Prisma | Veröffentlicht in MIZ 2/21 | Geschrieben von Thomas Waschke

Was kann die Erweiterte Evolutionäre Synthese leisten?

Teil 2: Deszendenzlehre und die Fülle der Evolutionstheorien

Wenn man heute den Begriff ‘Evolutionstheorie’ hört, denkt man in erster Linie an Charles Darwin. Diese Einschätzung ist vollkommen berechtigt, weil es keinem anderen Autor vor oder nach ihm ge
lungen ist, die Evolutionsbiologie so nachhaltig zu prägen. Darwin publizierte eine ganze Reihe von Büchern, zweifellos am wirk­mächtigsten war aber sein 1959 erschienenes Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life.

Darin vertrat Darwin zwei Konzepte, die Deszendenzlehre (Abstammungs­lehre), die schon im ersten Teil (MIZ 1/21) besprochen wurde, und die Selektionstheorie. Letztere sollte erklären, welche Mechanismen (Prozesse) die Evolution verursachten, welche die Deszendenzlehre nur als Muster beschrieb. Darwin formulierte die rein naturalistische Selektionstheorie, die sich aber zunächst gegen die Theoriekonkurrenten nicht behaupten konnte.

Darwins Selektionstheorie

Die Selektionstheorie in ihrer ursprünglichen Form, die Darwin auch als ‘my theory’ bezeichnete, ist im Prinzip ganz einfach zu beschreiben. Darwin ging davon aus, dass die Merkmale von Organismen erblich sind. Je nachdem, welche Merkmale ein Organismus aufweist (beispielsweise, je dichter sein Fell ist), ist er besser oder schlechter an die Anforderungen der Umwelt (im Beispiel niedrige Temperaturen) angepasst. Die Lebewesen, welche am besten angepasst sind (die mit dem dichtesten Fell), pflanzen sich bevorzugt fort und vererben diese Eigenschaft weiter. Wenn sich die Anforderungen nicht ändern (im Beispiel: es bleibt immer kalt), setzen sich nach und nach im Lauf der Generationen die besser angepassten Lebewesen durch, bis die Art letztlich nur noch aus gut angepassten Organismen besteht, welche die Anlagen zu dieser Anpassung von den Eltern erbten und an ihre Nachkommen weitervererben. Die Praxis menschlicher Züchter (künstliche Selektion) diente Darwin als ein Beispiel für die Vorgänge, die in der Natur ablaufen (natürliche Selektion).

Beide Konzepte Darwins, sowohl die Deszendenzlehre als auch die Selektionstheorie, lösten jeweils eine Revolution aus. Die erste wurde direkt durch Darwins Buch (1859) in Gang gesetzt und war im Prinzip schon abgeschlossen, als Darwin 1882 verstarb. Diese Revolution bestand nicht darin, dass Darwin als erster an eine Evolution gedacht hatte, es gelang Darwin aber durch eine Fülle von Tatsachenbeschreibungen dem Evolutionsgedanken, der durchaus ‘in der Luft lag’, zur allgemeinen Anerkennung zu verhelfen, obwohl dadurch viele weltanschauliche Grundsätze, vor allem die der christlichen Religion, infrage gestellt wurden. Die Selektionstheorie hingegen wurde nur von wenigen Fachwissenschaftlern vertreten.

Die Situation im 
Darwin-Jahr 1909

Als eine Art Zwischenstand kann die Situation im Darwin-Jahr 1909 gesehen werden. Die erste darwinsche Revolution war abgeschlossen: Evolution als historische Tatsache und eine Deszendenz, bei der auch neue Arten entstehen, waren innerhalb der Fachwelt durchweg anerkannt, aber die Kontroverse über Evolutionstheorien, welche die Mechanismen der Evolution erklären sollten, hatte einen Höhepunkt erreicht. Zu diesem Zeitpunkt konnte man praktisch jeden beliebigen Evolutionsmechanismus, der nicht auf dem direkten Eingreifen einer Übernatur beruhte, innerhalb der Fachwissenschaften vertreten, ohne Gefahr zu laufen, sich lächerlich zu machen.

