Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 1/25 | Geschrieben von Gerhard Lein

Religionsunterricht „für alle“?

In Hamburg geht es um eine Alternative zum Monopolfach 
für die Klassen 1 bis 6

Der Stadtstaat Hamburg behauptet, in seinem Religionsunterricht „für alle“ (RUfa) ein besonderes Angebot zu machen, das es in der Bundesrepublik sonst nirgendwo gibt: Alle Religions­gemein­schaften mit dem derzeitigem Recht, in Hamburg Religions­unter­richt zu erteilen (nach GG Art. 7 [3] und Hamburger Schulgesetz), haben sich zusammengeschlossen. Die Evangelische Kirche, die Katholische Kirche, die Jüdische Gemeinde, Muslime und Aleviten haben mit dem Staat ein entsprechendes Abkommen geschlossen. Die in vielen Bundesländern (noch) übliche Trennung der Schü­ler*innen nach Konfessionen (in Hessen sind’s 12!) gibt es in Hamburg nicht. Nicht übereinander reden, sondern miteinander soll die unterrichtliche Devise sein.

Ausbildung des Lehrpersonals

Auch das Lehrpersonal, ausschließlich mit erstem und zweitem Staatsexamen (wobei Religion auch als zertifizierte Fortbildung beim Landesinstitut als Fakultas anerkannt wird), steht in diesem Unterricht gemeinsam vor der Klasse. Alle müssen die Beauftragung „ihrer“ Religionsgemeinschaft vorweisen und in ihren jeweiligen Personal­akten hinterlegen: „Vocatio“ die evangelischen, „Missio Canonica“ die katholischen, „Idschasa“ die muslimischen, „Risalik“ die alevitischen, „Ischur“ die jüdischen – so heißen die jeweiligen „Erlaubnisscheine“.

Allerdings zeigte sich da gleich bei der Einführung des Religionsunterrichts „für alle“ ein großes Problem: Was machen mit den sehr vielen evangelischen Religionslehrer*innen, die ihre Kirche längst verlassen haben und deshalb keine Vokationsbescheinigung kriegen? Schlau wie sie ist, hat die evangelische Nordkirche entschieden: Diese Bescheinigung muss bei denjenigen Lehrerinnen nicht vorgelegt werden, die bereits vor Ankündigung dieses neuen Modells (2018) Religionsunterricht erteilten. Sonst wäre nach Erkenntnis der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) der Unterricht zusammengebrochen. Denn in Hamburg ist die Mehrheit der Stadtbevölkerung – und sicherlich auch der Lehrerschaft – längst konfessionsfrei.

Verfassungskonformität

Ob dieser bekenntnisübergreifende Un­terricht verfassungskonform ist, kann als fraglich gelten. Etliche Gutachten – selbst solche, die im Kirchenauftrag erstellt wurden – lassen da Zweifel aufkommen. Denn am 1.2.1987 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, Religionsunterricht sei „keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- und Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheit zu vermitteln, ist seine Aufgabe.“ (BVerfGE 74, 244 [252]) Wie das in einem solchen synkretistischen Unterricht geschehen soll, bleibt ein Geheimnis.

Abmeldung bei Religionsmündigkeit

Nun werden wir als Atheist*innen und MIZ-Leser*innen fragen, was denn diejenigen machen, welche ihr Grundrecht auf Nichtteilnahme am Religionsunterricht wahrnehmen. Ganz einfach: Schüler*innen melden sich ab, wenn sie über 14 Jahre alt und damit religionsmündig sind. Dies wurde Praxis bereits in den 1980er Jahren. Der Staat reagierte dann übrigens fix, füllte die neu erworbenen zwei freien Stunden der selbstbewussten Schüler*innen mit der Pflichtalternative „Werte und Normen“, später und bis heute dann Philosophie. Statistische Daten dazu werden nicht erhoben, nach Einschätzung von Fachleuten aus den Schulen ziehen eher mehr als 50 % der Schüler*innen das Fach Philosophie vor – obwohl es im Abitur als schwerer gilt.

