MIZ: Sie beobachten im Diskurs über die Freiheit der Kunst eine Veränderung. Könnten Sie diese kurz beschreiben?
Wolfgang Ullrich: Mir scheint, generell ist bei diesem Diskurs seit einigen Jahren viel in Bewegung geraten. Eine Veränderung, die mir auffällt, besteht darin, dass sich heute sehr viele Leute, bei weitem nicht nur Künstler*innen im engeren Sinne, auf die Kunstfreiheit berufen wollen. Das gilt für Politaktivist*innen, aber sogar zum Teil für Demonstrant*innen. Das zeigt einerseits, dass traditionelle Grenzen nicht mehr scharf sind: Wer auf die Straße geht, sich dafür eigens kleidet, Transparente malt, Social Media-Accounts bespielt, tut ja tatsächlich nichts grundsätzlich anderes als manche Performance-Künstler*innen. Warum sollte man da also mit zweierlei Maß messen?
Andererseits zeigt sich in der inflationären Berufung auf Kunstfreiheit aber leider auch eine Erosion im Verständnis des Rechtsstaats. Denn die meisten tun das, weil sie glauben, dass die Kunstfreiheit ‘irgendwie’ weiterreichend sei als die Meinungsfreiheit, sie also Vorteile davon hätten, wenn sie sich als Künstler*innen ausgeben. Den elementaren Grundsatz der Rechtsgleichheit ignorieren sie also, tun vielmehr so, als seien Künstler*innen Bürger*innen erster Klasse.
MIZ: Wie lassen sich denn Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit sinnvollerweise voneinander abgrenzen?
Wolfgang Ullrich: Vermutlich kann man den Unterschied nur verstehen, wenn man anerkennt, dass in der Idee der Kunstfreiheit noch ein sehr idealistischer, in gewisser Weise altmodischer Begriff von Kunst präsent ist. Getragen ist er von der Überzeugung, dass ein Kunstwerk keinen externen Interessen und Kriterien folgt, sondern autonom ist, also eigenen Gesetzen und Kriterien folgt. Damit aber ist es immer auch schon über den Austausch oder Streit der Meinungen erhaben. Vielmehr gelten Kunstwerke als etwas, das über tagesaktuell bestimmte und modifizierte Ansichten hinausgeht und auf Dauer, gar auf Ewigkeit angelegt ist. Deshalb sollen sie auch nicht bloß nach Maßstäben der Gegenwart und erst recht nicht nach ihnen fremden Kriterien, also etwa nach dem jeweiligen Moralempfinden, beurteilt werden.
Als Werke sind sie zudem etwas anderes als eine Interaktion zwischen zwei Menschen; sie haben idealerweise keine bestimmten Adressat*innen, beziehen ihre Glaubwürdigkeit vielmehr daraus, dass in ihnen auf keine partikulären Interessen Rücksicht genommen wird. Dass die Kunstfreiheit – wie die Wissenschaftsfreiheit – als eigenes Recht formuliert ist, ist somit als Appell und Mahnung an Bürger*innen wie Gerichte zu verstehen, sich vor Banausie zu hüten und die Sonderform der Kunst zu berücksichtigen. Man soll versuchen, im Umgang mit Kunstwerken (oder wissenschaftlichen Theorien) den begrenzten eigenen Standpunkt zu transzendieren – ohne Künstler*innen (und Wissenschaftler*innen) deshalb jedoch gegenüber anderen zu privilegieren.
MIZ: Aber gerade Kunstwerke, die vor Gericht landeten, vertraten und kritisierten doch explizit auch eine politische Meinung. Ich denke an George Grosz, Klaus Mann...