Die widersprüchliche Einschätzung von Darwins Leistung zeigte sich darin, dass sich so gut wie jeder der Autoren, die sich während der Feiern in Oxford 1909 und in dem dazu erschienenen Sammelband zum Stand der Evolutionsbiologie äußerte, in der Nachfolge Darwins sah, also die Deszendenzlehre anerkannte, aber so gut wie keiner dessen Selektionstheorie vertrat.

Da sich auf dem damaligen Kenntnis-Stand kein Standard durchsetzen konnte, war eine verwirrende Fülle von sich zumindest teilweise widersprechenden Evolutionstheorien entstanden, die von erstklassigen Fachwissenschaftlern vertreten wurden und sich meist auch, wenn auch eher punktuell, auf empirische Befunde stützen konnten.

Die konkurrierenden Evolutionstheorien

Die Selektionstheorie wird zu den Variationsevolutionen gezählt. Diese Theorien gehen davon aus, dass in jeder Generation sozusagen ein Neustart erfolgt: Nur die Gene gelangen in die nächste Generation, alles andere entsteht jeweils neu. Die Selektionstheorie kennt kein langfristiges Ziel, die Veränderungen erfolgen zufällig (nicht teleologisch). Die Selektion wird durch Außenfaktoren (externalistisch) bewerkstelligt und der Prozess kann nur funktionieren, wenn die Veränderungen von Generation zu Generation nicht zu groß sind (gradualistisch). Alle Prozesse werden durch rein naturalistische Faktoren bestimmt. Zudem ist die Theorie ‘monistisch’: ein einziger Mechanismus, eben die Selektionstheorie, ist für alle Phänomene der Evolution hinreichend.

Die Gründe, warum sich die Selektionstheorie zunächst nicht durchsetzen konnte, waren vielfältig. Aus der Sicht der Fachwissenschaft waren viele Voraussetzungen einfach nicht gegeben. Die stofflichen Grundlagen der Vererbung waren noch nicht bekannt, so dass nur gemutmaßt werden konnte, ob diese mit den Voraussetzungen der Selektionstheorie übereinstimmten. Vor allem aber war schwer vorstellbar, wie durch einen Zufallsprozess Neuheiten entstehen können. Dazu kam, dass die Selektionstheorie empirisch sehr schlecht belegt war. Darwin konnte sich zwar auf die Ergebnisse der Tier- und Pflanzenzüchtung berufen, aber in diesem Fall waren menschliche Züchter erforderlich, welche der Selektion eine Richtung vorgaben (teleologisch, im Gegensatz zu der auf Zufallsprozessen beruhenden natürlichen Selektion). Die ersten eindeutigen Befunde für ‘selection in the wild’ wurden erst Mitte der 1950er Jahre, also fast 100 Jahre nach der Formulierung der Selektionstheorie, vorgelegt. Die Wiederentdeckung der Ergebnisse von Mendels Experimenten, die schon zu Darwins Lebzeiten publiziert, aber in der Fachwelt nicht beachtet wurden, war letztlich der Todesstoß für die Selektionstheorie. Der Typ Vererbung, der sich in Mendels Experimenten zeigte, war viel zu grob, um mit der Selektionstheorie vereinbar zu sein. Ab 1900 galt daher die Selektionstheorie innerhalb der Evolutionsbiologie als widerlegt.

Die weltanschaulichen Konsequen­zen der Deszendenztheorie waren zudem schon weitreichend genug, um viele von Darwins Zeitgenossen zu überfordern. Die Selektionstheorie war aus dieser Sicht noch radikaler, weil sie das Zufallselement in die Evolution einführte, wodurch es sehr schwer wurde, ein Ziel hinter diesem Prozess zu sehen. Daher waren Evolutionstheorien, die eine Sinngebung auf einer höheren Ebene ermöglichten, weit verbreitet.

