Der jüngste Anlass war die Unterschriftenaktion von Terre des Femmes gegen die Verschleierung von Mädchen. Darin fordert die Frauenrechtsorganisation die Verschleierung bis zum Erreichen der Volljährigkeit im öffentlichen Raum, vor allem in der Schule, zu verbieten. Begründet wird dies mit den Entwicklungsmöglichkeiten der Mädchen: „Die Verschleierung von Mädchen ist keine harmlose religiöse Bedeckung des Kopfes. Sie stellt eine geschlechtsspezifische Diskriminierung und eine gesundheitliche (psychische und körperliche) Gefahr dar. Ihre Chancen auf eine gleichberechtigte Teilnahme am gesamtgesellschaftlichen Leben werden massiv eingeschränkt.“
Im März setzte das Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg seine „migrationspädagogische Stellungnahme“ Nein zu einem Kopftuchverbot für Minderjährige dagegen. Die Ablehnung wird mit dem nicht gerechtfertigten „starken Eingriff in die Selbstbestimmung junger Menschen“ begründet. Zudem werde damit die „schon bestehende Diskriminierung kopftuchtragender Musliminnen“ legitimiert. Die Stellungnahme solle „die Debatte auf eine fachliche Grundlage stellen“.
Diffamierung statt Fachgespräch
Tatsächlich weist die Terre des Femmes- Position einen Schwachpunkt auf: Sie ignoriert das Eintreten der Religionsmündigkeit mit 14 Jahren. Der Schutz von Kindern ließe sich getrennt von der Situation religionsmündiger Heranwachsender erörtern, und das könnte zu unterschiedlichen Einschätzungen und Handlungsempfehlungen führen.
Bezeichnenderweise fehlt dieser Kritikpunkt in der Stellungnahme des Netzwerkes. Es darf wohl davon ausgegangen werden, dass es für die Initiator_innen keine Rolle spielte, dass das Erreichen der Religionsmündigkeit eine Ausweitung der Selbstbestimmungsrechte der Betroffenen mit sich bringt. Unter fachlichen Gesichtspunkten wirft diese Perspektive Fragezeichen auf. Denn die Annahme, dass eine Achtjährige und eine 16-Jährige das Tragen des Schleiers in gleicher Weise reflektieren können, wirkt nicht sonderlich professionell.
Die politische Dimension der Terre des Femmes-Position – schließlich geht es nicht zuletzt auch um Frauenbilder und die Frage, wie weit Kinder religiösem Einfluss ausgesetzt sein sollten1 – wird ausgeblendet. Anstatt auf eine gesellschaftliche Debatte setzt das Netzwerk hier auf das Elternrecht. Damit spielt die Stellungnahme der religiösen Rechten in die Karten, die seit jeher Kinder als „Eigentum“ ihrer Eltern resp. der entsprechenden Religionsgemeinschaften ansehen und mit Hinweis auf das Elternrecht beispielsweise gegen die Teilnahme ihrer Kinder am Biologie- (Evolutionstheorie, Sexualkunde) oder Sportunterricht zu Felde ziehen.
Und das sind nicht die einzigen Punkte, die den Anspruch, eine Versachlichung der Debatte herbeizuführen, fraglich erscheinen lassen. Denn die Terre des Femmes-Aktion Den Kopf frei haben fußt gewissermaßen auf einem ausführlichen Positionspapier zum Thema Vollverschleierung, das viele Punkte, die jetzt wieder diskutiert werden, anspricht2 – etwa Fragen der Religionsfreiheit oder zum Ausschluss verschleierter Frauen von gesellschaftlicher Teilhabe. Trotzdem werden in der Netzwerk-Stellungnahme einige Vorwürfe angebracht, ohne auf die vorliegenden Gegenargumente von Terre des Femmes einzugehen.
Der Verdacht, dass es nicht um Bedenken aus rassismuskritischer Perspektive, sondern in erster Linie um Diffamierung religionskritischer Positionen geht, erhärtet sich durch das Auftreten einer der Erstunterzeichnerinnen, der Professorin Iman Attia, auf einer Antirassismuskonferenz, die von der Bundestagsfraktion Die Linke Anfang März durchgeführt wurde. Dort bezeichnete sie Terre des Femmes als „sehr rassistisch argumentierende Organisation“.3 Dieses harsche Urteil muss im Kontext ihres identitären Religionsverständnisses gesehen werden.4 Religion erscheint bei ihr nicht als Ideologie, die jemand annimmt, im Zuge eines Emanzipationsprozesses aber auch wieder verwerfen kann, sondern als ein persönliches Merkmal. Dass Religionen Vorstellungen enthalten, wie das Zusammenleben zu gestalten sei, dass sie diese in Vorschriften gießen und Institutionen oder soziale Mechanismen hervorgebracht haben, die deren Einhaltung kontrollieren und gegebenenfalls durchsetzen, fällt bei ihr unter den Tisch (explizit suggeriert sie, dass es keinen Zusammenhang zwischen den Vorgaben religiöser Schriften und real existierendem Sexismus gäbe) – was im 40. Jahr der Islamischen Republik Iran bestenfalls tragikomisch wirkt. Unter dieser Perspektive steht grundsätzliche Religionskritik sofort unter Rassismusverdacht. Selbst der Hinweis auf eine konkrete religiös motivierte oder begründete Einschränkung von Menschenrechten (wie Ablehnung der Kinderverschleierung durch Terre des Femmes) wird von ihr zum Angriff auf „die Muslime“ umgedeutet.
