Ein Urteil zugunsten einer kopftuchtragenden Lehrerin wurde rechtskräftig, als das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde des Berliner Senats dagegen im Januar 2023 nicht zur Entscheidung annahm. Demnach reicht es nicht aus, dass der Schulfrieden abstrakt gestört sein könnte. Die Störung müsse konkret nachgewiesen werden, um eine Einschränkung der Religionsfreiheit zu begründen. Seitdem darf Lehrerinnen mit Kopftuch die Einstellung nicht mehr mit Hinweis auf das Neutralitätsgesetz verweigert werden.
Während der Senat sich veranlasst sah, eine gerichtsfeste Anpassung zu erarbeiten, beantragten die Parteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die wesentlichen Paragraphen aus dem Gesetz zu streichen, nämlich diejenigen, die den Lehrkräften das Tragen religiöser Symbole und Kleidungsstücke verbieten. Für Beamte in Justiz und Polizei sollte die Beschränkung weiterhin gelten. Beide Anträge wurden abgelehnt, da sie dem Regierungsauftrag vorgriffen.2
Das Neutralitätsgesetz blieb, wie es war, bis im April 2025 die Grünen einen weiteren Angriff starteten. Nun wollten sie sich nicht mehr mit dem Löschen zweier Paragraphen aus dem Neutralitätsgesetz begnügen – sie wollten es ganz beseitigen, auch für Justiz und Polizei. Das würde bedeuten, auch Polizistinnen und Richterinnen mit Kopftuch zulassen. In den Medien wurde das Thema ausführlich behandelt. Die Linke schloss sich im Juli der Forderung an.
In ihrem Antrag vom 1. April 2025 berufen sich die Grünen auf die Kritik durch die „Expert*innenkommission“3 von 2022, laut der das Gesetz institutionellen und strukturellen „antimuslimischen Rassismus“ manifestiere. Besonders betroffen seien kopftuchtragende Frauen, denen der Zugang zum öffentlichen Dienst erschwert oder unmöglich gemacht werde. Nach Meinung der Grünen ist das Gesetz diskriminierend, wendet pauschale Verbote an, widerspricht einer liberalen und vielfältigen Gesellschaft und hat damit negative Auswirkungen auf die Qualität des Schulwesens, unserer Behörden und Einrichtungen, und nicht zuletzt verstärkt es den Arbeits- und Fachkräftemangel.“4
Die Linke argumentiert, das Gesetz wirke als „Zugangsbarriere für kopftuchtragende Frauen, insbesondere Musliminnen, zum öffentlichen Dienst“ und führe trotz fachlicher Eignung zu Ausschlüssen von Berufsmöglichkeiten. Die Vermutung, eine Lehrerin mit Kopftuch könnte indoktrinieren, weisen sie als „diskriminierenden Generalverdacht“ zurück. Sie beschwören die „Selbstbestimmung der Frau, weswegen weder der Zwang zur religiösen Bekleidung noch der Zwang, das Kopftuch abzulegen, akzeptabel sind“.5
CDU und SPD wollen das Gesetz gerichtsfest machen, indem sie es auf die konkrete Störung des Schulfriedens beschränken. Religiöse Kleidung und Symbole sollen nur dann verboten werden können, „wenn aufgrund objektiv nachweisbarer und nachvollziehbarer Tatsachen eine hinreichend konkrete Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der Neutralität des Staates belegbar ist. ... Ob an einer öffentlichen Schule ... das Tragen der dort genannten Symbole oder Kleidungsstücke zu unterlassen ist, entscheidet die Schulaufsichtsbehörde nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit aufgrund einer Einzelfallprüfung.“6
Darüber wurde am 10. Juli 2025 im Plenum des Abgeordnetenhauses debattiert. Erwartbar unzufrieden mit dem Antrag sind Grüne und Linke. Sie wollen ja keine Änderung des Gesetzes, sondern seine Abschaffung.
