Es war so ein Bild, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: Zwei Prälaten, aus jeder Fraktion einer, führen dem Ministerialbeamten die Hand, als dieser den Gesetzentwurf abfasst. Verwendet hatte es jemand, der lange Erfahrung im bundesdeutschen Politikbetrieb mitbrachte. Das Bild verweist zunächst darauf, dass der Gesetzgebungsprozess in der Parlamentarischen Demokratie offenbar nicht immer den Abläufen folgt, wie sie im Sozialkundelehrbuch stehen. Es sind wohl Kräfte am Zustandekommen gesetzlicher Regelungen beteiligt, deren Einfluss nicht als Beratung durch unabhängige Experten angesehen werden kann. Das entspricht unserer Vorstellung von Lobbyismus, die in den letzten Jahren dadurch erhärtet wurde, dass mehrfach bekannt geworden ist, dass Vertreter bestimmter Industriebranchen im Auftrag von Ministerien an Gesetzen mitgeschrieben haben.1 Und die Kirchen, so unterstellt das Bild weiter, bedienen sich auch dieser im demokratischen System eigentlich illegitimen Einflussnahme, verfügen über einen Zugang zur Macht, den andere Interessenvertretungen nicht haben.
Dass die beiden großen christlichen Kirchen Einfluss auf die Politik nehmen, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber führt die Hintertreppe wirklich bis in die Vorzimmer der Ministerien? Oder entspricht das Bild in diesem Punkt einfach nur unseren Vorurteilen? Wer sich die Entstehung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) vor Augen führt, mag geneigt sein, ersteres anzunehmen. In den offiziellen Anhörungen waren ja nicht nur Kirchenvertreter und ihre Handlanger anwesend. Die Gewerkschaften hatten in ihren Stellungnahmen gefordert, die in § 9 den Kirchen eingeräumten Ausnahmebestimmungen eng auszulegen und Änderungsvorschläge unterbreitet. Trotzdem kam am Ende ein für den Bereich der Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft wirkungsloses Antidiskriminierungsgesetz heraus. Die Kirchen hatten sich auf der ganzen Linie durchgesetzt – gegen die Vorgaben der Europäischen Union, gegen den Entwurf der rot-grünen Regierung, gegen die Bedenken der Gewerkschaften. Corinna Gekeler berichtet im Interview genauer, wie die Sache damals abgelaufen ist. Andererseits haben die Kirchen in den letzten Jahren in einigen für sie wichtigen Fragen der praktischen Ethik herbe Rückschläge hinnehmen müssen. Weder beim Schwangerschaftsabbruch noch bei den Entscheidungen über Stammzellenforschung, die Gültigkeit von Patientenverfügungen oder die Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik konnten die Kirchen ihre Positionen umfassend durchsetzen.
Auch vom Einfluss auf die Medien ist immer wieder die Rede und auch hier stellt sich die Frage, wie weit der Arm der Bischöfe wirklich reicht. Angesichts des Mediengewitters, das über den „Protz-Bischof“ (Bild-Zeitung) von Limburg, Franz-Peter Tebartz-van Elst, hereingebrochen ist, und der zahlreichen Hintergrundberichte über die kirchlichen Finanzen scheint die Lobbyarbeit hier nicht allzu erfolgreich zu sein. Andererseits ist es schon auffällig, wenn in einer politischen Talkshow an zentralem Sendeplatz in einem öffentlich-rechtlichen Sender über kirchliche Finanzen geredet wird und die Runde nur aus Katholiken besteht, kein unabhängiger Experte mit von der Partie ist. Ist es da Zufall, dass der Moderator vor einigen Jahren für die Kampagne Pro Reli geworben hat? Einen ersten Einblick in das Verhältnis von Medien und Kirche gewährt uns Ulli Schauen, wobei er vor allem die personellen Verflechtungen und die Folgen ins Auge fasst.
Wie mächtig ist also die Kirchenlobby? Wer sich der Beantwortung dieser Frage zuwendet, erkennt zunächst, dass es bislang kaum wissenschaftliche Forschung dazu gibt. Das liegt möglicherweise daran, dass Kirchen häufig überhaupt nicht als Interessenvertreter wahrgenommen werden. Weite Teile der Öffentlichkeit akzeptieren das Selbstbild der Kirche, die sich gewissermaßen als „Oberschiedsrichter“ sehen; als Instanz über den demokratischen Strukturen, die nicht ihre eigenen Interessen verfolgt, sondern von einer höheren Warte aus korrigierend in die Politik eingreift. Letztlich wirken hier vormoderne, feudalistische Strukturen nach.
So wäre es eine verdienstvolle Aufgabe, die Kirchen in ihrer Rolle als politische Akteure etwas eingehender zu untersuchen. Natürlich ist das in einem Zeitschriftenartikel nicht zu leisten, aber einen Problemaufriss, eine erste Orientierung, wo es sich lohnen könnte zu graben, liefert Carsten Frerk. Bereits seine Ausführungen lassen erahnen, wie gut die Kirchen in die Politik vernetzt sind, und deuten die Wichtigkeit personeller Überschneidungen an.
Die Lobbyarbeit der säkularen Verbände steckt dagegen noch in den Kinderschuhen. Diese haben zwar in vielen Fällen die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, bemühen sich aber erst seit wenigen Jahren darum, dies der Politik auch regelmäßig mitzuteilen. Erste Anfänge immerhin sind gemacht: von Herbst 2010 bis Dezember 2012 wurden die Bundestagsabgeordneten von verschiedenen Verbänden zu drei Themen (Staatsleistungen, kirchliches Arbeitsrecht, Suizidhilfe) mit Informationen beliefert; im Sommer 2012 erhielten Bildungspolitiker in Bund und Ländern ein Päckchen. Die Hintertreppe haben die Verbände jedoch noch nicht gefunden.
Anmerkung
1 Vgl. zum Beispiel Christian Feld: Wenn Lobby-Texte zum Gesetz werden, in: Tagesthemen vom 21.2.2013, http://www.tagesschau.de/inland/lobbyplag112.html (Zugriff: 21.10.2013); vgl. für die EU-Ebene www.lobbyplag.eu; das Phänomen ist übrigens nicht ganz neu: Hannes Koch: Die Nähe zwischen Ministerium und Lobby, in: taz vom 16.10.2003, http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2003/10/16/a0127 (Zugriff: 21.10.2013).