Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 3/24 | Geschrieben von Dieter Birnbacher

Freitodbegleitung und psychische Krankheit

Über die Ansprüche an die Freiverantwortlichkeit 
des Sterbewunsches. Eine Begriffserläuterung

Mit seinem bahnbrechenden Entscheid vom Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Freiverantwortlichkeit zum Schlüsselbegriff der Diskussion um die rechtliche Zulässigkeit der Freitodbegleitung gemacht. Allein das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von Freiverantwortlichkeit soll darüber entscheiden, ob es rechtens ist, einem anderen Menschen bei der Umsetzung seines Entschlusses zu helfen, seinem Leben ein früheres Ende zu setzen, als es natürlicherweise zu Ende gehen würde.

Damit nimmt Deutschland international eine Sonderstellung ein. In allen anderen Ländern werden für die rechtliche Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung weitere Bedingungen verlangt, vor allem die Bedingung, dass der Suizidwillige an einer (schweren, zum Tode führenden oder unheilbaren) Krankheit leidet. Freitodbegleitung darf in Deutschland auch bei einem Menschen geleistet werden, der weder an einer physischen noch an einer psychischen Krankheit leidet, sondern dem sein Leben aus anderen Gründen unerträglich geworden ist, aus Perspektivlosigkeit, Langeweile oder Vereinsamung. Strenggenommen bedarf es für die rechtliche Legitimität einer Freitodbegleitung nicht einmal eines wie auch immer gearteten Leidens­zustands.

„Freiverantwortlichkeit“ ist ein rechtliches Konstrukt ohne Grundlage im allgemeinen Sprachgebrauch. Es vereint in sich mehrere verschiedene Begriffsinhalte. Die Teilkomponente „frei“ verweist darauf, dass es einerseits darauf ankommt, dass der Suizidwillige seinen Entschluss autonom und unabhängig von äußeren und inneren Zwängen trifft, die Teilkomponente „verantwortlich“ darauf, dass dieser Entschluss ein gewisses Maß an Festigkeit und Kohärenz aufweist. Er darf nicht das Resultat eines bloßen Augenblicksimpulses sein. Gefordert ist nicht nur, dass der Beschluss, sein Leben vorzeitig zu beenden, aus freiem Willen getroffen wird. Gefordert ist auch eine gewisse Dauerhaftigkeit dieses Entschlusses und ein gewisses Maß an Rationalität.

Willensfreiheit kann eingeschränkt sein

Die im Begriff der Freiverantwortlichkeit zusammengefassten Bedingungen lassen sich am ehesten über Situationen verdeutlichen, in denen sie offenkundig nicht oder nur unvollständig erfüllt sind. Im gesellschaftlichen Umgang miteinander setzen wir sie so selbstverständlich voraus, dass es schwerfällt, sie im Einzelnen zu benennen und zu unterscheiden.

Als eingeschränkt muss die Willens­freiheit immer dann gelten, wenn der Suizidwillige situativ oder dauerhaft nicht in der Lage ist, die Art und die Folgen seines Entschlusses zu verstehen. Ein solcher vorübergehender oder länger dauernder Zustand kann z.B. vorliegen, wenn er aufgrund einer Erkrankung, eines Rausch- oder emotionalen Ausnahmezustands unfähig ist, seine persönliche Situation zu erfassen, die Tragweite seines Entschlusses zu erkennen oder unfähig ist, sich gemäß seinem Wissen zu verhalten. Im ersten Fall entgleitet ihm die Kontrolle über seinen Verstand, im zweiten die Kontrolle über sein Verhalten. Beide Bedingungen zusammen werden im deutschen Recht als Einwilligungsfähigkeit bezeichnet, in der Schweiz als Urteilsfähigkeit. Dazu gehören einerseits die Fähigkeit, seine Situation, sein Tun und dessen Kon­sequenzen zu erkennen (Ein­sichts­fähigkeit), die Fähigkeit, sich mit ihnen wertend auseinanderzusetzen (Wer­tungs­fähigkeit) und die Fähig­keit, seinen Willen gezielt in eine Verhaltens­entscheidung umsetzen zu können (Ent­scheidungsfähigkeit). In unserem liberalen Rechtstaat besteht, rechtlich gesprochen, eine Vermutung für die Einwilligungsfähigkeit jedes anderen, d.h. die Begründungslast, dass sie eingeschränkt ist, liegt jeweils bei demjenigen, der dies behauptet und daraus Konsequenzen für das jeweils angemessene Verhalten zieht.