Für die Grünen trat Tuba Bozkurt im Plenum auf. „Das diskriminierende Verbot religiöser Kleidung bleibt mit dieser Reform bestehen – es soll jetzt nur besser verkleidet werden“, kritisiert sie und nimmt gleich den ganzen Staat ins Visier: „Ein Staat, der religiöse Sichtbarkeit als Risiko betrachtet, verliert die Glaubwürdigkeit, sich demokratisch zu nennen“.7
Die Linken-Abgeordnete Elif Eralp bezeichnete den „Claim staatliche Neu
tralität“ als „Kulturkampf von rechts“ und unterstellt ein falsches Verständnis von Neutralität. In einer Einwanderungsgesellschaft soll Neutralität die Vielfalt auch im öffentlichen Dienst abbilden. Einer Frau zu unterstellen, dass sie indoktriniert, „allein auf Grund der Tatsache, dass sie ein Kopftuch trägt, ist rassistisch und diskriminierend“. Die Entscheidung für eine Einzelfallprüfung sorgt nach Eralps Meinung für Unfrieden an den Schulen.8 Eralp wie Bozkurt sprachen sich für ein Ende des Neutralitätsgesetzes aus.
Für die AfD zieht Thorsten Weiß ausführlich über die „importierte Gewaltkultur“ her, nennt Migration die Mutter aller Probleme und fordert umfassende Remigration, um die innere Sicherheit wiederherzustellen. Die Neufassung des Neutralitätsgesetzes betrachtet er als „tiefgreifenden Einschnitt in das Verständnis staatlicher Zurückhaltung gegenüber religiösen Bekenntnissen“.9 Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Hetze stellt sich das als allgemeine Attacke gegen „den Islam“ dar, nicht als Beitrag zum friedlicheren Zusammenleben.
Wie sieht die Praxis aus? Die Spandauer Schuldirektorin Jehniche hat seit 2023 zwei Lehrerinnen mit Kopftuch eingestellt und sprach über ihre Erfahrungen mit ihnen. Eine lobte die Kinder für die Teilnahme am Ramadan. Außerdem haben Eltern sie gebeten, Gespräche zwischen Jungen und Mädchen zu unterbinden. Beide Male musste die Direktorin dieser Lehrerin erläutern, dass das so nicht geht.10
Im Interview mit der Tagesschau erklärte die Schuldirektorin, sie finde nicht, dass diese beiden Lehrerinnen missionieren. In ihrer Schule haben 90% der Schüler einen Migrationshintergrund. Einen Lehrer mit Kippa würde sie allerdings nicht einstellen, weil er durch die muslimischen Schüler gefährdet sein könnte.11
In einer Anhörung zum Thema Schulfrieden verwies der Sachverständige Dr. Wolfgang Bock auf einen „innerislamischen Kulturkampf“ in einer großen Anzahl von Schulen.12 Der Druck auf Mädchen, die kein Kopftuch tragen wollen, würde durch eine kopftuchtragende Lehrerin erhöht. Mädchen könnten dann nicht mehr entsprechend lernen und wollten im Extremfall die Schule verlassen. „Eine schlichte Aufhebung der Regelungen des Neutralitätsgesetzes zum Kopftuch würde die muslimischen Schülerinnen und deren Grundrechte mindestens ebenso stark verletzen, wie ein pauschales Kopftuchverbot im Einzelfall eine Lehrerin verletzen könnte.“
Durch die Anpassung des Gesetzes wird die Entscheidung, ob der Schulfrieden gestört ist, an die Schulaufsichtsbehörde delegiert. Wo sonst soll der Einzelfall behandelt werden? Wenn man sich allerdings das Beispiel Carl-Bolle-Schule in Berlin-Moabit vor Augen hält, ist von dieser Seite wenig Biss zu erwarten. Muslimische Schüler haben dort einen Lehrer bis zum Burnout gemobbt, weil er seine Homosexualität offenbart hat, und ihm entgegengeschmettert: „Der Islam ist hier der Chef“. Die Schulaufsichtsbehörde ist trotz mehrfacher Aufforderungen nicht eingeschritten.
