Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 187 Seiten, gebunden, Euro 24,95, ISBN 978-3-518-58601-3
Thomas Nagel (*1937) ist einer der führenden Philosophen der USA, der an der renommierten New York University of Law lehrt. Besonders bekannt wurde er durch einen 1974 erschienenen Aufsatz mit dem Titel „What it is like to be a bat“ („Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein“), in dem er zeigte, dass wir, selbst wenn wir alles über Anatomie und Physiologie einer Fledermaus wüssten, dennoch nicht beurteilen könnten, wie sich das bewusste Erleben eines derartigen Wesens, das sich durch Echoortung orientiert, die uns Menschen fremd ist, anfühlt. Diese Frage wird auch als das Qualia-Problem bezeichnet, und Nagel gelang es mit diesem Aufsatz, die immer noch andauernde Debatte, in Gang zu setzen. Das vorliegende Buch ist Nagels Gesamtschau auf die seiner Meinung nach durch diese Problematik entstehenden Konsequenzen für das Weltbild der modernen Naturwissenschaften. Nagel lehnt sowohl den Materialismus als auch einen Schöpfungsglauben ab und sucht daher nach einem dritten Weg jenseits dieser beiden üblicherweise diskutierten Alternativen.
Das Buch ist neben Einführung und Schluss in vier Kapitel gegliedert. Nagel formuliert zunächst seine allgemeinen Einwände gegen den materialistischen Reduktionismus, der seiner Meinung nach das Weltbild der Naturwissenschaften bestimmt, und vertieft dann seine Kritik in drei separaten Kapiteln (‘Bewusstsein’ ‘Kognition’ und ‘Wert’) hinsichtlich je eines Phänomens.
Besonders provoziert hat natürlich der Untertitel, der die Grundlagen des naturwissenschaftlichen Weltbilds infrage stellt. Nagel bestreitet aber weder Ergebnisse noch die Methodik der Naturwissenschaften, sondern wendet sich nur gegen deren „materialistische neodarwinistische Konzeption“, verbunden mit dem Anspruch, alle Phänomene zumindest im Prinzip naturalistisch erklären zu können, die er vor allem in populärwissenschaftlichen Arbeiten findet. Nagel belegt seine These jedoch nicht durch Angabe konkreter Arbeiten. Kritisch ist anzumerken, dass Nagel viele Ansätze, beispielsweise Forschungen zur Selbstorganisation, nicht berücksichtigt.
Grundlage von Nagels Kritik ist letztlich das immer noch ungelöste Leib-Seele-Problem, daneben verwirft er Ansätze zur Erklärung der Entstehung von Bewusstsein, Kognition und objektiven Werten. Nagel geht davon aus, dass ein Weltbild, das diese Fragen nicht beantworten kann, falsch im Sinne von nicht vollständig sein muss. Nagel versucht zu zeigen, dass die genannten Phänomene prinzipiell nicht erklärbar sind, wenn von einer naturalistischen Evolution ausgegangen wird. Durch diese könne weder gezeigt werden, dass die genannten Phänomene zumindest grundsätzlich durch die angenomme nen Bestandteile der Welt entstehen könnten, noch deren konkrete Evolu tion. Die Selektionstheorie (‚Neo-Darwinismus‘) scheitere, weil zumindest die Vorstufen der genannten Phänomene keinen positiven Selektionswert aufweisen. Zudem würde die verfügbare Zeit nicht ausreichen, durch zufällige Mutationen und anschließende Selektion die komplexen Organismen hervorzubringen, die wir vorfinden. Dazu komme noch, dass die Frage, wie Leben überhaupt entstanden ist, alles andere denn als geklärt gilt.
Diese Kritik an den Naturwissenschaften überzeugt deshalb nicht, weil Nagel als Rationalist zusätzlich fordert, dass das Universum letztlich intelligibel sein muss und dass Erklärungen zeigen können müssen, dass der aktuell vorliegende Endzustand einer Entwicklung wahrscheinlicher ist als alle anderen Alternativen. Im Bereich der Naturwissenschaften hat man sich von dieser Art Erklärung aber längst verabschiedet, vor allem weil aufgrund der historischen Zufälligkeiten, die im Laufe einer Entwicklung Einfluss nehmen können, die Evolution eines Systems zwar nachträglich im Einklang mit den Naturgesetzen beschrieben, aber nicht vorhergesagt werden kann.
Letztlich muss immer wieder kon statiert werden, dass bestimmte Phänomene ‘einfach so’ vorliegen, ohne dass ein Grund dafür genannt werden kann. Aus dieser Sicht entstand Bewusstsein (und ebenso die anderen Phänomene, die Nagel anspricht), als sich im Lauf der Evolution hinreichend komplexe Gehirne entwickelt hatten. Es wäre aber auch möglich gewesen, dass die Gehirnvorgänge ohne Bewusstsein ablaufen.
Das größte Manko des Buchs besteht darin, dass Nagel diesen an sich durchaus interessanten Ansatz nicht näher ausführt. Seine Alternative ist nur skizzenhaft dargestellt und kann daher nicht ernsthaft geprüft werden oder gar ein neues Forschungsprogramm begründen. Deutlich wird lediglich, dass Nagel ohne einen Schöpfer auskommt, also eine ‚natürliche Teleologie‘ annimmt. Theistische Kritiker weisen zurecht darauf hin, dass derartige Überlegungen unter Annahme eines Schöpfers schon viel konkreter durchformuliert seien, und betonen, dass Nagel seinen atheistischen Standpunkt praktisch nicht begründet, sondern vor allem unter Hinweis auf eine persönliche Vorliebe vertritt.
Letztlich scheitert Nagel aber sogar an seinem eigenen Anspruch: Selbst wenn sein Ansatz, soweit er erkennbar ist, korrekt wäre, wäre er doch nicht intelligibler als die Lösungsansätze, welche die modernen Naturwissenschaften vorschlagen. Auch eine natürliche Teleologie wäre genauso ein ‘brute fact’ wie die Vorstellung, dass Bewusstsein eine Emergenz eines Gehirns einer bestimmten Komplexität ist.
Daher ist das Buch nicht mehr als ein, allerdings durchaus anregender, Denkanstoß, die materialistischen Grundlagen der modernen Naturwissenschaften zu überdenken. Zudem ist das Kapitel über Bewusstsein eine lesenswerte Darstellung der aktuellen Diskussion. Evolutionsgegner, die sich auf Nagel stützen möchten, sollten immer bedenken, dass dessen Position dezidiert atheistisch ist. Kritiker aus dem naturalistischen Lager hingegen sollten beachten, dass es sich bei diesem Buch keinesfalls um ein von Senilität geprägtes Alterswerk eines ehemals bedeutenden Philosophen handelt, sondern durchaus relevante Probleme anspricht.
Eine Langfassung der Besprechung von Thomas Waschke findet sich auf www.miz-online.de.