Was eigentlich heißt „gottgläubig“? „Gottgläubig“ bedeute, so der Duden, lediglich „ohne Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft an Gott glaubend“. Doch ganz so einfach ist es nicht. Laut Philosophischem Wörterbuch von 1943, herausgegeben vom langjährigen Monisten und Haeckel-Schüler Heinrich Schmidt, meint Gottgläubigkeit, „sich zu einer artgemäßen Frömmigkeit oder Sittlichkeit [zu bekennen], ohne konfessionell-kirchlich gebunden zu sein, andererseits aber Religions- und Gottlosigkeit [zu verwerfen]“. Damit ist „Gottgläubigkeit“ in die nationalsozialistische Weltanschauung eingeordnet, denn über das rassistische Wörtchen „artgemäß“ blieb sie „Ariern“ vorbehalten. Gleichzeitig befanden sich über die „Verwerfung“ der „Religions- und Glaubenslosigkeit“ Atheist*innen außen vor. Das alles beinhaltet eine Definition durch den damaligen Chef der Sicherheitspolizei, Gruppenführer Reinhard Heydrich. Der talentierte Nachwuchsnazi, 1942 vom tschechischen Widerstand zur Strecke gebracht, hatte „Gottgläubigkeit“ am 15. Dezember 1936 pragmatisch als „kirchenfreie deutsche Religiosität“ bestimmt.
„Gottgläubigkeit“ ist also als religiöses und gleichzeitig nationalsozialistisches Bekenntnis ein Begriff aus der Lingua Tertii Imperii (Victor Klemperer). Das Wort tauchte erstmals 1907 auf, nachdem der Freidenker Jakob Stern im Vorwärts-Verlag Berlin ein 30-seitiges Büchlein unter dem Titel Gott? Gottglaube oder Atheismus? veröffentlicht hatte. 1919 im Zusammenhang mit Religionsfreiheit in der Weimarer Verfassung erstmals amtlich genannt, wurde „Gottgläubigkeit“ formell durch Erlass des Reichsinnenministeriums vom 26. November 1936 auf den Melde- und Personalbögen der Einwohnermeldeämter sowie den Personalpapieren eingeführt. Auf viele Nazis übte sie eine starke Faszination aus, erlaubte sie doch politisch korrekte Religiosität über die Lehren der beiden Großkirchen hinaus. Von Adolf Eichmann etwa, dem Cheflogistiker des Holocausts, sind als letzte Worte vor seiner Hinrichtung überliefert: „Gottgläubig war ich im Leben. Gottgläubig sterbe ich.“ Ähnliche Äußerungen wurden nach 1945 auch von anderen aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg überliefert.
Anfänglich funktionierte das „amorphe Konzept einer allgemeinen Gottgläubigkeit“ (Horst Junginger) recht gut. Auch Freigeister im weitesten Sinne konnten sich darin wiederfinden. Politisch wichtig war in NS-Zeiten aber auch, dass sich damit der „arische“ Nichtchrist eindeutig von der ihm vielleicht unterstellten „Glaubenslosigkeit“ zu distanzieren vermochte. Denn Atheismus hätte der vermeintlich durch sein „Blut“ angeborenen deutschen Frömmigkeit widersprochen und sei überhaupt lediglich bösartige Irreführung durch „jüdisch“ bzw. marxistisch verhetzte Elemente. Er hingegen hatte über sein Bekenntnis zur „Gottgläubigkeit“ gar nichts zu tun mit von Glaubenslosigkeit befallenen Dissidenten, die zur Abschreckung bereits ab 1932 für anormal erklärt und ab 1933 in Konzentrationslager eingewiesen worden waren. Fernab vom Freidenkertum konnte er unbehelligt zusehen, wie man die Ungläubigen abholte und im Lager „durch Arbeit“ umzuerziehen versuchte und, falls das nicht funktionierte, skrupellos liquidierte. Als „Gottgläubiger“ bewies er durch praktisches Verhalten, dass er gewillt war, sich seiner Integration in die „Volksgemeinschaft“ nicht zu widersetzen.
„Freiheit in der Religion“ oder „Freiheit von Religion“?
Aus religionsgeschichtlicher Sicht war „Gottgläubigkeit“ ein Zwischenschritt im Prozess der Loslösung von dogmatischer Religion und Zwischenergebnis im Prozess der generellen Säkularisierung seit 2000 Jahren. Der Katholizismus des Abendlandes war in vielen Schritten und von diversen Akteuren aus seinem Korsett befreit worden, beginnend mit häretischen Strömungen des 12. Jahrhunderts über Renaissance und Reformation bis hin zu Aufklärung und Kirchen- bzw. Religionskritik.