Als eingeschränkt gelten muss die Freiheit des Entschlusses zweitens dann, wenn der Wille des Suizidwilligen ganz oder teilweise durch einen so starken äußeren Druck bedingt ist, dass er sich der Ausführung des von anderen Gewollten nicht entziehen kann. Solche erzwungenen Selbsttötungen kennen wir aus der Antike, etwa verbunden mit der Androhung einer sehr viel qualvolleren Fremdtötung. Allerdings hebt nicht jeder von außen kommende Druck die Freiheit der Ent­scheidung auf. Außer in Situationen extremer Abhängigkeit können wir einem von außen kommenden Druck gewöhnlich auch widerstehen. Als eingeschränkt kann die Willensfreiheit nur dann gelten, wenn der Druck zum nötigenden Zwang wird. Eingeschränkt wird die Freiheit allerdings nicht nur durch Nötigung und Zwang, sondern auch durch Manipulation, etwa durch Täuschung oder Fehlinformation. Einen solchen Fall beschreibt Erich Kästner in seinem Roman Fabian. Der angehende Dozent Stephan Labude nimmt sich das Leben, nachdem ihm fälschlicherweise – im Sinne eines Dumme-Jungen-Streichs – gesagt worden ist, seine Habilitationsschrift sei abgelehnt worden.

Auch bei der Bedingung der Kohärenz des Suizidwillens sind die Situationen, in denen die Freiverantwortlichkeit eingeschränkt ist, leichter anzugeben als die Bedingungen, in denen sie vorliegen. Eingeschränkt ist die Kohärenz bei einem impulsiven, aus einem momentanen Affekt oder einer Krisensituation heraus gebildeten Suizidwillen oder wenn der Wille, nicht weiter leben zu wollen, schwankend ist, wie bei Menschen, die zwar sterben wollen, aber nicht sicher sind, ob von eigener Hand. Deshalb verlangen die Organisationen, die Freitodbegleitung anbieten, regelmäßig, dass der Wunsch, an der Hand eines sachkundigen Helfers zu sterben, über eine gewisse Frist konstant bleibt. Nur die vierte und anspruchsvollste Bedingung lässt sich eher positiv beschreiben: die Bedingung der Wohlerwogenheit. Zulässig sein sollte eine Freitodbegleitung nur dann, wenn der Sterbewunsch auf einer informierten Abwägung der für den Antragsteller verfügbaren Optionen beruht. Er darf nicht lediglich Ausdruck eines unspezifischen Hilfeverlangens sein. Vor­aussetzung ist die Informiertheit über die verbleibenden medizinischen, insbesondere palliativmedizinischen und anderweitigen Optionen, gegebenenfalls auch über geeignete Änderungen des sozialen Settings.

Kein Ausschluss von Suizidhilfe per se

Sieht man sich die vier Bedingungen an, wird klar, dass das Vorliegen zumindest einiger psychischer Erkrankungen bei einem Suizidwilligen bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Freitodbegleitung besondere Aufmerksamkeit erfordert – nicht deshalb, weil es sich um psychische Krankheiten handelt, sondern aufgrund der Unvereinbarkeit einiger ihrer Symptome mit den angeführten Bedingungen. Die Auffassung, dass jede psychische Krankheit eine Freitodbegleitung ausschließt – wie es längere Zeit in Recht und Medizin vertreten worden ist –, kann heute glücklicherweise als überholt gelten. Auch das Bundesverfassungsgericht hat klar­gestellt, dass das Vorliegen einer psychischen Krankheit nicht per se die Rechtmäßigkeit einer Suizidassistenz ausschließt. Auch die frühere – auf den Suizidforscher Erwin Ringel zurückgehende – Auffassung, dass ein Suizidwille oder eine Suizidneigung („Suizidalität“) als solche auf das Vor­liegen einer psychischen Krankheit hin­weisen, wird in der Psychiatrie nur noch vereinzelt vertreten. Psychiater, die meinen, dass – wie es noch in einem Ratgeber aus den 1970er Jahren heißt – „als Täter ... jeder Suizident krank ist und als Opfer des Schutzes vor sich selbst bedarf“, spiegeln einseitig die Tendenz einiger Klinikpsychiater wider, ihre Erfahrungswerte unzulässig zu verallgemeinern. Vertreter dieser Auffassungen setzen dabei regelmäßig – wie das letzte Zitat zeigt – voraus, dass das Vorliegen einer psychischen Krankheit die Zulässigkeit eine Suizidhilfe kategorisch verbietet. Diese Voraussetzung kann heute nicht mehr uneingeschränkt gelten.

