Ende September wurde eine Analyse des Allensbacher Instituts für Demoskopie mit dem Titel „Werte haben Bestand“ veröffentlicht.2 Darin wird behauptet, dass trotz des Rückgangs der Religiosität „das Christentum in Gesellschaft und Politik weiter eine bemerkenswerte Rolle spielt“. Dabei griff man auf zwei 60 Jahre auseinander liegende Umfragen zurück. Im Februar 1952 hätten 56 Prozent der Befragten der Frage zugestimmt: Muss ein Programm einer Partei, die Gutes für Deutschland wirkt, christlich sein? Und 2012 beantworteten 53 Prozent der Deutschen die Frage „Für wie wichtig halten Sie es, dass sich eine Partei auch an christlichen Grundsätzen orientiert?“ mit „sehr wichtig“ oder „wichtig“. Dies soll für ganz Deutschland gelten, in dem die Konfessionslosigkeit zwischen den beiden Erhebungszeitpunkten erheblich zugenommen hat. Merkwürdig! Noch merkwürdiger ist das Ergebnis einer Umfrage im Auftrage des MDR zur Eröffnung des evangelischen Kirchentages 2011 in Dresden.3 „Demnach glauben zwar nur 25 Prozent der Menschen im Ost-Deutschland an Gott, aber rund 90 Prozent halten christliche Werte wie die Nächstenliebe oder Barmherzigkeit für wichtig?“ Die Tageszeitung Neues Deutschland fragte nach: „Gibt es also ein quasi christliches Geistesleben jenseits der Kirchen ohne einen biblisch-theologisch fundierten Glauben?“ und kam zum Ergebnis: „Wohl kaum, zählt die Kirchenmitgliedschaft, die ‘Gemeinschaft der Heiligen’, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt, doch zu den Grundkonstanten der christlichen Existenz. Christliche Werte kann man dagegen offensichtlich auch hochschätzen, wenn man kein Christ ist.“ Diese Aussage dürfte ebenso für das Ergebnis der beiden Umfragen des Allensbacher Instituts gelten. Worin besteht also der Trick bei der Gleichsetzung?
Unterschiedliche Interpretation von Werten
Einen wichtigen Tipp gibt der Soziologe Carsten Wippermann.4 In einer neueren Studie untersuchte er, was „bestimmte Wertebegriffe in den verschiedenen Milieus“ bedeuten. „Also was bedeutet Freiheit für Postmaterielle, für Konservative, für Hedonisten? Oder Werte wie Solidarität, Sicherheit, Leistung.“ Er resümierte: „Dabei zeigte sich, dass diese Wertebegriffe, die ja auch Fundament unserer Gesellschaft sind, von den Milieus ganz unterschiedlich interpretiert werden. (…) Und man kann eben nicht sagen, für ein Milieu wie die Konservativen sind Werte wie Pflicht, Leistung und Anpassung wichtig und andere Werte wie Freiheit und Selbstverwirklichung unwichtig. Alle Werte, die wir in unserer Gesellschaft haben, finden wir in jedem Milieu. Nur: Diese Werte haben eine unterschiedliche inhaltliche Bedeutung für die Milieus, und sie stehen in einer anderen Wertearchitektur.“
Kehren wir zur Allensbacher Analyse zurück. In der neueren Studie wurde ermittelt, was die Befragten unter christlichen Werte verstanden. Die meist genannten Punkte wie „Einsatz für sozial Schwache und die dritte Welt“ und auch „das Eintreten für einen umfassenden Sozialstaat“ können eher als links oder linksliberal eingestuft werden und nicht als konservativ. Kein Wunder also, wenn sich hierfür eine Mehrheit entscheidet, die nicht notwendigerweise in einer Partei ohne das große „C“ beheimatet ist. Vor 60 Jahren hätte man „Christentum und demokratische, freiheitliche Grundsätze als untrennbar zusammengehörig empfunden“. Diese Argumentation enthält einen bedeutenten Fehler. Die Demokratie wurde schon in Griechenland praktiziert, bevor das Christentum entstanden ist. Und die bürgerlichen Freiheiten wurden erst spät von der katholischen Kirche anerkannt und an ihre Zwecke angepasst. Wie weit geht die Anpassung?