Die Netzwerk-Stellungnahme verzichtet auf schrille Töne, doch es wird eine ähnliche Auffassung von Religion erkennbar. Mit Formulierungen wie, die „Forderung nach einem Kopftuchverbot“ befördere eine „einseitige Polarisierung der Debatte über den Islam“, suggeriert das Netzwerk, dass der Schutz von Mädchen vor einer Verschleierung bereits im Kindesalter „den Islam“ treffe. Auch in diesem Punkt übernehmen die Initiator_innen des Aufrufs unreflektiert die Position der religiösen Rechten, die von einer einheitlichen Islaminterpretation ausgehen (hier treffen sich bezeichnenderweise die Auffassungen der religiösen und der rassistischen Rechten, wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen). Aber das „Kopftuch“ (der verharmlosende Begriff wird durchgängig verwendet) steht nicht für die Lebensrealität der Musliminnen in Deutschland, und Kinder werden nur in wenigen extrem konservativen Familien verschleiert. Von dieser Seite wird die Polarisierung der Debatte und die Vereinnahmung der vielen liberalen oder säkularen Muslim_innen, die mit dem „Kinderkopftuch“ nichts am Hut haben, betrieben.
Das antiemanzipatorische Potential der Netzwerk-Stellungnahme zeigt sich auch an der These, die „Entschleierung“ sei „eine koloniale Tradition, in der es darum geht, der als anders wahrgenommenen Frau vorzuschreiben, was Emanzipation ist und wie diese für sie auszusehen hat“. Aber das Denkmal in Kairo, das eine Frau zeigt, die selbstbewusst den Schleier ablegt, wurde nicht im Auftrag der britischen Kolonialbehörden errichtet. Und wer sich Fotos ansieht, Straßenszenen aus arabischen, levantinischen oder iranischen Städten aus der Zeit nach der Unabhängigkeit der Länder, erkennt schnell, dass es sich bei derlei Behauptungen um kulturrelativistische Propaganda handelt, die durch das Eintreten vieler arabischer, levantinischer oder iranischer Frauen für ihre Freiheit widerlegt wird.5
Politik fürs 19. Jahrhundert
Doch es geht nicht um Meinungsverschiedenheiten, um unterschiedliche Analysen, die im wissenschaftlichen Diskurs auf ihre Stichhaltigkeit hin verglichen werden. Die Diffamierung der laizistisch argumentierenden Gesellschaftskritik hat eine politische Funktion, sie muss im Kontext der aktuellen Debatten über die Stellung der Religionsgesellschaften gesehen werden. Die demographische Entwicklung hat dazu geführt, dass das überkommene Privilegiensystem der Kirchen in die Kritik geraten ist. Die grundlegenden Alternativen wären, weiteren Religionsgesellschaften Privilegien einzuräumen oder die Privilegien weitestgehend abzuschaffen und so religiöse Organisationen den anderen zivilgesellschaftlichen Kräften gleichzustellen. Es dürfte wenig überraschend sein, dass die Fürsprecherinnen für die Beibehaltung des aktuellen Modells aus den Religionsgemeinschaften kommen, die davon profitieren bzw. hoffen, zukünftig davon zu profitieren – von den Kirchen über die Zeugen Jehovas bis hin zum Zentralrat der Muslime. Erklärungsbedürftig ist hingegen, warum die Partei Die Linke, die bislang eher auf eine stärkere Trennung von Staat und Kirchen ausgerichtet war, seit einiger Zeit den säkularen Kräften die kalte Schulter zeigt und die Ausweitung der Kirchenprivilegien fordert.
Der Zeitpunkt dieses Politikwechsels lässt sich relativ genau eingrenzen, näm lich kurze Zeit, nachdem Christine Buchholz den Posten der religionspolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion übernommen hatte. Seitdem hofiert sie die konservativen Islamverbände, attackiert innerparteiliche Bestrebungen für mehr Laizismus in Deutschland und bemüht sich unermüdlich, Kritik an reaktionären Gesellschaftsvorstellungen, sofern diese islamisch begründet werden, als AfD-Positionen zu denunzieren.6 Mittlerweile fordert sie sogar die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an islamische Organisationen (was ganz automatisch bereits einige Privilegien, vor allem im finanziellen Bereich, mit sich bringen würde).7
Der Körperschaftsstatus für Religionsgemeinschaften ist ein Modell, das die gesellschaftlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts widerspiegelt und nicht am Individuum orientiert ist, sondern an den Organisationen, die angeblich alle in einem Gemeinwesen lebenden Menschen erfassen. Es steht insofern autoritären korporatistischen Vorstellungen deutlich näher als demokratischen, auf Selbstbestimmung und Emanzipation ausgerichteten Traditionen. Als Modell für das 21. Jahrhundert taugt es angesichts der deutlichen Ausdifferenzierung der Gesellschaft nichts – es sei denn, die Menschen werden wieder festen Identitäten und Gruppen zugewiesen.