Umso dringlicher stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen psychische Krankheiten die Zulässigkeit einer Freitodhilfe ausschließen oder einschränken. Eine erste – triviale – Bedingung ist, dass es sich bei der psychischen Krankheit tatsächlich um eine nach den Regeln der einschlägigen medizinischen Disziplin, der Psychiatrie, genuine Krankheit handelt. Ein vor­übergehendes Stimmungstief oder eine Lethargie mit Verlust der Lebensenergie im Alter ist keine klinische Depression. Was genau eine Krankheit im Gegensatz zu einer Befindlichkeitsstörung ist, ist Gegenstand einer unabgeschlossenen Debatte. Aber über einige typische Merkmale besteht Einigkeit: Eine Krankheit hat typischerweise zur Folge, dass normale Lebensvorzüge nicht oder nur mit großer Anstrengung vollzogen werden können; das Vor­liegen einer Krankheit entschuldigt Verhaltensweisen, die andernfalls einer Person zum Vorwurf gemacht werden können; und eine Krankheit geht typischerweise mit subjektivem Leiden und dem Wunsch einher, gesund werden zu wollen. Eine psychische Störung unterhalb der Schwelle zur psychischen Erkrankung, etwa eine stark ausgeprägte Angstneigung oder eine ausgeprägte Hemmung, Kontakt zu anderen aufzunehmen, ist dafür, auch wenn sie das Leben erheblich schwerer macht, im Allgemeinen nicht hinreichend.

Eine weitere Bedingung ist, dass die psychische Krankheit zum Zeitpunkt des Wunsches nach Freitodbegleitung aktuell vorliegt (eine „psychiatrische Episode“ in der Vergangenheit rechtfertigt für sich genommen keine Ablehnung) und dass sie an der Be­einträchtigung der Erfüllung der vier Voraussetzungen kausal beteiligt ist. Einem Psychiatriepatienten, der wegen einer fortgeschrittenen Krebs­erkrankung im Vorfeld des Todes um eine Freitodbegleitung bittet, kann nicht bereits deshalb, weil er Psychia­triepatent ist, diese Bitte abgeschlagen werden – jedenfalls nicht ohne nähere Prüfung, ob dabei möglicherweise wahnhafte Angstvorstellungen im Spiel sind.

Nicht sämtliche Therapie­ansätze zwingend ausprobieren

Zweitens kann das dem Wunsch nach Freitodbegleitung zugrundeliegende Leiden – an einer schweren Krank­heit oder Behinderung und ihren Sympto­men und Folgen, an der darin liegenden Kränkung des Selbst­wertgefühls, an dem erzwungenen Verlust von Lebensperspektiven – nicht seinerseits als krankhaft gelten. Trauer über ein widriges Schicksal und Unglücklichsein über die eigene Lebenssituation sind auch dann, wenn sie einige ihrer Äußerungsformen mit den Symptomen einer klinischen Depression (Rückzug, Schlaflosigkeit, Unwertgefühl) gemeinsam haben, noch keine Fälle von „Depression“ im psychiatrischen Sinn. Natürlich können sie gelegentlich über den konkreten Anlass hinaus persistieren und sich zu einer psychischen Krankheit auswachsen.

Das gilt auch für das Leiden an einer schweren psychischen Erkrankung wie Schizophrenie, chronische Depres­sionen und Angstzuständen, sofern diese nicht konstant sind, sondern in Schüben oder akuten Phasen verlaufen, zwischen denen der psychisch Kranke weitgehend symptomfrei ist. In diesen Phasen ist er häufig in der Lage, sich reflektierend auf seine Erkrankung zu beziehen und den Entschluss zu fassen, keine weiteren akuten Phasen seiner Erkrankung mehr erleben zu wollen. Alles kommt darauf an, wie weit er fähig ist, unter Bezug auf die Erfahrungen, die er mit seiner Krankheit gemacht hat, und auf der Grundlage seiner Überzeugungen und Einstellungen zu einem wohlerwogenen Urteil darüber zu kommen, wie weit er die vor ihm liegende Wegstrecke gehen möchte und wie weit nicht.