Innerhalb der Fachwelt wurden vor allem Transformationstheorien vertreten. Diese Theorien gehen davon aus, dass sich die Organismen meist durch einen inneren Bildungstrieb (in-
ter­nalistisch) zielgerichtet (teleolo­gisch) im Lauf der Zeit allmählich (gradualistisch) verändern. Derartige Überlegungen wurden in der Philo­sophie schon seit Platon vertreten. Im Gegensatz zur Variationsevolution bleibt ein Objekt, beispielsweise die Art, erhalten und verändert sich im Lauf der Zeit. Evolutionärer Wandel verläuft nach diesen Auffassungen entlang vorgegebener Bahnen (deterministisch), die meist nach den Vorgängen bei der Entwicklung eines Organismus modelliert wurden. Der ganze Vorgang ist auf ein Ziel hin ausgerichtet und daher, falls man dieses Ziel kennt, zumindest in groben Zügen vorhersagbar. Zufällige Prozesse wurden eher als Störungen betrachtet.

Derartige Theorien wurden unter Be­zeichnungen wie Nomogenese, Aristogenese oder Orthogenese vertreten. Auch Lamarcks Theorie, die im ersten Teil dargestellt wurde, gehört in diese Gruppe.

Mit ein Grund für die Beliebtheit der Transformationsevolution bestand darin, dass in den lenkenden Kräften auch das Wirken einer Übernatur gesehen werden konnte, welche letztlich die Evolution bestimmt. Auch wenn es nicht mehr möglich war, die biblische Auffassung einer direkten Schöpfung der Arten zu vertreten, war es so doch immerhin noch vorstellbar, wenn auch nicht erforderlich, den Gesamtprozess als eine Schöpfungsmethode Gottes zu sehen. Aus Sicht der Forscher hatten diese Theorien den Vorteil, eine Evolution plausibel zu machen, weil durch diese inneren Faktoren eine Richtung vorgegeben wurde. Dadurch konnte auch die Rolle des Menschen als ‘Krone der Schöpfung’ erhalten bleiben.

Die von Mendel schon zu Darwins Lebzeiten (1866) formulierten Ver­erbungsregeln wurden nicht beachtet und erst um 1900 wieder­entdeckt. Sie gaben der dritten Gruppe von Evolutionstheorien, den Sprung­theo­rien, wichtige Bestätigungen. Diese Theorien gehen davon aus, dass neue Arten in einem Schritt, beispielsweise durch Großmutationen, entstehen. Vertreter dieser Auffassungen, die vor allem unter Genetikern verbreitet waren, konnten sich auf, allerdings vereinzelte, Beobachtungen berufen. Eine wichtige Stütze war zudem der Fossilbefund: Üblicherweise trat eine neue Form im Fossilbefund plötzlich auf und veränderte sich erst dann eher graduierlich, wie das von den anderen Evolutionstheorien gefordert wurde. Entscheidend war, dass die eigentlich interessanten Veränderungen eben nicht graduierlich erfolgten. Das war auch Darwin bekannt, der aus diesem Grund in seinem Hauptwerk den Fossilbefund, der seine Deszendenzlehre so glänzend bestätigte, im Abschnitt ‘Probleme der Theorie’ besprach.

Allen Konkurrenten der Selektions­theorie war gemeinsam, dass sie den zentralen Kern dieser Theorie, die Rolle der natürlichen Selektion als einzig richtenden und damit schöpferischen Faktor der Evolution, bestritten. Im Falle der Transformationstheorien spielten innere Bildungstriebe die entscheidende Rolle. Die Rolle der Selektion war eher nebensächlich, sie sorgte bestenfalls für die ‘Reinheit des Typus’, indem sie fehlerhafte Formen ausmerzte. Die Sprungtheorien hingegen gingen davon aus, dass die Neuheiten in einem Schritt, ohne Beteiligung der Selektion, entstünden. Erst die Produkte dieses Prozesses werden dann von der Selektion bewertet.

Zwischen etwa 1930 und 1950 erfolgte die zweite darwinsche Revolution, die dazu führte, dass die Selektionstheorie, die als widerlegt galt, sich wie ein Phoenix aus der Asche erhob und zum Standard der Evolutionsbiologie wurde. Dieser Prozess wird im nächsten Teil der Serie geschildert.

Literatur

Darwin, Charles: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favored Races in the Struggle for Life. London 1859.