„Gottgläubige“ Strömungen unterlagen wie alle Glaubenssysteme ständig einer komplizierten Dialektik des gesellschaftspolitischen Vorwärts oder Rückwärts. Im 18. und 19. Jahrhundert kam es in diesem grundsätzlich emanzipatorischen Prozess vielfach zu folgender denkerischer Weichenstellung: Soll man frei sein in der Religion oder darüber hinaus gleich frei werden von Religion? Anders ausgedrückt: Sollte der Befreiung von der Kirche im nächsten Schritt auch die Freiheit von religiösen Glaubensideen an sich folgen? Und wenn dies bejaht wird: Darf dieser Prozess bis in offenen Atheismus vorangetrieben werden? Die meisten deutschen „Dichter und Denker“ von Wieland und Leibniz, Goethe und Schiller bis hin zu Lessing und Hölderlin wagten sich nur vorsichtig aus ihrer Deckung, anders als viele ihrer Kollegen in England oder Frankreich. Sie standen zwar den Dogmen des verfassten Christentums oft kritisch gegenüber, outeten sich aber nur selten als Atheisten wie später beispielsweise Ludwig Feuerbach. Vielmehr suchten sie im Regelfall in einem „deistischen“ Sonderweg „Gott“ in der sie umgebenden Natur. Sie entwickelten eine alles in allem „pantheistische“ Religiosität des Wahren, Guten und Schönen. Andere blieben im Grunde Christen, suchten aber, mehr noch als traditionell Evangelische, den einen direkteren Zugang zu ihrem Gott ohne einen Supervisor als Mittler. Nach außen taten sie allerdings alle gemäß einer Maxime von Immanuel Kant so als ob: Auch wenn sie selbst in ihrer persönlichen Geistesfreiheit signifikant vorangekommen waren, schien es ihnen richtig, öffentlich ihr striktes Festhalten am Christentum zu beteuern. Nur so sei der Staat funktionsfähig bzw. das einfache Volk ordnungspolitisch bei der Stange zu halten. Frei zu denken sollte das Vorrecht von Adeligen und Gebildeten bleiben.
Die Variante „Freiheit in der Religion“ fand sich insofern zwar in spürbarer Distanz zur Amtskirche, bald aber auch in einer Reihe mit unangepassten, aber rückschrittlichen Kräften. In diesem Sinne „freie Geister“ wie Ernst Moritz Arndt, Joseph Freiherr von Eichendorff, Paul de Lagarde, Richard Wagner, Eduard von Hartmann oder auch Friedrich Nietzsche, die alle auf ihrem Recht auf individuelle Religiosität bestanden, schufen de facto „parachristliche Religiosität“ (Hubert Cancik). Unter derartigen „Gottgläubigen“, die diesen Begriff selbst allerdings noch nicht kannten, wurden ihre dichtenden Frontleute schon mal als „deutsche Künder starken Lebens“ bzw. als Prediger einer „gottlosen Frömmigkeit“ (so der Titel eines 1946 vom Hamburger Pastor Horst Schuelke veröffentlichten Buches über Nietzsche) verstanden und geschätzt.
Glauben um des Glaubens willen
Zum deistischen Sonderweg im deutschen Kulturraum gehörte, dass die vagabundierende, unbestimmt schweifende Frömmigkeit sich immer wieder – irgendwie, irgendwann und irgendwo – im konventionell Religiösen verfing, aus ihrem selbsterdachten denkerischen Labyrinth nicht mehr herausfand und am Ende der antimodernistischen Reaktion verfiel. Die betont unscharfe, den Getreuen viel Spielraum lassende „freie Religion“ ermöglichte auch überdrehten Exo- und Esoterikern, völkischen Rassisten und dumpfen Antisemiten ihren Zugang. In solchen Kreisen wurde nun der Begriff der „Gottgläubigkeit“ als Glauben um des Glaubens willen funktionalisiert. Ziel war die Beerbung, nicht die Überwindung des christlichen Staates. Aus der vormaligen „Nation“ wurde das religiös aufgeladene „Volk“. Garniert mit weiteren Attributen aus der Welt des Legenden und Mythen erreichte „Gottgläubigkeit“ zunehmend ihren Höhepunkt innerhalb der Deutschtümelei. Georg Groh aus Schweinfurt etwa veröffentlichte ab 1928 eine Geschichte der germanischen Gottgläubigkeit. Der Herausgeber der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps, Gunter d’Alquen, forderte „nordische Gottgebundenheit“ statt „artfremder, orientalischer“ Religion inklusive ihrem Dogma der Gleichheit aller Gläubigen. Über die Thule-Gesellschaft und die Bündische Jugendbewegung schaffte die „Gottgläubigkeit“ dann ihren Durchbruch auch bei der Deutschen Arbeiterpartei bzw. nach deren Umbenennung in der NSDAP.
