Was die Soziale Rangfolge angeht, gab es eine sehr deutliche, rigide Hackordnung, die auch für mich als sozial aufmerksamer Jugendliche glasklar war. Hoch oben standen mein Vater (als Landarzt) und der Schulleiter. Beide stammten samt Ehefrauen von außerhalb. Sie wurden respektiert.
Wohlstand war für viele nicht das wichtigste Ziel im Leben. Die meisten Familien versuchten, ihr Leben ohne große Veränderungen zu führen, waren also auch in diesem Sinne „konservativ“. Eine Händlerfamilie, die offen stark nach Geldgewinn strebte, wurde dafür verhöhnt. Außer unserer Familie und der des Schulleiters gab es in unserem Dorf nur Bauern und kleine Einzelhändler. In den 1950er Jahren musste dann die Hälfte der Bauern ihren Hof an die andere Hälfte verkaufen, weil die Rahmenbedingungen der Landwirtschaft sich stark geändert hatten.
Es gab einige Cliquen, die versuchten, die anderen im Dorf zu dominieren, manchmal auch andere auszugrenzen. Und es war eine Selbstverständlichkeit, dass Frauen nur für sehr begrenzte Aufgaben geeignet waren Zum Beispiel hätte man nie erlaubt, dass eine Frau einen Schulbus fahren dürfte.
Dieses Frauenbild war auch in der Kindererziehung erkennbar: Wir Knaben waren freilaufende Spitzbuben (wie sie von Mark Twain in seinem Buch Huckleberry Finn beschreiben wurden). Es mangelte an Regeln und an Aufsicht. Diese lockere Aufsicht führte später dazu, dass sich eine Gruppe von Jugendlichen mit antisozialen Einstellungen bildete. Die Mädchen dagegen blieben zu Hause, konnten sich aber in der Schule sozial sehr gut durchsetzen.
Alles, was mit Kultur zu tun hatte, wurde fast nie thematisiert. Das Wort „Kultur“ wurde selten benutzt und wenn, dann oft mit einem angeblich europäischen Akzent, um zu betonen, dass der Begriff fremd und verwerflich sei. In einem Vortrag eines Experten von außerhalb wurde unsere Region einmal als „kulturelle Wüste“ gekennzeichnet. Und damit lag er wohl richtig. Nur die Musiklehrerin im Dorf und ich interessierten uns für klassische Musik – sonst niemand. Mein einziger Zugang dazu war, dass ich abends einen in der Stadt New York angesiedelten Sender empfangen konnte. Nur so konnte ich diese Musik hören.
Was die Bildung anging, sah es nicht wesentlich anders aus: Es fehlte im Allgemeinen die Neugier für die Wissenschaft und auch für andere Völker. Diesen Mangel halte ich bis heute für verhängnisvoll. Die Ausrottung der Indianer durch die weißen Europäer wurde praktisch nie thematisiert; zumal die letzten Schlachten gegen die Indianer damals schon knapp 70 Jahre zurück lagen. Als unsere Klasse die High School absolviert hatte, gab es zum Abschluss eine Veranstaltung. Dabei wurden Reden gehalten, und einer der Redner empfahl uns, hinaus zu gehen und die Welt zu erleben. Sobald er seine Rede beendet und den Raum verlassen hatte, brach unter den Erwachsenen ein Sturm der Entrüstung los: Wie konnte der Mann nur so eine Empfehlung aussprechen? Das zeigte den sehr eng begrenzten Horizont der damaligen Dorfgemeinschaft.
Religion gab es nur eine, vertreten durch zwei protestantische Kirchen. Katholiken wurden toleriert, zumal sie für die Schule unersetzbar waren. Juden waren fremd. Ich erlebte es nie, dass in einer der „dezenten“ Familien im Dorf Zweifel an der christlichen Lehre geäußert wurden. So etwas zu tun, wäre eine große Schande gewesen. Es gab aber auch einige Familien, die wenig oder kein Interesse an Religion zeigten. Angesichts dessen wird es nicht überraschen, dass Sex als Übel betrachtet wurde (deswegen waren wir Jungs davon fasziniert). Dass Sex eine Quelle schuldloser Freude sein könnte, war völlig undenkbar.
Der Umgang mit Tieren war zynisch. Fast jede Familie besaß Jagdgewehre, wir hatten deren fünf, und es war Teil des Lebens jeden jungen Manns an Jagden teilunehmen. Mittlerweile schäme ich mich, dass ich das getan habe.
Heute wohne wieder in einem kleinen Dorf – in Sachsen, wo meine Frau und ich in einer sehr herzerwärmenden Weise von den einheimischen Menschen akzeptiert worden sind. Es gibt regelmäßige Treffen der Bewohner, und viele nehmen daran teil. In meinem Dorf in den USA dagegen wurde der Zusammenhalt hauptsächlich durch die zwei verschiedenen protestantischen Kirchen und die Feuerwehr hergestellt.
Ich erinnere mich an nur drei Versammlungen, zu denen die Menschen der ganzen Gegend zusammenkamen: Die Feier beim Sieg über Japan. Ein Treffen, auf dem das Dorf entschied, die Verschmelzung unserer Schule mit denen anderer Dörfer nicht zu billigen. Und eine Feier, auf der meinem Vater für seine Dienste als Landarzt gedankt wurde. Trotzdem kümmerten wir uns umeinander und halfen einander. Die zynische Missachtung der Würde, des Humanitären, wie man sie jetzt bei den Republikanern in den USA sieht, habe ich praktisch nie erlebt.
Ich bin inmitten dieser sehr konservativen Menschen, die selten über den Tellerrand hinausblickten, aufgewachsen, sie waren mein soziales Umfeld, und sie haben es mir möglich gemacht, mich mit den Menschen verschiedener Schichten gut zu verständigen. In einer Weise bleibt ein Gefühl von Zugehörigkeit mit ihnen. Aber zugleich fehlt mir das Gefühl, sie wirklich verstanden zu haben.