Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/17 | Geschrieben von Bernd Harder

Wunderwunden

Franz von Assisi soll der erste Stigmatisierte der Kirchengeschichte gewesen sein. Bis heute behaupten Frauen und Männer, die blutigen Wundmale Christi zu tragen. Was steckt hinter dem seltsamen Phänomen?

Ein Begegnungszentrum, „in dem auch Informationen zu Therese Neumann ausgestellt werden sollen“, entsteht ab Frühjahr 2018 in Konnersreuth.1 Informationen für fromme Anhänger der stigmatisierten „Heilandsresl“, darf man wohl vermuten. Denn Kritiker sind in der oberpfälzischen Marktgemeinde nicht gern gesehen. Das bekam zuletzt das BR-Magazin Quer2 zu spüren: „Die Resl ist ein Touristenmagnet. Wer im Verdacht steht, die Wunder-Resl anzuzweifeln, dem haftet schnell das Stigma des Ketzers an. Auch quer stößt in Rathaus und Pfarrgemeinde auf frommes Schweigen.” „Stigma“ ist das Stichwort. In der Nacht zum Karfreitag 1926 sollen erstmals Visionen, Ekstasen und Stigmata über die stets kränkelnd darniederliegende Bauernmagd hereingebrochen sein. „Sie lag da wie Marterbild, die Augen von Blut ganz verklebt, zwei Streifen Blut über die Wangen, fahl wie eine Sterbende“, berichtete der Konnersreuther Pfarrer Josef Naber. „Bis um drei Uhr nachmittags rang sie in furchtbaren Todesqualen. Dann wurde sie wieder ruhiger.“ An Thereses Händen und Füßen bemerkte Naber „rundliche, offene Wunden, aus denen reines Blut fließt.“ Sie sehen aus, als wäre die Haut mit einem scharfen Messer herausgeschnitten, in Form einer pfenniggroßen, kreisrunden Fläche. Karfreitag 2016. In Falelatai auf Samoas Hauptinsel Upolu spielt eine junge Frau, die Tochter eines protestantischen Pastors, beim Ostertheater die Rolle des Jesus. Die 23-jährige Toaipuapuaga Opapo hängt in ihrem weißen Kleid am Kreuz, als plötzlich Blut über ihre Arme fließt. Aus heiterem Himmel, behaupten Beobachter, erscheinen später Wunden: an den Handflächen, den Fußsohlen, an ihrer Stirn und ihrer Seite. Stigmata-Wundmale genau dort, wo die Haut Jesu Christi der Überlieferung nach bei seiner Kreuzigung durch die Dornenkrone, die Nägel und einen Speer durchbohrt wurde. „Ein Wunder!“, jubeln die einen in dem erzfrommen Inselstaat mitten im Pazifik, „Teufelswerk!“, schimpfen die anderen. Und Dritte halten Opapo schlicht für eine aufmerksamkeitsgierige Betrügerin.3

Heilige der Superlative mit göttlichen Zeichen

Was stimmt? Und sind das schon sämtliche Optionen für eine Erklärung des seltsamen Phänomens? Seit dem Jahr 1224 soll es „je nach Zählung 350 oder mehr“ Träger der Wundmale Christi gegeben haben, schreibt das Lexikon für Theologie und Kirche. Als der erste eindeutig bezeugte Stigmatisierte der Kirchengeschichte gilt Franziskus von Assisi. 62 der Wundermänner- und frauen hat die Kirche selig- oder heiliggesprochen. Doch nur beim Begründer des Franziskanerordens geschah dies4 „mit besonderem Hinblick auf die Wundmale“. Ansonsten gilt: „Selbst wenn die Kirche die Heldenhaftigkeit der Tugenden eines oder einer Stigmatisierten kündet, garantiert sie in keiner Weise den außernatürlichen und wunderbaren Ursprung dieser Wunden.“5