Die Kategorie „Gottgläubigkeit“ entstammt insofern der völkischen Theo- riebildung. Ihre Einbindung in den Nationalsozialismus dürfte laut Ulrich Nanko am Ende ein politisches Zugeständnis Adolf Hitlers an Ludendorff und seine Anhänger im Zuge ihrer Wiederannäherung 1936 gewesen sein. Man sollte dabei dennoch von einer gewissen Reserviertheit des „Führers“ ausgehen, denn grundsätzlich lehnte Hitler „innere Religionsstreitigkeiten“ als für die NSDAP schädlich ab. In Mein Kampf hatte er betont, die Aufgabe der NSDAP liege nicht in einer „religiösen Reformation“, sondern in der „politischen Reorganisation unseres Volkes“.
Welche konkreten Überlegungen also hinter der amtlichen Einführung der „Gottgläubigkeit“ steckten, muss insofern noch näher untersucht werden. Allerdings kann die anschließende Entwicklung so verstanden werden, dass mit der Einführung einer „dritten Konfession“ christentumskritische Teile der NSDAP einen Versuchsballon starteten. Ihnen wäre es um die Frage gegangen, ob eine religiöse Identifikationsformel jenseits der beiden Großkirchen bereits massentauglich genug sei. Es wäre ausprobiert worden, ob das wegen seines jüdischen Ursprungs bevorzugt denunzierte „Alte Testament“ ohne Verluste und bei gleichzeitiger Beibehaltung der genehmen christlichen Elemente aus der künftigen neuen Staatsreligion abgelöst werden könne. Im Begriff der „Gottgläubigkeit“ kulminiert insofern ihr Versuch, eine angeblich der „deutschen Wesensart“ entsprechende zeitgemäße Religion zu verankern, die mit den zentralen Grundwerten der NS-Ideologie optimal korrespondiert. „Gläubigkeit“ an sich war der mehr und mehr hervortretende Kern dieser neuen vom Nationalsozialismus gewünschten Religiosität. Sie entsprach einem vor allem aktionistischen Nationalsozialismus, der, so Wilhelm Frick 1933, das alles Entscheidende nicht in programmatischer Doktrin, sondern im „Willen“ und der „Kraft zur Tat“ sah.
Vertagung des Projekts „Gottgläubigkeit“
Nach einigen Jahren hatte die Einführung der „Gottgläubigkeit“ allerdings nicht zum von den Nazis erwünschten Ergebnis geführt. „Gottgläubige“ blieben über die Jahre im Reich eine überschaubare Minderheit mit geringer politischer Bedeutung. Das lag auch an ihren Protagonisten: Sie verstrickten sich untereinander in kaum nachvollziehbare Scharmützel, ganz so, wie Hitler das von Anfang an befürchtet hatte. In ihren Reihen traten viele Häuptlinge auf, aber wenige Indianer. Bis 1939 waren selbst in Hochburgen wie Berlin lediglich knapp über zehn Prozent der Bevölkerung formal „gottgläubig“ geworden. Im „Großdeutschen Reich“ waren es sogar nur 3,5% bzw. 2,7 Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von 79,3 Millionen.
Auffallend ist, wie Adolf Hitler, der ebenso wie Joseph Goebbels nie aus der Kirche ausgetreten ist, um einen Burgfrieden mit den Christen buhlte. Dennoch gibt es, was den „Kirchenkampf“ betrifft, kein einheitliches Bild. Nach deutlichen Zugeständnissen an Katholiken und Protestanten (Reichskonkordat und Staatsverträge) outeten andererseits erklärte Christentumsgegner wie Alfred Rosenberg, Julius Streicher oder Martin Bormann in oft abstoßend-primitiver Weise verbotene Homosexualität unter Priestern, sexuellen Missbrauch von Kindern oder auch kirchliche Devisenvergehen. Andererseits aber wurden entsprechend antiklerikale Aktivitäten zunehmend von oben her schon im Ansatz unterbunden. Nicht nur christliche Nazis (über zwei Drittel der NSDAP-Mitglieder waren auch Kirchenmitglieder) sorgten sich um die Loyalität von mehr als 95% der Bevölkerung, die noch wie ein Fels zu ihrer Kirche standen. Alles in allem respektierte die NSDAP die große Schnittmenge zwischen 75 Millionen Kirchenmitgliedern einerseits und neun Millionen NSDAP-Mitgliedern bis 1945 andererseits. Denn aus Naziperspektive war es am Wichtigsten, den Krieg zu gewinnen. Insofern wurde das – offensichtlich doch nur eine Minderheit bewegende – Problem der neuen religiösen Identitätsbildung in die Zukunft vertagt, den gottgläubigen Aktivisten andererseits aber der Abenteuerspielplatz in ihrer famosen Welt unter 3,5% nicht verwehrt. Vielleicht käme ja doch noch etwas „Gleichwertiges“ (so Hitler in Mein Kampf) heraus.