieren Ärzteschaft, dass sie die Homöopathie außerhalb eines nach neuzeitlichen rationalen und ethischen Maßstäben gültigen Medizinbegriffs verortet. So etwas gab es bislang nicht einmal in Ansätzen.
Es ist wohl nicht zu sehr Spekulation, nimmt man an, dass die Unentschlossenheit der Politik in den letzten Monaten ein Anstoß für die Initiative des Ärztetages gewesen ist – und dass der Beschluss wohl auch ein Signal an die Politik sein soll, sich ihrerseits endlich von der Scheinmethode Homöopathie im Sozial- und im Arzneimittelrecht zu verabschieden. Immerhin umfasst der Beschluss dazu klare Appelle an die Politik. Es ist kaum denkbar, dass der Ärztetags-Beschluss keine Auswirkungen auf die politische Debatte haben wird. Wir werden sehen. Höchste Zeit ist es längst, im wohlverstandenen Patienteninteresse.