Auch Franziskus’ kapuzinischer Ordensbruder Pater Pio von Pietrelcina gelangte wegen seines Engagements für die Beichte im Jahr 2002 zur Ehre der Altäre. Den Aspekt der Stigmata habe die vatikanische Behörde für Heilige und Selige ausgeklammert. Dabei waren es genau diese göttlichen Zeichen, welche die beispiellose Anziehungskraft des Francesco Forgione ausmachten. 1918 soll der Kapuzinermönch aus dem Kloster San Giovanni Rotondo mit den Wundmalen Christi an Händen und Füßen „begnadet“ worden sein. Zahllose Gläubige pilgerten fortan zur Frühmesse um fünf Uhr morgens, um zu sehen, wie Pater Pio bei der Kommunion „endlich nun seinen Gott, der Brot geworden ist, in der Hand [hält]. Dünne Blutfäden rieseln seine Finger entlang.“6

Irgendwie verständlich, denn solche „Heilige der Superlative“ wie Franziskus und Pater Pio verkörpern die Sehnsucht vieler Christen nach einer volksfrömmigen Kirche der Wunder, des Mystischen und Undurchschaubaren, ohne theologische Auslegungen und historische Forschungen. Nüchtern betrachtet fällt indes auf, dass die Nagelwunden der beiden in den Hand- und Fußflächen nicht mit der historischen Wirklichkeit übereinstimmen. Denn es ist erwiesen, dass die Römer bei Kreuzigungen die Nägel durch die Gelenke der Hände und Füße getrieben haben. Anscheinend neigen Stigmatisierte dazu, ihre Wunden nach ihrem jeweiligen Lieblingskruzifix zu gestalten. Aber wie geht das?

„Christliche Schlafwandler“ und Säurenheilige

Ziemlich eindeutig sind Stigmata keine Wunderwunden, sondern verlaufen im Rahmen des organisch Möglichen. Zur Debatte stehen

  • Fehlinterpretationen von Hauterkrankungen wie zum Beispiel Psoriasis (Schuppenflechte), insbesondere des Typs „Königsbeck-Barber“, bei dem sich lokal begrenzt bräunlich verkrustete Pusteln bilden
  • Psychosomatische Ursachen
  • Schwindel

Der Kirchenhistoriker Pater Herbert Thurston weist darauf hin, dass im späten Mittelalter, zur Zeit des Franziskus von Assisi, eine Art „Kreuzigungskomplex“ entstanden sei: „Als kontemplativ veranlagten Menschen der Gedanke einmal vertraut war, dass man die Wundmale des leidenden Heilands empfangen und ihm so auch äußerlich ähnlich werden kann, wurde diese Art der Vereinigung mit dem himmlischen Lehrmeister bei vielen eine geläufige Vorstellung. Sie wurde geradezu eine fromme Zwangsvorstellung, die sich bei einigen ungewöhnlich empfindsamen Personen in entsprechenden körperlichen Erscheinungen äußerte.“7 In der Tat versuchte Franz von Assisi die Heilsmysterien nicht mit theologischen Spitzfindigkeiten zu ergründen, sondern sie real mit- und nachzuerleben. Und auch Pater Pio war von ungewöhnlich empfindsamer seelischer Disposition und zu einem spontanen Überschwang extremer Gefühle fähig.

Der ehemalige Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Frankfurt am Main, Prof. Gerd Overbeck, hat 20 Stigmatisierte (18 Frauen und zwei Männer) aus dem Rhein-Main-Gebiet untersucht und dabei festgestellt: „Die erleben den Kalvarienberg mit allem Drum und Dran. Sie spüren die Leiden Christi am eigenen Leib. Sie hören Hammerschläge, sehen das Kreuz vor sich, fühlen Peitschenhiebe und das Stechen der Dornenkrone. Am Karfreitag fangen ihre Wundmale intensiv an zu bluten.“8 Aber wie? Autosuggestive Unterhautblutungen, Brandblasen oder Hautrötungen, wie sie in Suggestions- und Hypnoseexperimenten erzeugt werden konnten, sind nicht wirklich vergleichbar mit der angeblich spontanen Ausprägung sämtlicher Wundmale Christi und ihrer Begleitblutungen. Zudem konnte ein solches Ereignis noch nie objektiv beobachtet werden.

