Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/14 | Geschrieben von Volker Müller

Positiver Atheismus als Lebensstil

75 Jahre Atheist Centre in Indien

Im Jahr 1940 wurde das Atheist Centre in Vijayawada, im süd­indischen Unionsstaat Andhra Pradesh, von dem Philosophen, Weggefährten Gandhis und Sozialreformer Gora (1902-1975) und seiner Frau Saraswathi Gora (1912-2006) gegründet. Seitdem hat diese weltweit erste atheistische Einrichtung des säkularen Humanismus eine beeindruckende Entwicklung vollzogen: Ein nachhaltiges Engagement für Toleranz, Frieden und Freiheit und gegen das Kastensystem, intensive Aufklärung zu Aberglauben und religiöser Dogmatik, viele Bildungsprojekte in Philosophie, Naturwissenschaften und praktischen Lebensfragen wie Sexual­aufklärung und Gesundheitsfürsorge und eine umfangreiche säku­lare Sozialarbeit für Familien, Frauen, Kinder und Jugendliche kennzeichnen das Wirken des Atheist Centre.

Gerade in den letzten Jahren wurden das Atheist Centre und einige seiner Persönlichkeiten hoch geehrt und gesellschaftlich anerkannt. Auch über Indien hinaus ist das Atheist Centre gut bekannt, das auch Mitglied der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union (IHEU) ist.

Im Januar konnte ich mit einer kleinen Delegation des Humanistischen Freidenkerbundes Havelland e.V. anlässlich des 75. Bestehens des Atheist Centre an seiner zweitägigen Internationalen Konferenz in Vijayawada teilnehmen. Einige hundert Atheisten, Humanisten, Rationalisten und Freidenker aus ganz Indien waren mit ausländischen Vertreterinnen und Vertretern (vor allem aus Norwegen, Frankreich, den USA, den Niederlanden und Deutschland) in anregenden Debatten um die theoretischen und praktischen Grundlagen eines religions- und kastenkritischen säkularen Humanismus, um ein humanitäres Wirken, um Bildungs- und Sozialarbeit und vieles mehr. Besondere Redner waren Dr. P.M. Bhargava, ehemaliger Vizevorsitzender der Nationalen Bildungskommission Indiens, Levi Fragell, früherer IHEU-Präsident, Roar Johnsen, IHEU-Vizepräsident, Kristin Mile, Generalsekretärin der Norwegischen Humanisten, Dr. K. Veeramani, Präsident der Rationalisten Dravidar Kazhagam in Tamil Nadu, und viele andere. Ich selbst konnte einen Vortrag über „Secular Humanism as a way of life and the ethical progress” halten.1

Mit dem Atheist Centre verbinden mich seit zwanzig Jahren freundschaftliche Kontakte. Inzwischen war ich dort zwölfmal zu Gast und habe viele Freunde gewonnen und sehr interessante und engagierte Menschen kennenlernen können. Seit 1996 gestalten wir als Humanistischer Freidenkerbund Havelland mit dem Atheist Centre einen Deutsch-Indischen Humanistischen Jugendaustausch, durch den freidenkende junge Leute aus Brandenburg und aus Indien ein aktives weltoffenes Miteinander erleben, die soziale und kulturelle Lebenssituation im jeweils anderen Land kennenlernen und neue Freunde finden. Im August 2014 wird uns wieder eine indische Jugendgruppe aus dem Atheist Centre im Havelland besuchen kommen, mit der wir vielfältige Jugendbildungs- und Freizeitprojekte gestalten werden.

Die Gründer des Atheist Centre und ihre Nachfolger vertreten einen positiven Atheismus und eine humanistische Ethik, in der der Mensch in toleranter und freier Weise im Mittelpunkt steht: „Atheist Centre stands for promoting critical thinking, scientific temper, secular outlook, spirit of inquiry and reform. It promotes atheism and humanism as a life-stance (way of life).“ Der positive Atheismus als Lebensstil bewirkt eine optimistische, auf das Leben gerichtete Haltung und die Einsicht, dass nur der Mensch selbst und keine übernatürlichen Kräfte und Götter die Lebenssituationen der Menschen gestalten und verändern können. Das Lebensmotto Jai Insaan in der Sprache Telugu (Victory to the humans) richtet sich gegen alle Schranken, Tabus und Vorurteile, die Kasten, Götterglauben, Aberglauben, soziale Ungleichheit und Unfreiheiten begründen. Zugleich wird stets deutlich, dass weltweit alle Menschen von Geburt an frei und gleich sind und ihre Unterschiede eine soziale und kulturelle Bereicherung darstellen. Das Eintreten für Freies Denken, Humanität, Toleranz und soziales Handeln macht uns das Atheist Centre zu einer engen humanistischen Partnerorganisation.

Das Atheist Centre ist vor allem in der Bildung und Aufklärung, in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Frauenbewegung, in der humanitären Sozialarbeit, in der Gesundheitsfürsorge, Sexualaufklärung und medizinischen Arbeit und in der Katastrophen- und Naturschutzhilfe erfolgreich tätig. Mit den drei Sozialwerken Arthik Samata Mandal, Vasavya Mahila Mandali, Samskar, mit Schulen und Bildungsprojekten, mit dem Hospital in Vijayawada und mit dem Gora Science Centre hat das Atheist Centre ausgewiesen kompetente Organisationen, die diese Arbeitsbereiche tragen und gestalten. In über 1000 Dörfern und Orten ist das Atheist Centre tätig.

Im November 2012 hat das Atheist Centre eine internationale Forschungseinrichtung in Vijayawada gegründet, das Gora & Saraswathi Gora International Atheist Research Centre (GSGIARC). Sie widmet sich der Erforschung des Humanismus, Atheismus, Rationalismus, Skeptizismus und verwandter weltanschaulicher Lebenseinstellungen und Theorien sowie dem kritischen Denken, der Ethik, der wissenschaftlichen Aufklärung, dem Frieden und der Gewaltfreiheit und der säkularen Sozialarbeit. Dabei ist die internationale Dimension von vornherein mit angelegt. Gleichzeitig werden Studierende in verschiedenen Kursformen ausgebildet. Zum Direktorat gehören Prof. Dr. P.M. Bhargava, Dr. Vijayam, Dr. Samaram, Mrs. Mythri, Mr. Lavanam und weitere Wissenschaftler. Mitglieder des International Advisory Committee sind neben meiner Person Levi Fragell (Norwegen), Sonja Eggerickx (Belgien), Roy Brown (Schweiz) und Roar Johnsen (Norwegen) aus der IHEU, Jim Herrick (Großbritannien), Thomas Flynn (USA), Bill Cooke (Neuseeland), S. Hariharan (Trinidad and Tobago) und René Hartmann (Deutschland). Ich selbst habe einen jungen deutschen Wissenschaftler während meines Aufenthalts im Januar in Vijayawada kennengelernt, der in Utrecht zum Atheismus und Rationalismus in Indien promoviert.

Man kann dem GSGIARC im Be­sonderen und dem Atheist Centre im Ganzen nur wünschen, dass sie weiterhin viel Erfolg haben, ihre enorme vielfältige Arbeit fortsetzen und unsere internationale säkular-humanistische Bewegung weiter inspirieren.

Anmerkung

1 Siehe Atheist. Heft März 2014. Vijayawada, S. 10-15.