Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 2/24 | Geschrieben von Nicole Thies

Versuch macht klug …

So heißt es umgangssprachlich. Ob Alltagswissen oder Wissenschaft: die Neugierde, der Erkenntnisgewinn, und der Versuch, das Experiment, stehen am Anfang. Wer genervt einem Kleinkind zum x-ten Mal den Gegenstand aufhob, welcher offenkundig willentlich zu Boden fallengelassen wurde, kann sich nach der Ursache fragen. Nun wird aus den Kindern in den meisten Fällen kein Newton, aber sie erkennen wie sich Gegenstände regulär verhalten und erproben mit unterschiedlichen Massen und erlernen die Unregelmäßigkeiten – vom spritzenden Brei bis zur dumpf fallenden Rassel – ganz intuitiv und spielerisch im Alltag. Selbst wenn das Prinzip „trial and error“ maßgeblich durch ungehaltene und achtsame Eltern dem angemessenen Sozialverhalten gemäß kontrolliert gesteuert und sozialverträglicher gelenkt wird.

Mit dem Heranwachsen und dem Erwachsensein geht diese Intuition und dieser Wissensdrang weitgehend verloren. Ansichten und Haltungen verfestigen sich zu Überzeugungen, stabilisieren unsere sozialen Lebensweisen und unseren Umgang in Alltag und Beruf. Diese sind dann einschätzbar, sind verständliche Codes – machen uns sozialverträglich. Aber zurück zum Wissensdrang, wer kennt sie nicht die Aussagen: „Das ist mir jetzt zu hoch“, „Ach, Computer und diese vielen Apps sind nix für mich“ und „Die Digitalisierung bringt nichts Gutes“. Und diese Aussagen und die empfundene Überforderung stehen im krassen Widerspruch zur rasanten 
technischen Entwicklung. Die digitale Medien­revolution der letzten Jahr­zehnte – so sagt die Medien­wis­sen­schaft – hätte bereits im Jahr 2002 die Innovationskraft, die Beschleu­nigung der Kommunikation und die damit einhergehende gesellschaft­liche Veränderungen der gesamten Guten­berg’schen Neuerung des Buch­drucks mit beweglichen Lettern übertroffen. Zur Erinnerung:

  1. Die Medien­revolution Gutenbergs war ein Meilen­stein für den Wissenstransfer und die Verbreitung und Demokratisierung von Wissen und Wissenschaft, aber auch für die Verbreitung politischer Pro­pa­ganda.
  2. Apple präsentierte 2007 das Smartphone und derweil nutzen wir im Alltag bereits – bewusst oder unbewusst – künstliche Intelligenz. Wir tragen das enzyklopädische Wissen der Welt in unserer Hosentasche. Schnell sowie bequem erreichbares und verfügbares Wissen können wir jederzeit abrufen, wenn wir wollen ... oder es vermögen ...

Die Wissenschaft hat sich seit Jahrhunderten ausdifferenziert und immensen Fortschritt erreicht. Die Methoden sind so diffizil geworden, dass wir weit entfernt sind von einem allgemeinen Verständnis. Der oben beschriebenen Zugang allein über Alltagswissen und infantilen Erkenntnisgewinn reicht längst nicht, um der Komplexität Rechnung zu tragen. Wir benötigen weder göttliche Erklärungsmodelle noch esoterische Herleitungen, die ganz erfolgreich emotionale Befindlichkeiten ansprechen und zu befrieden wissen. Denn nachweislich sind es wissenschaftliche Errungenschaften, die zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beigetragen haben. Woher kommt also Wissenschaftsskepsis oder Wissen­schafts­feindlichkeit? Woher rührt diese Skepsis gegenüber Fortschritt und Wissenschaft? Liegt es daran, was Wissenschaft kann und diverse Wissenschaften im Einzelnen können? Überfordert dieses Wissen oder die Verfügbarkeit? Oder ist die Erwar­tungs­haltung, also die „Wahrheit“ und die „Unfehlbarkeit“ erlangen zu können, Ursache oder nur Erklärungs­muster der Kritik? Gibt es eine „Ent­zauberung“ der Wissenschaft? Oder nur Bildungsdefizite? Ist die „Ent­zau­be­rung“ des positivistischen Fort­schritts­glaubens eine ideologische Frage geworden, die den wissenschaftlichen Elfenbeinturm erreicht hat und im Gewande der (post-)dekonstruktivistischen Zweifel am Wahrheitsgehalt die Gesellschaft erfasst hat? Oder hat die digitale Beschleunigung der Kom­munikation Schuld an dem Befeuern von Bildungsdefiziten, dass Falsch­meldungen und Desinformation so eine Renaissance erleben? Braucht unsere Gesellschaft mehr Menschen wie James Randy, die sisyphosgleich arbeiten? Oder mehr Medienkompetenz?
Das sind Fragen, die wir uns in der Redaktion bei der Themensammlung zu diesem Feld stellten, gerade weil wir denken, dass der säkulare Blick und wissenschaftliche Zugänge zur Welt gesellschaftliche Missstände eher verbessern können als religiöser Glaube. Das Interview zum „Erfolgs­modell Wissenschaft“ zeigt, wie bestimmte Faktoren – sprich: Erwartungs­haltungen, Einstellungen und Medien­rezeption – den Blick auf Wissenschaft beeinflussen.

Der Nolan-Blockbuster Oppenheimer 
hat vor kurzem populär in der Person des „American Prometheus“ inszeniert, dass Gesellschaften für wissenschaftlichen Fortschritt bereit sein müssen und dass politische Entscheidungsträger_innen sich ihrer immensen Verantwortung oft gar nicht bewusst sind oder übergeordneten Interessen den Vorzug geben oder karrieristischen und sogar persönlichen Motiven und Konkurrenzgebaren erliegen. Nicht zuletzt seit Heinar Kipphardts Schauspiel In der Sache J. Robert Oppenheimer von 1964 kann man sich fragen, ob die Errungenschaften der Atomkernspaltung Sternstunden der Wissenschaft waren; oder ob die Menschheit und deren Entscheidungs­träger_innen sich der Dialektik des Fortschritts oder der Aufklärung bewusst sind. Dass überkommene Hal­tungen und reaktionäre Überzeu­gun­gen sich besonders hartnäckig in manifesten Strukturen offenbaren und hal­ten – wie Institutionen mit auto­ri­tä­ren Hierarchien, beispielsweise bezogen auf Berufsstände und auf den Polit­betrieb –, verdeutlichen die Bei­trä­ge zu Uri Geller, evidenzbasierter Medizin und Homöopathie in diesem Heft.

Gute Analysen und plausible Erklärungen der Wissenschaft vermögen zwar nicht immer und alle Menschen zu überzeugen. Dennoch sollten diese Beispiele im Heft, die einen faden Nachgeschmack hinterlassen, unsere geneigten Leser_innen nicht davon abhalten, eine Lanze für Sisyphos und Prometheus zu brechen ...