Sämtliche Anträge zum Neutralitätsgesetz – ob Anpassung oder Streichung – wurden an die Ausschüsse verwiesen. Die werden erst ab September tagen.
Linke und Grüne argumentieren vor allem mit Diskriminierung, Religionsfreiheit, Berufsverbot, Fachkräftemangel und Vielfalt. Sie vertreten die Position einiger weniger fundamental-muslimischer Lehrerinnen und sehen weder die Wirkung des islamischen Kopftuchs auf die Umgebung noch die allgemeine Situation, in der intrareligiöse Konflikte in der Schule ausgetragen werden. Die Position ist seit Jahren stabil.
SPD und CDU treten für das Neutralitätsgesetz ein. Die Koalition hat in allen Ausschüssen eine deutliche Mehrheit gegenüber Linken und Grünen. Wenn
sie nicht einknickt, gibt es gute Chancen, dass das Neutralitätsgesetz in angepasster Form zunächst erhalten bleibt. Sollte sich nach der nächsten Wahl das Parteienverhältnis ändern, sind die Aussichten nicht rosig.
Der Landesverband Berlin-Brandenburg des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) und die Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg (ehbb) haben ihre Position zum Neutralitätsgesetz in einem Offenen Brief dargelegt und diesen an die Fraktionen von SPD, CDU, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus verschickt.
Der Wortlaut ist nachzulesen bei https://ibka.org, https://no-reli.de/berliner-neutralitaetsgesetz-unter-druck/ oder auf hpd.de
Anmerkungen
1 Gesetz zur Schaffung eines Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin und zur Änderung des Kindertagesbetreuungsgesetzes, 27. Januar 2005; https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/15/gvbl/g05040092.pdf.
2 Plenarsitzung im AGH Berlin, 27. Februar 2025; https://www.parlament-berlin.de/ados/19/IIIPlen/protokoll/plen19-062-pp.pdf.
3 Handlungsempfehlungen der Expert*innenkommission antimuslimischer Rassismus Berlin; https://www.berlin.de/sen/lads/lads-antimusl-handlungs-202208-pa-barrierefrei.pdf.
4 Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Gesetz zur Aufhebung des Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin, 2.4.2025; https://www.parlament-berlin.de/ados/19/IIIPlen//vorgang/d19-2359.pdf.
5 Antrag der Fraktion Die Linke: Gesetz zur Aufhebung des Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin, 02.07.25; https://www.parlament-berlin.de/ados/19/IIIPlen//vorgang/d19-2554.pdf.
6 Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der SPD: Gesetz zur Reform des Berliner Polizei- und Ordnungsrechts und zur Änderung des Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin, 2.7.2025, S. 101.
7 Aufzeichnung der Plenarsitzung vom 10.7.2025 im AGH Berlin, ab Minute 28:20, https://www.youtube.com/watch?v=stSWcBZs4Ks&list=PL54557A6C6DE09B44&index=1; Protokoll der Plenarsitzung vom 10.7.25 im AGH Berlin, S. 15 (6883).
8 Aufzeichnung der Plenarsitzung vom 10.7.2025 im AGH Berlin, ab Minute 50:50 bzw. ab S. 19 (6887).
9 Aufzeichnung der Plenarsitzung vom 10.7.2025 im AGH Berlin, ab Minute 53:46 bzw. ab S. 20 (6888).
10 Anhörung im Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie 12.12.2024, S. 12; https://www.parlament-berlin.de/ados/19/BildJugFam/protokoll/bjf19-047-wp.pdf.
11 Tagesschau vom 10.7.2025; https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/rbb-berliner-neutralitaetsgesetz-die-kopftuch-gesetzesluecke-100.html.
12 Anhörung im Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie 12.12.2024, S. 6; https://www.parlament-berlin.de/ados/19/BildJugFam/protokoll/bjf19-047-wp.pdf.