MIZ: Sexuelle und reproduktive Rechte von Frauen hatten einen unterschiedlichen sozial- und familienpolitischen Stellenwert in der DDR und BRD. Was waren Ihres Erachtens die bemerkenswertesten Unterschiede?
Viola Hellmann: Während in der BRD religiös-christliche Motive die reproduktiven Rechte der Frau bis heute einschränkten, waren es in der DDR eher sozialpolitische Interessen, zumindest vor 1972, wo eine Kommission (Ärzt*innen, Vertre ter*innen der Or gane des Gesund heitswesen, Demokratischer Frauenbund) über den Antrag einer Frau auf Abbruch der Schwangerschaft entschied. Es sollten möglichst viele Kinder geboren werden, um den Aufbau des Sozialismus zu fördern.
Familienpolitik war in der DDR immer frauen- und kinderfreundlich besetzt. Es gab viele Regelungen zum Schutz von Schwangeren und zur Förderung kinderreicher Familien. Auch im Alltag zeigte sich das. Es war selbstverständlich, dass sichtbar Schwangere an Kassen in Geschäften oder beim Fleischer oder Bäcker vorgelassen wurden. Ich glaube, sie konnten das bei Vorlage des Schwangerenausweises auch verlangen. Im vollen Bus, Zug und in der Straßenbahn wurde Schwangeren selbstverständlich ein Sitzplatz angeboten.
Am 9. März 1972 wurde dann das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ beschlossen und in Kraft gesetzt, eine reine Fristenlösung bis zur 12. Schwangerschaftswoche. Proteste der Vertreter*innen der Kirchen gab es, aber deren Macht war in der DDR gering. Die Vorbereitung, Durchführung und Nachbehandlung der Schwangerschaftsabbrüche waren selbstverständliche Leistungen der Kran kenversicherung, ebenso wie alle Verhütungsmittel oder Sterilisation. Für mich war es eine gro ße Umstellung in der Praxis, für Verhütungsmaßnahmen von den Frauen Geld zu verlangen. Es war das eigenartige Gefühl, dass sich zwischen die Ärzt*innen-Patient*innen-Beziehung das Geld stellt .
MIZ: Schwangerschaftsabbrüche wurden 1972 im „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ in der DDR legal verankert, in der BRD illegalisiert im Strafgesetzbuch. Wie haben Sie die Debatten und Proteste der DDR-Frauen in der „Wendezeit“ wahrgenommen?
Viola Hellmann: Ich kann mich an keine breite Debatte oder gar Proteste erinnern, als 1995 letztlich nach der Klage der Bayrischen Staatsregierung beim Bundesverfassungsgericht der §218 reaktiviert wurde, wonach Schwan gerschaftsabbruch bis zur 12. Woche rechtswidrig, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei sind. Die Frauen und auch Ärzt*innen waren in diesen Jahren mit existentiellen Problemen beschäftigt und alle waren nur irgendwie froh, dass Schwangerschaftsabbrüche noch möglich waren, wenn auch unter erschwerten Bedingungen.
MIZ: Sie haben vor und nach der „Wende“ als Frauenärztin gearbeitet. Welche Konsequenzen hatte die Einführung der §§218 und 219 StGB für Frauen in der ehemaligen DDR? Was hat sich in den 30 Jahren verändert?
Viola Hellmann: Wie schon gesagt, ein gewünschter Schwangerschaftsabbruch musste unter erschwerten Bedingungen (Pflichtberatung, Kostenübernahmeverfahren oder Selbstzahlung) organisiert und durchgeführt werden. Der § 219a brachte 2006 mir und meinen Praxispartnerinnen eine Anzeige des bekannten sogenannten „Lebensschützers“, Herrn Annen ein, weil wir medikamentöse Abbrüche auf unserer Website gelistet hatten.
In den 30 Jahren ist zunehmend ein Problembewusstsein bei Frauen und vielen Ärzt*innen gewachsen, was diese Paragraphen für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen bedeuten. Andererseits wird die praktische Durch führung eines Schwangerschaftsabbruchs mit dem Generationswechsel bei Gynäkologen*innen in einigen Gegenden schwerer – zum Beispiel in Halle (Saale), wie wir beide wissen. Es gibt weniger Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Das Versorgungsangebot ist aber immer noch, auch nach 30 Jahren, deutlich besser als in vielen Gegenden der alten Bundesländer.
MIZ: Welchen Einfluss hatten Ihres Erachtens die kirchlichen Verbände damals und heute in Bezug auf den Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen und bei der Novellierung des §219 StGB?
Viola Hellmann: Der Einfluss der Kirchen erscheint mir sehr stark zu sein, obwohl in Deutschland insgesamt nur noch 52% der Bevölkerung Mitglied einer Kirche sind, in Sachsen-Anhalt nur 15%, in Sachsen 21%! Andererseits kenne ich Kolleg*innen, die persönlich religiös gebunden sind, dennoch aber selbst Schwangerschaftsabbrüche durchführen und eine Streichung der §§ 218 und 219 befürworten, weil es um Frauengesundheit geht. Evangelische und katholische Träger haben in den 1990er Jahren sehr schnell flächendeckend in den Ostländern Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen eingerichtet, die neben den Beratungsstellen von pro familia Frauen Hilfe anbieten. In Notsituationen ist das flächendeckende Angebot entscheidend und eine der wichtigsten Forderungen für reproduktive Selbstbestimmung.