Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 1/25 | Geschrieben von Sebastian Schnelle

Gemeinsam gegen die moderne Welt?

Was ist die Moderne?

Die Moderne und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Ent­wicklungen sind ein zentrales Feindbild autoritärer Ideolo­gien. In einer dreiteiligen Artikelserie untersucht der Philosoph Sebastian Schnelle diverse gegen die Moderne auftretende Strömungen. Dabei stößt er auf interessante Parallelen in den Vorstellungen politisch-weltanschaulicher Lager, die auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten zu haben scheinen. (MIZ-Redaktion)

Epochenbegriffe sind kompliziert und schwer einzugrenzen. Je nachdem, ob man von Kultur, Technik, Wissen­schaft oder Kunst spricht, ob man Geistes­geschichte betrachtet oder eine bestimmte Region in den Blick nimmt. Abhängig von diesen Parametern wird man zu unterschiedlichen Ein­schät­zungen kommen, wann eine Epoche begonnen hat oder welche Phänomene ihr originär zuzuordnen sind.

Bei all diesen Unschärfen soll für den Zweck dieses Artikels die Moderne als eine Epoche gelten, in der es zu großen Umwälzungen in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen kommt, die das Leben der Menschen ordnen und organisieren.

Ihre Anfänge liegen in der Philo­sophie der Aufklärung, ohne die die Umwälzungen der bürgerlichen Revolu­tionen nicht denkbar gewesen wären. Beginnend mit der amerikanischen Un­abhängigkeitserklärung (1776), der Französischen Revolution (1789) und nicht zu vergessen der Haitianischen Revolution (1791) forderten die wachsenden Schichten der Bürger einen Anteil an der Macht und veränderten so die politischen Systeme ihrer Zeit.

Die Urbanisierung, welche von der industriellen Revolution ausgelöst wurde, sorgte in Europa dafür, dass innerhalb einer kurzen Zeit die Mehr­heit der Bevölkerung nicht länger auf dem Land, sondern in Städten lebte. Diese Verstädterung fand in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten statt, so begann sie in Großbritannien deutlich, bevor sie das Leben in Deutschland veränderte, ging aber überall für geschichtliche Prozesse rasend schnell vonstatten. Teilweise änderte sich der Anteil der städtischen Bevölkerung in nur 50 Jahren von ca. 20% auf über 80%. Anstatt in Lehnsverhältnissen an der Nahrungserzeugung beteiligt zu sein, entstand eine städtische Arbeiterklasse und die Lohnarbeit wurde zum gesellschaftlichen Standard.

Ebenfalls in dieser Zeit entstehen die modernen Wissenschaften und entzaubern die Welt und berauben uns erkenntnistheoretisch aller letzten Gewissheiten und unabänderlichen Wahrheiten. Unsere Erkenntnisse werden als stets fehlerbehaftet erkannt und aus diesem Zustand der Vorläufigkeit gibt es kein Entrinnen. Der Philosoph Ulrich Steinvorth nutzt dafür das Bild eines Schiffes, das auf hoher See treibt, ohne dass es ein festes Land gäbe, welches als sicherer Fixpunkt wirken könnte. Entsprechend verliert auch die Institution der Kirche an Bedeutung und Einfluss.

Die bereits genannten wissenschaftlichen Fortschritte bewirken aber nicht nur eine erkenntnistheoretische Dock­losigkeit, sie ermöglichten auch enorme technische Umwälzungen. Egal, ob Kommunikation, Produktion, Kriegs­führung, Medizin oder Fortbe­wegung, kaum ein Lebensbereich bleibt ausgespart. Auch hier passieren all diese Veränderungen auf geschichtlichen Zeitskalen gesehen rasend schnell. Betrachtet man nur die Fortbewegung, so wird die Dampfmaschine nach James Watt 1776 erfunden, die erste Eisenbahn fährt 1825, das Automobil wird 1886 patentiert und der Erstflug der Gebrüder Wright datiert auf 1903. 127 Jahre, die die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, mehr verändern als die 2000 Jahre vorher.

Diese Auflistung soll nicht abschließend sein, aber es sollte gezeigt worden sein, dass den Gesellschaften in der Zeit vor dem späten 19. Jahrhundert enorme Veränderungen zugemutet wurden und diese Veränderungen sollen im weiteren Text eine Idee davon geben, was als „die Moderne“ verstanden wird.

Flucht ins Okkulte

All diese Veränderungen der Lebenswelt überforderten manche Menschen und führten zu einer Blütezeit des Esote­rischen und Okkulten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Be­ginn des Ersten Weltkriegs.

Helena Petrovna Blavatsky, auch als Madame Blavatsky bekannt, war eine maßgebliche Mitbegründerin der modernen Esoterik und beeinflusste durch ihre Bücher Isis entschleiert (1877) und Die Geheimlehre (1888)1 große Teile der esoterischen Szene in der westlichen Welt. Speziell Isis entschleiert war dabei weniger eine Entwicklung der eigenen Position, als eine Abrechnung mit der sich entwickelnden rationalistisch-materialistischen Weltsicht der westlichen Welt, der eine angebliche Ur-Religion des alten Ägypten gegenübergestellt wurde, mit deren Hilfe sich die Gegensätze zwischen Spiritualität und Rationalismus aufheben lassen sollten.

