Die Konservative Revolution
Der in ersten Teil bereits erwähnte Julius Evola, war nicht nur Traditionalist im Sinne Guénons, der die Menschheit im Kali Yuga, dem „Zeitalter des Streits“, einer Zeit des Niedergangs vor einem folgenden neuen goldenen Zeitalter wähnte, er stand auch in Korrespondenz mit Autoren der sogenannten Konservativen Revolution, zu der auch der bereits zuvor erwähnte Oswald Spengler gehörte.
Dabei ist schon der Begriff ein Versuch, anti-demokratisches und anti-republikanisches Denken aus der Weimarer Zeit nach der Katastrophe des Nationalsozialismus heute wieder anschlussfähig zu machen (in diesem Fall durch Armin Mohler). Die Konservative Revolution ist ein Sammelbegriff für eine sehr heterogene Gruppe von politischen Strömungen und Publizisten der Weimarer Republik, die wenig eint, außer ihrer Ablehnung der Moderne und der parlamentarischen Demokratie sowie der Tatsache, dass ihre Akteure in der Regel keine aktiven Nationalsozialisten waren und den Nationalsozialismus zum Teil sogar ablehnten. Dabei gelten sie gemeinhin als Wegbereiter desselben, weil auch sie sich gegen die Weimarer Ordnung positionierten. Sie stellen aber eine eigene, vom Nationalsozialismus abzugrenzende, Spielart eines deutschen Faschismus dar.
Oswald Spengler sah das Abendland im Untergang begriffen, woran er der Moderne und ihrer materialistischen Einstellung die Schuld gab. Den politischen Liberalismus sah er als „englisch“ und die Demokratie als „französisch“ an und er war der Meinung, dass beide nicht zum deutschen Volk passen würden. Im Gegenteil sah er einen „preußischen Instinkt“, nach dem jeder seinen Platz erhält und in dem „befohlen und gehorcht“ wird.1
Ein weiterer Vertreter der Konservativen Revolution, Edgar Julius Jung, sah in der Demokratie die „Herrschaft der Minderwertigen“, so der Titel seines 1927 erschienenen Buches. Darin übte er eine radikale Kritik an repräsentativer Demokratie und Parlamentarismus und redete einer aristokratischen Herrschaftsform das Wort. Das Anrecht auf Herrschaft, so Jung, sei nicht auf Leistung oder Anstrengung zurückzuführen, sondern begründe sich alleine im überlegenen Sein des Adels.
Carl Schmitt, der wohl bedeutendste deutsche Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts, ist wahrscheinlich am bekanntesten für seinen Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“ von 1934, publiziert in der Deutschen Juristen-Zeitung. In diesem Aufsatz und anderen Schriften wird Schmitts Ablehnung der Institutionen der Weimarer Republik ebenso sichtbar wie die Bewunderung autoritärer Staatsformen. Dies hinderte Schmitt jedoch nicht daran, auch nach 1945 Einfluss auf die bundesdeutsche Debatte zu nehmen.
Als letzten Autor, welcher der Konservativen Revolution zugeordnet wird, soll Ernst Jünger genannt werden, der als Bestseller Autor seiner Zeit das Soldatische verkörperte. Jünger las Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, freundete sich später mit Carl Schmitt an und engagierte sich gegen die Weimarer Republik. Er sprach sich gegen die Demokratie aus und forderte eine Militarisierung aller Lebensbereiche. Gegen die Werte von Humanismus und Zivilgesellschaft setzte er auf Härte, Disziplin und Ordnung.
Gemein war all diesen Autoren eine Abscheu gegen die Moderne und ihren Liberalismus sowie die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik und ein reaktionärer Blick auf die Gesellschaft, in der es natürliche Herrschaftsverhältnisse geben sollte, auch im Verhältnis zwischen Mann und Frau.
Auch an diese Vorstellungen knüpfte Evolas Traditionalismus an, der sich eine „spirituelle Elite“ wünschte, die parlamentarische Demokratie ablehnte und die Frau als dem Mann untergeordnet sah.
Alle die vorgenannten Autoren waren mit ihren Ideen daran beteiligt, die Moderne als eine Krisenerzählung zu etablieren und mit ihren Dekadenzerzählungen die Weimarer Republik sturmreif zu schießen. Sie etablierten eine Sicht auf die westlichen Gesellschaften, in denen diese als verweichlicht und im Untergang begriffen dargestellt wurden.
Die islamische Welt nach dem Ersten Weltkrieg
Während konservative Kräfte in Deutschland die Niederlage von 1918 zu verdauen hatten, gab es im türkisch-arabischen Raum ein ähnliches politisches Erdbeben als Folge des Ersten Weltkriegs. Das Osmanische Reich zerfiel endgültig als Ordnungsmacht des Nahen Ostens und stürzte die islamische Welt in eine Krise.