Anpassung der Religionen
Die Anpassung der Religionen an die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse zeigte der Religionsanthropologe Richard Sosis in einem Interview auf.5 Die Frage „Was sichert den Erfolg einer Religion?“ antwortete er: „In einem Wort – Anpassungsvermögen. Schauen Sie sich die Geschichte an. Das Judentum, die katholische Kirche, jede langlebige Religion – sie alle haben sich gewandelt, und sie müssen es weiterhin tun. Allerdings ist es das Kennzeichen eines erfolgreichen Wandels, dass die Gläubigen ihn gar nicht wahrnehmen. Es gehört ja gerade zum Wesensmerkmal der Religionen, dass sie dem Zeitgeist gegenüber veränderungsresistent erscheinen. Wer eine Religion erfolgreich modernisieren will, beruft sich am besten auf die alten Texte und erzeugt den Eindruck, im Sinne der Tradition zu handeln. Wird eine Veränderung als Neuerung wahrgenommen – etwa die Einführung eines völlig neuen Rituals – stößt das oft auf großen Widerstand. Religionen sind dann erfolgreich, wenn sie sich stets ihrer Umgebung anpassen, aber sie müssen das auf eine Art und Weise tun, die für die Gläubigen selbst nicht wahrnehmbar ist.“
Die Gläubigen fordern aber in ihrer Mehrheit eine merkbare Anpassung wie aus einer im Januar veröffentlichten Pilotstudie der katholischen Hochschule Freiburg für das Land Hessen hervorgeht.6 85% der Protestanten und 89% der Katholiken in Hessen fordern eine Änderung ihrer Kirche. Selbst den zentralen Aussagen ihrer Religion stimmt eine Mehrheit der Mitglieder nicht mehr zu. „Damit ist ein ‘Christentum ohne Christen’ kein Paradox, sondern eine gelebte Realität.“ Diese Aussage kann man auch für die zitierte Allensbach-Analyse treffen. Der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst dagegen schlussfolgerte:„Es kann nicht sein, dass die Kirchen ihr Bekenntnis aufgeben, nur weil es mehrheitlich nicht mehr verstanden wird. Im Gegenteil: Die Kirche hat immer auch die prophetische Aufgabe, sperrige Inhalte im Kontext der Zeit zu vermitteln und wachzuhalten.“7 Also wird man versuchen, sich formal anzupassen. Das Problem ist bei der Deutschen Bischofskonferenz schon längst be kannt. Der Jesuit Hans Langendörfer, Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, forderte bereits 2004 angesichts des allgemeinen Glaubensverfalls nicht zu klagen, sondern bei den „religiös produktiven Kräften“ nach Anknüpfungspunkten für die Vermittlung des Glaubens zu suchen.8
Verfällt die Moral als Folge der Säkularisierung?
Anstatt mit zunehmender Säkularisierung ein „Gegensatzpaar zwischen Religion und Modernität“ (Detlef Pollack)9 zu begreifen, propagiert die moderne Soziologie im neuen Jahrhundert eine „Rückkehr der Religionen“, eine Deprivatisierung der Religionen, eine Entsäkularisierung der Welt, eine Respiritualisierung. Jürgen Habermas begann über ein „postsäkulares Zeitalter“ nachzudenken. Pollack deutete diese Entwicklung wie folgt: „Bei der These von der Renaissance des Religiösen handelt es sich also nicht um ein Modephänomen der letzten Jahre, sondern um eine tiefsitzende Überzeugung, für die allerlei empirische Belege beigebracht werden, die aber teilweise auch unabhängig von empirischen Indikatoren Gültigkeit beansprucht.“ Es geht also auch um Behauptungen, um Glauben. Dem gegenüber stellt er fest: „Es gibt für Religion keinen unausweichlichen Bedarf. Ob Menschen Religion brauchen, ist vielmehr selbst kontingent und variiert sozial, historisch und individuell in erheblichem Umfang.“ Und weiter folgerte er: Um die Entwicklung von Religion und Religiosität zu bestimmen, bedarf es einer multimedialen Analyse anstatt des monopolistisch angewandten funktionalistischen Ansatzes. Daran hapert es aber.