Der eigentliche Skandal der Hamburger Situation liegt allerdings nicht in den Klassen 7 bis 12/13, sondern in der Grundschule (Klasse 1 bis 4) und den Klassen 5/6 der weiterführenden Schulen. Denn dort bietet Hamburg keine Alternative zu besagtem Religionsunterricht „für alle“ (auch gerne RUfa genannt) an. Eltern, die ihr Kind nicht in diesen Unterricht schicken wollen, dürfen es gerne in einer Nachbarklasse, in der Pausenhalle oder sonstwo „parken“ – die Beaufsichtigungspflicht des pädagogischen Personals der Schule bleibt ja bestehen. Mit dieser Politik suggeriert die Landesregierung faktisch, dass der RUfa Pflichtunterricht sei. Dabei nutzt sie die Uninformiertheit der Eltern über die Rechtslage aus und gibt den Schulleitungen die Möglichkeit, sich lästiger Fragen von Eltern zu erwehren.

Fragwürdige Darstellung des RUfa in Elterninformationen

In der offiziellen Grundschulbroschüre der Stadt, die alle Eltern vor der Einschulung ihrer Kinder erhalten können, wird der RUfa im Übrigen auf Seite 22 in wenigen Zeilen erwähnt als gemeinschaftliches Erlebnis:

Religionsunterricht. Wo war ich, als ich noch nicht geboren war? Kann ich Gott sehen? Warum liegt Jesus in einer Krippe? Wieso tragen manche Frauen Kopftücher? Sind alle Menschen gleich?

Kinder haben viele Fragen ans Leben. Kinder sind neugierig. Kinder sehen und erleben, dass Menschen in Hamburg verschiedene religiöse und kulturelle Wurzeln haben. Im Hamburger Religionsunterricht können Kinder Antworten auf diese und andere Fragen finden. Sie lernen, eigene Traditionen und deren Wertvorstellungen zu verstehen und anderen offen zu begegnen. Sie lesen Geschichten und Gedichte, sehen Bilder, hören und singen Lieder und begegnen so dem Reichtum der Religionen. Sie machen sich auf den Weg herauszufinden, was in ihrem Leben wichtig ist und gelten soll. Wenn Ihre Kinder Sie dann zu Hause fragen: „Und was glaubst du? Was ist dir eigentlich wichtig?“, können spannende Gespräche entstehen – für Kinder und Eltern.

Regelungen zum Religionsunterricht finden sich in § 7, Absätze 1 und 3 des Hamburgischen Schulgesetzes und im Rahmenplan des Fachs.1

Wer sich die Mühe macht, auf der Home­page der Schulbehörde in der Rubrik Grundschul-Glossar tiefer ins Thema einzudringen, erhält zwar mehr Informationen, aber kein Ster­bens­wörtchen über das Recht der Eltern auf Abwählbarkeit des Reli­gionsunterrichts.2 Dort ist unter anderem zu lesen:

Im konfessionsübergreifenden Religions­unterricht in Hamburg können Kinder diese und andere Fragen gemeinsam besprechen, Antworten kennenlernen und für sich hinterfragen. Die Schülerinnen und Schüler lernen so, eigene Traditionen und deren Wertvorstellungen zu verstehen und anderen offen zu begegnen. Im Religionsunterricht für alle werden die Themen aus der Perspektive mehrerer Religionen betrachtet, und auch nicht-religiöse und religionskritische Weltdeutungen gehören selbstverständlich dazu.

Während in anderen Bundesländern der Religionsunterricht nach Religionen und Konfessionen getrennt erteilt wird, lernen im Hamburger Religionsunterricht alle Kinder aller Glaubensrichtungen und auch Kinder, deren Familien keiner Religionsgemeinschaft angehören, gemeinsam. Die Schulbehörde spricht, wie es das Grundgesetz vorsieht, die Inhalte mit den großen Religionsgemeinschaften Hamburgs ab.