Wolfgang Ullrich: Klar, das ist damit ja nicht ausgeschlossen. Ein Kunstwerk kann sehr wohl Meinungen kritisieren, selbstverständlich auch Meinungen stark machen – aber es soll eben nicht darauf reduziert werden, eine Meinung zu sein. Vielmehr soll anerkannt werden, dass etwas, das zu einer bestimmten Zeit oder für bestimmte Milieus als Zumutung erscheint, so dass Rufe nach einem Verbot laut werden, vielleicht dazu geeignet ist, einen Meinungswandel einzuleiten. Würde man es nach den Maßstäben der Zeit seiner Entstehung bewerten und tatsächlich verbieten, würde man einen solchen Meinungswandel von vornherein ausschließen. Idealistisch ist die Idee der Kunstfreiheit also auch insofern, als dahinter die Überzeugung steht, dass Kunst ein wesentlicher Faktor ist, um eine bessere Gesellschaft, eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
MIZ: Wenn wir die Debatten ansehen, die im 20. Jahrhundert um Kunstfreiheit geführt wurden, war die Konfliktlinie klar: Konservative wollten der Kunst Grenzen setzen, Linke und Liberale verteidigten die Autonomie der Kunst und Künstler*innen. Heute reklamiert die Rechte den Begriff der Kunstfreiheit für sich. Was ist da passiert?
Wolfgang Ullrich: Viele Leute aus linken und emanzipatorischen Milieus, aber auch viele Vertreter*innen von Minderheiten sind heute nicht mehr so sicher, ob eine autonome Kunst, also eine Kunst, die möglichst unabhängig von anderen gesellschaftlichen Standards entsteht, die besten gesellschaftspolitischen Wirkungen zeitigt. Vielmehr besteht die Sorge, eine solche Kunst könnte auch zu unsensibel sein, gerade sie könnte zu viele blinde Flecke haben und damit gesellschaftliche Benachteiligungen eher fortsetzen als zu überwinden helfen.
Es gab etliche interessante Debatten in den letzten Jahren – etwa über die Darstellung von Schwarzen durch weiße Künstler*innen, die maßgebliche Diskriminierungserfahrungen nicht ge macht haben. Oder es geht um Sexismus, gar um gesellschaftlich geächtete Formen von Sexualität wie Pädophilie: Sollte es wirklich unter Kunstfreiheit fallen, das darzustellen? Ist es in Ordnung, sich da auf einen zeitlosen Standpunkt zu stellen – und zu sagen, nur weil es heute nicht akzeptiert wird, sollten wir es als Sujet der Kunst dennoch zulassen, da es ja vielleicht eine künftige Gesellschaft geben wird, in der man das anders sieht? Eben das wird von vielen Linken und auch manchen Liberalen mittlerweile klar verneint, man sieht Künstler*innen nicht mehr unbedingt als Avantgarde, also als Vorreiter*innen einer besseren Welt. Manchmal kommt es daher sogar zur Forderung, bestimmte Werke abzuhängen und nicht mehr öffentlich zu zeigen. Das aber erinnert schnell an Zensurmaßnahmen – und das nützen Rechte für sich aus, um sich nun zu Hüter*innen des Rechtsstaats zu erklären, begünstigt sicher dadurch, dass oft auch sie und das, was sie machen, in das Visier von Linken und Liberalen geraten, die Rassismus oder Sexismus generell nicht in der Kunst dulden wollen.
MIZ: Nun geben in den Theorien der europäischen Rechten nach meiner Wahrnehmung Staat und kollektiv geschlossen verstandene Gemeinschaft den Ton an, das Individuum spielt eher eine völlig untergeordnete Rolle. Wie findet denn die Kunstfreiheit in den Konstrukten Volksgemeinschaft oder christliches Abendland ihren Platz? Welche Rolle kann die Kulturpolitik in diesem Koordinatensystem einnehmen? Welche Rolle haben die Rezipient*innen, die Betrachter*innen von Kunst?