Als Reaktion auf die Ausrufung der Türkei 1923 durch Mustafa Kemal Pascha und vor allem die Abschaffung des Kalifats 1924 wurde Hassan al-Banna inspiriert, 1928 die Muslimbruderschaft zu gründen, die es sich zum Ziel setzte, islamische Moralvorstellungen zu verbreiten, indem sie wohltätige Aktionen und soziale Einrichtungen unterstützte. Sehr schnell wurde aber auch die Befreiung Ägyptens von britischer Herrschaft und westlicher „Dekadenz“ zu einem der Ziele der Organisation.
Bereits 1923 war al-Banna zum ersten Mal nach Kairo gefahren, wo er, so berichtet er es in seinen Memoiren, sich über die allgemeine Liberalität und dekadente Zügellosigkeit der ägyptischen Hauptstadt empörte, welche er britischen Einflüssen geschuldet sah. Besonders störten ihn die Aktivitäten der Theosophischen Gesellschaft, in deren Wirken er – ironischerweise – einen modernistischen Angriff auf die wahren islamischen Werte sah. Al-Banna schlug damit einen ähnlichen Weg ein, wie vor ihm Guénon, welcher sich von der Theosophischen Gesellschaft ebenfalls wegen deren angeblichem modernistischen Einschlag und unter Berufung auf die wahre Tradition distanziert hatte.
Al-Banna übernahm die Erzählung von der Dekadenz moderner westlicher Gesellschaften und kontrastierte sie mit einem Islam, der alle Bereiche des Lebens ordnen sollte, ein Konzept, dass der Intellektuelle und Muslimbruder Sayyid Qutb nach al-Bannas Tod weiterführen sollte. Speziell während eines Aufenthalts in Greeley, Colorado, in den USA Ende der 1940er Jahre verfestigte sich Qutbs Ansicht der westlichen Welt als egoistisch, materialistisch und sexualisiert, was sich insbesondere auch in seinem Bild der westlichen Frauen äußerte. Zurück in Kairo, sah er es als seine Aufgabe an, seine muslimischen Mitbrüder vor dem Einfluss der Moderne und der westlichen Dekadenz zu warnen. Dass die Demokratie als westliche Herrschaftsform einen Teil dieser westlichen Dekadenz darstellt, mag wenig überraschen.
Die Unterlegenheit der Staaten des Nahen Ostens seiner Zeit sah er darin begründet, dass der Westen zwar dekadent und verweichlicht sei, die islamische Welt jedoch nicht besser dastünde, da sie dem Verfall des Westens folgend in eine Zeit der Jahiliyyah, eine Zeit vor der Offenbarung des Islam, zurückgefallen sei. Aus dieser gelte es sich nun durch den Jihad zu befreien. Ob dieser Jihad bei Qutb auch explizit militant zu verstehen sei, darüber streiten sich die Gelehrten bis heute.
Explizit militant gewendet wurde der Jihad in den Kreisen anti-westlicher und anti-moderner Islamisten in der Tradition al-Bannas und Qutbs spätestens 1981 mit einem Pamphlet mit Titel Die vernachlässigte Pflicht, wobei diese Pflicht den gewaltsamen Jihad meint. Das Pamphlet wurde von Abdul Salam Faraj verfasst, der zu den Kreisen der Attentäter auf den ägyptischen Präsidenten Sadat gehörte. In ihm greift Faraj das Konzept der Jahiliyyah wieder auf und argumentiert, dass, obwohl die Mehrheit der Ägypter Muslime seien, das Land als solches doch als „unislamisch“ zu gelten habe, da weder Regierung noch Bevölkerungsmehrheit sich an Farajs strikte Auslegung des muslimischen Glaubens halten würden. Diesen Zustand zu berichtigen, auch mit Waffengewalt, sei die Pflicht eines jeden Muslims.
Kämpften Faraj und seine Mitstreiter noch in der islamischen Welt gegen westliche und modernistische Einflüsse, den sogenannten „nahen Feind“, so wendeten Ayman al-Zawahiri, die Nummer Zwei der Terrorgruppe al-Qaida hinter Osama bin Laden, und deren strategischer Kopf, sowie Abu Musab al-Zarqawi die Gewalt Anfang der 2000er Jahre direkt gegen die westliche Welt, den sogenannten „fernen Feind“.
Mit den Anschlägen vom 9. September 2001, dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo 2015, dem Bombenanschlag auf das Ariana Grande-Konzert 2017 oder dem vereitelten Anschlag auf das Taylor Swift-Konzert in Wien 2024 setzen deren Nachfolger nun die erklärten Strategien bis heute in die Tat um.
Anmerkung
1 Spengler, Oswald: Preußentum und Sozialismus; Holzinger 2016, S. 16