Die religiöse Vielfalt Hamburgs zeigt sich auch bei den Lehrkräften: Der Religionsunterricht wird von evangelischen, katholischen, muslimischen, jüdischen und alevitischen Lehrerinnen und Lehrern erteilt. Sie haben ein Lehr­amtsstudium und den Vor­be­rei­tungs­dienst erfolgreich absolviert und unterrichten wie alle anderen Lehrkräfte in der Regel mindestens ein weiteres Fach. …

Politische Nachfragen von Parlamen­tariern beantwortet der Senat mit dem Hinweis, dass weitergehende In­formationen an Eltern – z.B. zur Nicht-Teilnahme an diesem Fach – Aufgabe der Schule sei. Dazu seien „die Ein­schulung begleitenden schulischen Informationsveranstaltungen“, also beispielsweise Elternabende geeignet. So in der Senatsantwort zu einer Anfrage des Abgeordneten Lein 21/12800 aus dem Jahre 2018.3 Hamburg kommt also de facto seiner Informationspflicht zum Abmeldungsrecht nicht nach.

Abmeldungen werden gezieltes unterbunden

Dies nun führt zu folgender Situation, wie es zuweilen in GEW-Zirkeln berichtet wird: Falls Eltern auf Elternabenden entsprechend nachfragen, werden sie als Störenfriede stigmatisiert – es sei doch Unterricht „für alle“, und es wird zu einem Gespräch bei der Schulleitung gebeten, wo sie unter Druck gesetzt werden. In der Tat ist es für Schulen nicht einfach, Kinder außerhalb des Unterrichts angemessen zu betreuen, weil ein alternatives unterrichtliches Angebot nicht vorgehalten wird und demzufolge entsprechende Perso­nal­zuweisung fehlt. Und – so wird unter der Hand dann kolportiert – ob in den Schulen wirklich nach den sehr kom­plizierten RUfa Lehrplänen unter­rich­tet werde („wähle zwei von 6 angeboten Religionen zur Vertiefung aus“) oder stattdessen nicht eine gemeinsame Klassenlehrerstunde / Ex­kursionsvorbereitung / Geburts­tags­feier etc. stattfindet, bei der man selbstverständlich gerne alle Schüler*innen der Klasse dabei habe, wer wisse das schon. So zucken die allermeisten Eltern zurück. Und die Schulbehörde kann eine Legislaturperiode später erneut fragenden Abgeordneten antworten, dass Abmeldung vom RUfa „nicht erfasst“ würden. So in der Senatsantwort auf eine Anfrage der Abgeordneten Treuenfels-Frowein (damals noch FDP).4

Die entsprechende Aufstellung der KMK zum Religionsunterricht (Stand 15. Oktober 2024) weist dann auch für Hamburg nur Leerstellen auf – sowohl bei der RU-Teilnahme (in der Hansestadt gibt’s eben keinen evangelischen oder katholischen oder muslimischen RU) als auch bei Angaben zum Alternativunterricht.5

Es regt sich Widerstand

Seit Jahren wird in Hamburg über den RUfa diskutiert, auch strittig. Wobei die Aktiven und Engagierten in den Verbänden, Parteien und auch im Säkularen Forum Hamburg oft nur die Mittel- und Oberstufen der beiden weiterführenden Schulen und dort die synkretistischen Lehrpläne im Blick haben. Und wegen der scheinbaren Ruhe an den Grundschulen (keine öffentlichen Abmelde-Streitereien) sind Betroffene und politisch Engagierte auch nur schwer wachzurütteln.

Die Hamburger GEW hat nun beschlossen, eine öffentliche Internet-Petition zu organisieren, in der als Alternativunterricht „Philosophieren mit Kindern“ gefordert wird, wie es ihn etwa in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern seit langem gibt. Derzeit werden Gespräche mit potentiellen Unterstützern geführt. Ende April soll sie auf der Plattform open-Petition eingestellt werden.

Anmerkungen

1 https://www.hamburg.de/politik-und-verwaltung/behoerden/schulbehoerde/schulen/grundschule (Zugriff: 15.3.2025)
2 https://www.hamburg.de/politik-und-verwaltung/behoerden/schulbehoerde/schulen/glossar#section-11
3 https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/6211/21_12800_religionsunterricht_in_den_klassen_1_4_und_5_6
4 https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/83587/22_11699_abmeldung_vom_religionsunterricht_in_hamburg
5 https://www.kmk.org/suche.html?tx_kesearch_pi1%5Bpage%5D=19&tx_kesearch_pi1%5BsortByDir%5D=desc&tx_kesearch_pi1%5BsortByField%5D=score