Christine Buchholz hat ihr politisches Koordinatensystem längst darauf ausgerichtet. Laizistische Muslim_innen oder Laizst_innen aus muslimisch geprägten Ländern spielen in ihren Überlegungen keine Rolle. Auch auf der Antirassismuskonferenz waren für die Diskussionsforen zwar Vertreterinnen von Inssan e.V. und des Zentralrats der Muslime sowie Khola Hübsch von der Ahmadiyya geladen – aber niemand aus dem säkularen Spektrum. Als eine junge Frau aus dem Publikum dies ansprach, wurde sie von Professorin Attia mit den Worten, sie habe wohl „nicht zugehört, nichts verstanden“ ebenso arrogant wie autoritär niedergebügelt; eine sachliche Antwort erhielt sie nicht.
Die Querfront gegen Säkularismus hat sich auf die Seite der Orthodoxie geschlagen. Auf der Grundlagen einer falschen theoretischen Analyse, die den Ideologiecharakter von Religion verkennt, wird Laizismus als Modell der Ausgrenzung von Minderheitenreligionen bzw. von deren Anhängern denunziert. Da diese, ebenso falsch, allein als Zugewanderte identifiziert werden, wird die Ablehnung von Privilegien für (insbesondere die islamischen) Religionsgemeinschaften als „rassistisch“ diffamiert. Damit erscheint als einzige legitime linke Position: die Erhaltung der bestehenden Ordnung.
Iman Attia, Christine Buchholz und Co. markieren den identitären Back
lash, der die Linke (nicht nur die Partei, sondern die ganze politische Strömung) gerade trifft. Vorstellungen von Emanzipation gehen in kollektiver Identitätsbegeisterung unter. Die Grenze nach rechts verschwimmt (Buchholz betonte auf der Konferenz, dass sie alle gegen „antimuslimischen Rassismus“ verteidigen wird, gleichgültig welche Interpretation des Islams die Betreffenden vertreten). Wer zugehört und verstanden hat, weiß dann auch, worauf diese Politik hinausläuft: Es wird keine gesellschaftlichen Veränderungen geben, sondern im Rahmen des bestehenden Privilegiensystems eine Stärkung der konservativen Islamverbände und damit der religiösen Rechten zu Lasten der säkularen Kräfte – gerade unter den Zugewanderten. Auch das ist Ausdruck des Rechtsrucks in unserer Gesellschaft.
Anmerkungen
1 Einen Eindruck der Folgen, wenn religiöser Eifer ungebremst auf Kinder trifft, vermitteln die Erfahrungsberichte in: Rolf Cantzen (Hrsg.): Ich bin hinter dir. Katholische Internatsgeschichten. Aschaffenburg 2012.
2 Vgl. https://www.frauenrechte.de/online/rss/282-tdf-positionen/3290-argumente-von-terre-des-femmes-menschenrechte-fuer-die-frau-e-v-zur-debatte-um-die-vollverschleierung. Vgl. dazu auch das Interview mit einer der Autorinnen in MIZ 1/18.
3 Vgl. die Dokumentation der Einführungsveranstaltung, https://www.youtube.com/watch?v=inMcsSwHOZ0; vgl. auch Martin Niewendick: Was ich bei der Antirassismus-Konferenz der Linken erlebte, https://www.welt.de/politik/deutschland/article189663021/Umgang-mit-Antisemitismus-Was-ich-bei-der-Antirassismus-Konferenz-der-Linken-erlebte.html (Zugriff 15.4.2019)
4 Der auf Youtube zu sehende Vortrag auf der Konferenz war wenig konsistent, historisch in mehreren Punkten fehlerhaft und von starken Wertungen geprägt. Sachlicher ihr Beitrag in Antimuslimischer Rassismus am rechten Rand, Münster 2014 (S. 9-33); allerdings ist ihr identitäres Religionsverständnis in Ansätzen auch hier bereits erkennbar.
5 Vgl. die zahlreichen Posts von Emrah Erken in der Facebook-Gruppe Before Sharia spoiled everything.
6 Vgl. Gunnar Schedel: Privilegien für die religiöse Rechte, hpd.de/artikel/privilegien-fuer-religioese-rechte-14746. Dass die AfD keine laizistischen Positionen vertritt, geht unmissverständlich aus ihrem Bundestagswahlprogramm hervor (vgl.
MIZ 2/17, S. 4-11).
7 Vgl. https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/religionsfreiheit-verteidigen-nein-zur-hetze-gegen-den-islam/; manchmal benennt sie die einzelnen Privilegien (vgl. http://christinebuchholz.de/2018/11/27/gleichberechtigung-von-muslimen-bundesregierung-muss-liefern/, Zugriff am 15.4.2019).