Schon wenig später in Die Geheim
lehre verwarf Blavatsky diesen Ansatz wieder, wobei sie ihrer Ablehnung der rationalistisch-materialistischen Welt­sicht treu blieb, einen Gegen­entwurf jedoch nicht in Ägypten, sondern in fernöstlichen Heilslehren suchte. Unter anderem behauptete sie, Zugang zum Buch des Dzyan, einem fiktiven Werk, welches angeblich in Tibet von Adepten einer geheimen Bruder­schaft aufbewahrt wird, gehabt zu haben. Sie entwirft eine frei erfundene Kosmogenese, mit einer angeblichen historischen atlantischen Zivilisation und eine ebenso frei erfundene Anthropogenese inklusive sogenannter Wurzelrassen. Das Konzept der Wurzelrassen sollte später unter anderen Rudolf Steiner, Gründer der Anthroposophie, weiterführen.

Während Rudolf Steiner die Lehren Blavatskys in der Anthroposophie wei­terentwickelte und Anhänger und Kri­tiker von Blavatsky und Steiner bis heute darüber streiten, ob das Konzept der Wurzel­rassen per se rassistisch sei, verband Jörg Lanz von Liebenfels Teile von Blavatskys Lehren mit antisemitischen und biologistisch-rassistischen Elementen im Stile Arthur de Gobineaus und begründete die Ariosophie.

All diese Bewegungen sind im deutschen Sprachraum leidlich bekannt und werden von Humanisten seit langem kritisiert. Weniger bekannt sind jedoch Person und Werk René Guénons, eines französischen Esoterikers, der in jungen Jahren in okkultistischen Kreisen verkehrte, um sich mit Anfang 30 gegen jede Form des Okkultismus und insbesondere gegen die Theosophie Blavatskys, die er eine Pseudoreligion nannte, auszusprechen.

Guénon entwickelte nun seinerseits eine Philosophie, die er Traditio­nalismus nannte, die ähnlich Blavatskys Werk dezidiert anti-modern ausgelegt und auf der Suche nach ewigen Wahrheiten war. Diese glaubte Guénon, vergleichbar Blavatsky, in den religiösen Traditionen des nahen und fernen Ostens zu finden. Er konvertierte zum Sufi-Islam, nannte sich in der Folge Abdel Wahid Yahia und verlegte ab 1930 seinen Lebensmittelpunkt nach Kairo.

Was all diese Esoteriker eint, ist eine dezidiert anti-moderne Haltung, welche die Moderne als eine Krisen­erzählung versteht, und ein Irratio­nalismus, der die kalte Welt der Logik und Vernunft ablehnt und auf der Suche nach ewigen Wahrheiten ist. Dass Guénon seinen Traditionalismus in Abkehr von Blavatsky entwickelte, hindert heutige Persönlichkeiten wie Steve Bannon, ehemaliger Berater Donald Trumps, nicht daran, ein Fan von sowohl Blavatsky als auch Guénon zu sein. Überhaupt sind diese esoterischen Werke in rechtsradikalen bis rechtsextremen Kreisen auch heute noch beliebt.

Martin Sellner, ehemaliger Kopf, der rechtsextremen Identitären Bewegung Österreichs, zitiert Guénons Die Krise der modernen Welt, Alexander Dugin, ein neofaschistischer Politiker und Publizist, dem gute Beziehungen zu Wladimir Putin nachgesagt werden, bezieht sich positiv auf Guénons Werk, und Björn Höcke lobte in einem Gespräch mit Götz Kubitschek die Werke Rudolf Steiners.2

Dies ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass der italienische Philosoph Julius Evola, sich Guénons Traditionalismus anschloss und ihn politisch erweiterte. Evola, der sich 1951 als „superfascista“ bezeichnete, stand dem Faschismus Mussolinis nahe, verkehrte in seiner Berliner Zeit in SS Kreisen und beeinflusste auch nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich neofaschistische Bestrebungen in Italien und weltweit. Sein 1934 erschienenes Werk Revolte gegen die moderne Welt, in dem er einem anti-demokratischen Illiberalismus das Wort redet, kann als italienisches Gegenstück zu Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes verstanden werden.

Über Guénon und Evola ergibt sich dann auch eine sowohl inhaltliche wie auch personelle Kontinuität aus der zunächst unpolitischen anti-modernen esoterischen und okkulten Szene der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und der sogenannten Konservativen Revolution der Weimarer Republik.

Anmerkungen

1 Es ist natürlich purer Zufall, entbehrt jedoch nicht einer gewissen Komik, dass Die Geheimlehre im Jahr 1888 veröffentlicht wurde und die modernen Zahlencodes 18 = AH für „Adolf Hitler“ und 88 = HH für „Heil Hitler“ der rechtsextremen Szene „bedient“.
2 „Am Rande der Gesellschaft“ Folge 36 im Kanal Schnellroda, auf YouTube zu finden