Overbeck teilt zwar die Auffassung, dass „diese Menschen [sich] aktiv in eine religiöse Ekstase versenken, die der Tiefenmeditation vergleichbar ist“ – die Stigmata selbst würden jedoch nicht durch Autosuggestion hervorgerufen. Vielmehr seien Stigmatisierte eine Art christliche Schlafwandler: „Die Verletzungen entstehen mit dem Kreuz oder anderen Werkzeugen wie Geißeln und Bußgürteln. Stigmatisierte fügen sich die Male selbst zu, allerdings in Trance, sodass sie sich nachher nicht erinnern können, wie die Male dorthin gekommen sind. Dafür besteht eine völlige Amnesie. Das Frappierende daran ist, dass die Wunden später immer wieder aufplatzen und bluten.“ Tatsächlich konnten Skeptiker wie der italienische Chemiker Luigi Garlaschelli9 und der amerikanische Debunker Joe Nickell10 mit einfachen Hilfsmitteln wie einer Nadel oder einer Rasierklinge beeindruckende „Stigmata“ produzieren.

Blutspuren wie drappiert

In einem Buch11 zum Thema legt der Medizinprofessor Overbeck dar, dass es zwischen den beiden Polen „Betrüger oder Verrückte“ verschiedene Über­gangsformen gibt, die mal mehr, mal weniger krankhaft seien. Im konkreten Fall ist die Einordnung zumeist schwierig, nicht zuletzt wegen der „üblichen Indifferenz gegenüber korrekten Untersuchungsmethoden“, wie der US-Aufklärer James Randi schreibt.12 So litt Pater Pio vermutlich an einer histrionischen Persönlichkeitsstörung (früher: hysterische Neurose) – und zugleich gibt es Hinweise darauf, dass er ein klassischer „Säurenheiliger“ war, der sich seine stigmatischen Wunden mit Phenol (Karbolsäure) zufügte. Auch Therese Neumann galt als Hysterikerin und verhielt sich verdächtig unkooperativ. Die angeblichen „Wunder“ von Konnersreuth fanden ausschließlich im heimischen und kontrollierbaren Umfeld statt.

Anno 2016 kam der Kriminalbiologe Mark Benecke nach eingehender Untersuchung des Falles zu dem Schluss: „Es handelt sich bei Thereses Blutspuren um eine klassische, absichtlich täuschende Spurenlegung […] In der experimentellen Nachstellung zeigt sich, dass das Blut […] aus nur einer oder zwei (den Handinnenflächen) großen Blutungsquellen stammt […] Die einzige Erklärung, die alle objektiv messbaren, also nicht von Meinen, Hoffen oder Glauben abhängigen Beobachtungen um Thereses blutiges Erscheinen vereint, ist, dass sie sich die Hände im Laufe der Jahre dauerhaft wundgekratzt hat. Die Wunde war dauerhaft entzündet, und so konnte Therese sie zu passender Gelegenheit – meist freitags – leicht aufknibbeln und wieder zum Bluten bringen.“13 Davon wird im neuen Begegnungs- und Informationszentrum nichts zu lesen sein.


Anmerkungen
1  www.br.de/nachrichten/oberpfalz/inhalt/therese-neumann-resl-konnersreuth-seligsprechung-100.html
2  www.br.de/mediathek/video/selig-die-frommen-konnersreuth-und-das-resl-wunder-av:5896cc64ab0d0d0012055d38
3 www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article154160567/Ein-goettliches-Wunder-oder-doch-Betrug.html
4  Zit. nach Johannes Maria Höcht: Von Fran­ziskus zu Pater Pio und Therese Neumann. Christiana-Verlag, Stein am Rhein 1974
5  Zit. nach René Biot: Das Rätsel der Stigma­tisierten. Pattloch-Verlag, Aschaffenburg 1957
6  Zit. nach Maria Winowska: Das wahre Ge­sicht des Pater Pio. Pattloch-Verlag, Aschaf­fenburg 1958
7  Zit. nach Herbert Thurston: Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik. Räber-Verlag 1956
8  „Sie halten sich nicht für Christus, fühlen aber wie er“, in: SZ-Magazin 13/2012
9  In der 3sat-Doku Wunder – Das Unerklärliche erklären
10  Joe Nickell: Real-Life X-Files: Investigating the Paranormal. The University Press of Kentucky, Lexington 2001
11 Gerd Overbeck/Ulrich Niemann: Stigmata – Geschichte und Psychosomatik eines religiösen Phänomens. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012
12  James Randi: Lexikon der übersinnlichen Phänomene. Heyne-Verlag, München 2001
13  Mark Benecke: Mumien in Palermo. Bastei Lübbe Verlag, Köln 2016