Auch wird man in diesem Fall von dem psychisch Kranken nicht verlangen können, dass er sämtliche möglichen Therapieansätze ausprobiert hat, bevor seiner Bitte nach einem begleiteten Freitod nachgekommen wird. Viele Psychiater haben Bedenken, einem psychisch Kranken die Freiverantwortlichkeit seines Verlangens nach Suizidassistenz zu bescheinigen und fordern, dass der psychisch Kranke zuvor alle verfügbaren Therapiemöglichkeiten wahrgenommen hat. Diese Forderung ist nicht gerechtfertigt. Solange er den Wunsch in den Phasen, in denen er zu einer distanzierten Betrachtung seiner Gefährdung in der Lage ist, äußert, kann die Tatsache, dass er auf weitere Behandlungsversuche verzichtet, ebenso wenig gegen die Zulässigkeit einer Suizidhilfe sprechen wie bei einem Krebskranken, der auf weitere Behandlungsversuche verzichtet und dabei das Risiko in Kauf nimmt, dass diese seinen Zustand möglicherweise erträglicher machen.

Bei einigen psychischen Krankheiten wird sich eine Freitodbegleitung allerdings verbieten, da ihre Symptome, jedenfalls wenn diese stark ausgeprägt sind, mit der Erfüllung der aufgeführten Bedingungen unvereinbar sind. Dazu gehören insbesondere die Bedingung der Einwilligungsfähigkeit, der Wohl­erwogenheit und der Festigkeit.

Die Urteils- und Einsichtsfähigkeit kann etwa durch Wahnvorstellungen beeinträchtigt sein, wie sie bei Schizo­phrenie vorkommen, oder durch den für die Spätphase der Demenz charakteristischen partiellen Verlust des Realitätskontakts. Suizidwünsche können dann sowohl durch von außen (Halluzinationen, Stimmen) als auch von innen (Schuldbewusstsein, Un­wert­gefühl) kommende Impulse ausgelöst werden. Der Suizidwillige ist nicht „er selbst“, sondern wird beherrscht von Mächten, die sich seiner bewussten Steuerung entziehen. Er hat die Kontrolle über das eigene Denken, Fühlen und Wollen verloren und befindet sich in einer Situation ähnlich der eines Menschen im Vollrausch oder in einem hochgradigen Affektzustand.

Von der Fähigkeit, über Alternativen wirklich nachzudenken

Drittens geht eine psychische Erkran­kung häufig mit der Unfähigkeit einher, über die verfügbaren Optionen kohärent, d.h. in einer rational nachvollziehbaren Weise nachzudenken und eine auf Abwägung beruhende Entscheidung zu treffen. Die Bedingung der Wohlerwogenheit geht über die Bedingung der Einwilligungsfähigkeit hinaus. Der Suizidwillige muss nicht nur wissen, was er tut und welche Folgen sein Tun hat. Er muss auch fähig sein, Alternativen zu denken und die Folgen seines bevorzugten Wegs vergleichend zu bewerten. Damit verträgt es sich nicht, dass das Sterben möglicherweise zu einer das gesamte Denken und Fühlen beherrschenden idée fixe geworden ist. Die Fähigkeit, alternative persönliche Zukünfte zu denken – oder überhaupt Zukünftiges zu denken – kann insbesondere bei schweren Depressionen stark eingeschränkt sein.

Schließlich gehört es zu den Symp­tomen einiger psychischer Krank­heiten, dass es zu einem rapiden Wech­sel von Äußerungen des Lebens- und Sterbenwollens kommt und die erforderliche Festigkeit des Sterbewillens fehlt.

Die meisten dieser Beeinträch­ti­gungen der Freiverant­wort­lich­keit sind abstufbar. Sie haben nicht den Charakter von Schaltern, die von Null auf Eins umgelegt werden. Auch wenn manche psychische Krankheiten die Erfüllung der Zulässigkeitsbedingungen eindeutig ausschließen, gibt es viele, bei denen sie nur in geringerem Maße eingeschränkt sind. Der Spielraum der psychiatrischen Diagnosen ist weit und bedarf dringend der Einengung durch Leitlinien und verlässliche Orientierungen – sowohl zur Sicherheit derjenigen, die über die Zulassung zur Freitodbegleitung entscheiden, als auch zur größeren allgemeinen Rechtssicherheit. Allerdings wird ein Rest an Augenmaß und individueller Urteilskraft auch durch wie immer geartete Leitlinien nicht überflüssig gemacht werden können. Das Recht kann medizinische Diagnosen nur unvollständig in Normen fassen. Insofern wird es gut daran tun, sich weitgehend auf Verfahrensregeln (wie das Vier-Augen-Prinzip) zu beschränken.

Der Beitrag erschien ursprünglich in der DGHS-Vereinszeitschrift Humanes Leben Humanes Sterben 2024-3.