Seit den immer wieder (mit Recht?) zitierten Terroranschlägen vom 11.9.2001 haben die Religionen anscheinend weltweit sprunghaft an Bedeutung zugenommen. Grund genug für 500 Geisteswissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sich 2007 in Lech am Arlberg zu einem Kongress zusammenzufinden, um über die berühmte Gretchenfrage Wie hältst du es mit der Religion?, zu diskutieren. Dazu berichtete der Tagesanzeiger:
„Dissens ergab sich bei der brisanten Frage, ob die Moral an religiöse Prämissen gebunden ist, oder ob es sie jenseits der Religion geben kann? Mit andern Worten: Gibt es eine rein säkulare Sittlichkeit, oder ist diese, womöglich historisch bedingt, von religiösen (Text)Quellen gespeist? Diese von Dostojewski zugespitzte Problematik (‘Wenn es keinen Gott gäbe, wäre alles erlaubt’) führte zu heftigen, in der Natur der Sache liegenden Diskussionen unter den rund 500 Zuhörerinnen und Zuhörern. Doch wie schon bei der Gretchenfrage, gab es auch darauf keine schlüssige oder (end)gültige Antwort. Denn um dies zweifelsfrei klären zu können, müssten wir gleichsam von außen auf uns selbst schauen – und damit eine gottgleiche Position einnehmen. Womit alles wieder von vorne beginnen würde, und das heißt bei Immanuel Kant: Argumente der Vernunft, so der Meister der Aufklärung, können zur Klärung von Glaubensfragen nichts beitragen. Diesen kleinen Trost wenigstens konnte der wissenschaftliche Kongress den Teilnehmern mit auf den Weg in die Niederungen des säkularen Alltags geben.“10
Obwohl man sich in Lech nicht über die religiösen Prämissen für die Moral einigen konnte, wird die vielfach benutzte These vom Moralverfall durch Säkularisierung immer noch angewandt. Diese These „taucht regelmäßig auf, wenn es um den Machterhalt und die finanzielle Ausstattung kirchlicher Institutionen geht, und sich der Glaube durch den evolutionären Denkstil des neuen Atheismus oder die individualistische Marktdoktrin herausgefordert sieht. (…) Die Apologie des Glaubens durch seinen moralischen Mehrwert kam im neunzehnten Jahrhundert als Antwort auf die Säkularisierung auf. Der katholische Sozialphilosoph Hans Joas nennt sie … zu Recht eine schwache Defensivposition, die den Wert eines Glaubens an seinen Nebenerträgen misst....“11 Er sieht die Zeit für eine empirische Überprüfung gekommen. Das Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken verneint den Moralverfall durch Säkularisierung klar und deutlich. Unter anderem argumentiert er, in religiösen Gesellschaften wie den USA gäbe es Gewalt und Amoral sehr viel stärker als in Europa.
Die Transzendenz schlägt zurück
Flugs erhielt er Kontra aus religiösen Kreisen. Andreas Püttmann12 erweiterte die empirischen Grundlagen gegenüber Joas Beispielen und wandte somit den funktionalistischen Ansatz an, der wie Pollack ausgeführt hatte, durch den multimedialen Ansatz ausgetauscht werden müsste. Darüber hinaus führte er in seine Argumentation transzendente Elemente ein, indem er das „universale Menschenbild der Religion“ der „skeptischen säkularen Anthropologie“ entgegensetzte. Der Lohn vor einem überweltlichen Gericht ist eine Dimension, an die der Skeptiker nicht glaubt. Er müsste nämlich die von der Religion propagierte Erlösungsperspektive akzeptieren. Die unfassbare Transzendenz erlaubt aber Dogmatismus und religiösen Eifer. Sie gibt dagegen keine Antwort auf die Frage Verfällt die Moral als Folge der Säkularisierung?. Wer mit der Transzendenz argumentiert, befindet sich auf einem hohen Ross, das er nicht verlassen will. Die Niederungen der Erfahrungen übergeht er geflissentlich. Für ihn besteht das nicht, was nach seiner Theorie nicht sein darf. Basta! Die Bibel hat immer Recht! Aber welche Auslegung gilt?
Anmerkungen
1 Zitiert nach: Zollitsch: Zölibat „nicht theologisch notwendig“, in: faz.net vom 17.2.2008; URL: http://www.faz.net/s/Rub C4DEC11C008142959199A04A6FD8EC44/Doc~EB97FC7740DED4D4B927B133046A5ED14~ATpl~Ecommon~Scontent.htmlAktuell (Zugriff 17.2.2008).
2 Thomas Petersen: Christliche Werte haben Bestand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26.9.2012.
3 Thomas Klatt: Die dritte Konfession, in: Neues Deutschland vom 1.6.2011, URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/198923.die-dritte-konfession.html
4 Carsten Bohl: Offensive oder Rückzug, in: Domradio vom 21.10.2011; URL: http://www.domradio.de/aktuell/77276/offen-sive-oder-rueckzug-in-die-nische.html (Zugriff 21.10.2011).
5 Ulrich Schnabel: Der angepasste Glaube, in: Die Zeit vom 12.2.2009.
6 Joachim Frank: Engel überflügeln Jesus, in: Frankfurter Rundschau vom 26.1.2012.
7 Ebenda.
8 toe: Theologie in modernem Ambiente, in: FAZ vom 19.10.2004.
9 Detlef Pollack: Abkehr von der Säkularisierungsthese, in: Frankfurter Rundschau vom 11.5.2004.
10 Guido Kalberer: Die unverhoffte Wiederkehr der Religionen, in: Tagesanzeiger vom 28.9.2007; URL: http://www.tagesanzeiger.ch/dyn/news/print/buecher/795909.html (Zugriff 28.9.2007).
11 Zitiert nach: Thomas Thiel: Die Glaubensdividende, in: FAZ vom 31.10.2012.
12 Vgl. ebenda.