Wolfgang Ullrich: Mir scheint, dass es ein gewaltiger Trugschluss wäre, nun zu glauben, die Kunstfreiheit könnte bei den Rechten besser aufgehoben sein als anderswo. Ganz im Gegenteil. Sie mögen jetzt Fälle, in denen sie die Kritik für überzogen halten, skandalisieren, doch wären sie an den Positionen, an denen entschieden wird, gäbe es schlagartig ungleich mehr Kunst, die auf einmal als problematisch kritisiert würde. Man darf nie unterschätzen, wie empfindlich und wie ängstlich gegenüber möglichen Veränderungen gerade Rechte sind. Sonst hätten sie ja kein Problem mit Pluralismus oder Genderfluidität, würden sich nicht nach geschlossenen Grenzen, monokulturellen Gesellschaften und klaren Hierarchien sehnen. All das müsste dann aber auch die Kunst zum Ausdruck bringen – und soweit sie es nicht täte, würde sie verboten. Mit dem lange üblichen Begriff von Kunst und Kunstfreiheit, auch mit der Idee, dass Kunst die Gesellschaft verändern kann und soll, hätte das nichts mehr zu tun.
MIZ: Sie sind Kunsthistoriker und Kunstkritiker. Ihr ZEIT-Artikel „Auf dunkler Scholle“ Mitte 2019 ist direkt von Künstler Neo Rauch kritisiert worden. Was darf Kunst, und was dürfen Kunstkritiker*innen? Und haben Sie Ihre Meinung nach der Causa Neo Rauch geändert?
Wolfgang Ullrich: Der Streit zwischen Neo Rauch und mir ist exemplarisch für die Veränderungen im Verständnis von Kunst, über die wir gerade sprechen. Indem man heute den lange Zeit sehr idealistischen Begriff von Kunst abrüstet und dem autonomen Kunstwerk nicht mehr pauschal einen sakrosankten, übergeordneten Status einräumt, kann es auch nicht länger alles überstrahlen, was Künstler*innen sagen und tun. Lange galt der Grundsatz, man könne und solle zwischen Werk und Person trennen, es also vernachlässigen, wenn jemand sich als Person auf eine Weise verhält, die man missbilligt. Die Größe und Bedeutung des Werks würde das gleichsam heilen, ja das Werk sei absolut wichtig, jede andere Handlung, jede Ansicht hingegen höchstens relativ wichtig. Das sieht man heute nicht mehr so, ich habe also etwa Interview-Aussagen von Rauch ganz ernst genommen und ihn politisch als rechtsstehend verortet. Das hat ihn wütend gemacht, denn offenbar ist er noch der Ansicht, man dürfe geniale Künstler wie ihn nicht für das, was sie sagen, kritisieren, müsse sich der Größe ihres Werks beugen. Er fühlt sich von Kritiker*innen wie mir überwacht und eingeschränkt, empfindet jemanden wie mich als Repräsentanten eines Systems, das alles der ‘political correctness’ unterwerfen will – und damit auf dem besten Weg ist, eine neue Diktatur, aus seiner Sicht eine DDR 2.0 zu etablieren. Das ist ein zurzeit beliebter Vorwurf vieler Rechter – und damit zeigt sich, dass das Thema der Kunstfreiheit Teil einer viel größeren Debatte ist.
Paradoxerweise habe ich aber in dem Artikel, der ihn so provoziert hat, selbst gerade davor gewarnt, zu kritisch mit der bisherigen Idee der Autonomie umzugehen. So frage ich mich, was wohl passiert, wenn man ganz darauf verzichten würde, Kunst als etwas relativ Eigenständiges und als einen Ort zu bewahren, an dem unabhängig von jeweils herrschenden Vorstellungen mit anderen Weltbildern und Phantasien experimentiert und Reales fiktional überhöht werden kann – ein Ort, an dem grundsätzlich alles möglich ist. Ich glaube, dann würden Antizipationsfähigkeiten verkümmern, die wichtig sind, um sich eine bessere Zukunft auszumalen und um für unerwartete Veränderungen gewappnet zu sein. Nicht romantisch-idealistisch, sondern ganz pragmatisch-utilitaristisch würde ich daher dafür plädieren, die Kunst als eine Institution zu pflegen, in der Differenzen und Alternativen zum jeweiligen kulturellen ‘Status quo’ zugelassen sind – selbst wenn dabei Gesellschaftsformen und Menschenbilder entwickelt werden, die nach heutigen Standards als unmoralisch gelten.
MIZ: Vielen Dank für das Interview.