Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 3/20 | Geschrieben von Nicole Thies

Zweigeteilte Einheitlichkeit

Die MIZ-Redaktion entschied sich für eine Zweiteilung des Themas 1989/90. Der erste Teil (MIZ 3/19) blickte unter säkularer Perspektive auf die DDR vor 1989 zurück. Dieses Heft beschäftigt sich mit 1989/90 und danach.

Der Einheitsvertrag hat bis heute – 30 Jahre danach – Konsequenzen: u.a. Paragraphen, die die DDR abgeschafft hatte, wie die §§ 175, 218 StGB fanden ihre Wiedereinführung (letzterer mit Zwischenregelung bis Mitte der 90er). Diese wenigen Monate nachdem der Wille zur gesellschaftlichen Veränderung bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 bereits gebrochen war. Der Wind, der blies, hieß Einheit. Mehr als überstürzt. Nicht zuletzt, weil es konservative Machtverhältnisse vermochten, Meinungen innerhalb weniger Monate so zu bilden, dass es zur „Einheit“ kam.1

Heute blicken wir oftmals einer 
„Zweiteilung“ ins Auge – wenn es um statistische Erhebungen geht: Wahlergebnisse oder Konfessions­zugehörig­keit etc.

Zunächst gilt es zu konstatieren: In den späten 80er Jahren gab es für Westdeutsche + die Flüchtlinge aus der DDR eine (gemeinsame) Geschichte, die sich auch in den Folgejahren zu einer „BRD – reloaded“ entwickelt hat. Denn es gab eine Geschichte von Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden, aber dann in die BRD eingebürgert wurden bzw. durch den Einheitsvertrag übernommen wurden. Wie bewusst waren die kalkulierbaren Nebeneffekte – neben den wirtschaftlichen Fragestellungen – bis heute?
Der Vertrag über den Beitritt der DDR zur BRD bedeutete für Ostdeutsche ein auf „Null-gesetzt“. Für Ostdeutsche war dies eine einschneidende Zäsur: ökonomische Existenzsicherung, Verlust, Neuorientierung etc.

Wir haben Horst Groschopp, Viola 
Hellmann, Elke Prinz, Jana Steinhaus und Viola Schubert-Lehnhardt um kurze 
Statements zu folgenden Themen gebeten: säkulare Kultur, Schwanger
schaftsabbruch, Selbstbestim­mungs­recht Homosexueller, „DDR-Erbe“ über Generationen hinweg und Wissenschaft & Forschung. Damit wollten wir säkularen Ostdeutschen ein Forum bieten, ihre Sicht auf Selbstbestimmung nach 1989/90 sowie auf Brüche und Fortschreibungen in sozialen und akademischen Teilbereichen darzustellen.

Jubiläen blicken zurück, ziehen Bilanz. Drei Aspekte bilden über die Kurzinterviews hinaus den Schwer­punkt: Trennung von Staat und Kirche, Frauenleben, säkulare Interessen­vertretung Ost und die Rolle der Kirchen 1989/90. Leitfrage: Wo lagen die ausgebliebenen Chancen 1989/90 aus säkularer Sicht? Zur Trennung von Staat und Kirche im Beitrittsvertrag sicherlich, wie Gerhard Czermak ausführt. Da war Beitritt einfach Übernahme trotz der Konfessionslosenzahlen. Diese verpassten Chancen verwundern insbesondere in Hinblick auf gemeinsame Interessenvertretungen. War der urteilende Blick von oben herab Ursache für den ausgebliebenen Dialog zwischen Ost und West? In Bezug auf die verpassten Chancen der gemeinsamen Organisationsformen kommt Gunnar Schedel zu dem Schluss, dass das damalige politische Kräfteverhältnis keine Chance geboten hätte.

Viele Frauen waren wohl die Verlie­rerinnen im postsozialistischen Trans­formationsprozess. Dass es aber ein Erbe gibt, aus dem wir heute noch schöpfen können, und dass gerade auch beim Kampf um das reproduktive Selbstbestimmungsrecht § 218/19 StGB, zeigt Ursula Schröter.

Einen Blick auf die Rolle der Kirche wirft Karsten Krampitz.

Ich war noch jung, aber ich war alt genug, um aus Gesprächen zu lernen: Zur Rolle der Kirche in der späten DDR fällt mir ein ambivalentes Bild ein. Es gab Namen und Adressen, wo andersdenkende und -fühlende Menschen sich versammelten, private Wohnungen, auch Kirchen. Aber nicht überall, eben nicht in jeder Region hielten Pfarrer_innen die Türen offen. Im Verlaufe der Jahre habe ich mir deshalb abgewöhnt, über „die Kirche“ in der DDR zu sprechen. Ebenso wie es Pfarrer_innen gab, die sich in den 90er Jahren von der Kirche abgewandt haben, weil sie ihre friedenspolitischen Ideale nicht wiederfanden. Oder ganz schlicht keine Lust auf Rechtfertigung hatten, dass nun die Kirche vollautomatisch mit der Taufe Kirchensteuer zwangseinzog.

Das Bild ist vielschichtig ...

Anmerkungen

1 Daniela Dahn und Rainer Mausfeld hinterfragen diese historische Leerstelle und ihre Konsequenzen aus den Jahren 1989/90 bis heute im Buch „Tamtam und Tabu“ (siehe Rezensionen).