Schon in den 1960ern hatte eine über die CIA finanzierte Untergrundbewegung namens Chusi Gangdruk zahllose Terroranschläge gegen die chinesische Volksbefreiungsarmee und nachrückende chinesische Siedler durchgeführt. Kopf der Guerilla war Gyalo Thöndup, einer der älteren Brüder des Dalai Lama. Die CIA hatte ab 1958 eine Gruppe von 400 Chusi Gangdruk-Kämpfern in Camp Hale, einem Trainingszentrum der CIA in den Rocky Mountains, zur Durchführung gezielter Kommandoattacken, ausgebildet. Weitere Kampfeinheiten wurden in einer streng abgeschirmten Operationsbasis des ehemaligen Königreiches Lo trainiert, einer auf dem tibetischen Hochplateau gelegenen, politisch jedoch dem Staatsgebiet Nepal zugehörigen Bergregion im Nordwesten des Landes. Der Terror der Chusi Gangdruk wurde bis Anfang der 1970er mit jährlich 1,7 Millionen US-Dollar aus einem eigens aufgelegten Sonderprogramm der CIA subventioniert. Der Dalai Lama erhielt aus dem gleichen Fonds 186.000 US-Dollar pro Jahr zu persönlicher Verfügung. Nachdem er den Erhalt dieser Gelder und seine Verbindung zur CIA jahrzehntelang abgestritten hatte, mußte er Ende der 1990er zugeben, gelogen zu haben.1 Neben der zeitweise 12.000 Mann umfassenden Chusi Gangdruk gab es eine Reihe kleinerer Terrorgruppen; Ende der 1980er etwa sorgte eine Untergrundorganisation unter der Bezeichnung „Chinesische Häuser anzünden: Sabotage“ für Panik unter chinesischen Siedlern.
Unmittelbar nach der offiziellen Ausrufung der TPUM am 4. Januar 2008 kursierten im Internet erste Gerüchte über geplante Sabotageakte, Terroranschläge und Attentate. Der Dalai Lama selbst ließ keine Gelegenheit ungenutzt, die angeblich „erneut zunehmende Unterdrückung des tibetischen Volkes“ anzuprangern und damit die offen gewaltbereite Stimmung innerhalb des TPUM-Kampfverbandes anzuheizen. In seiner traditionellen Rede zum „Jahrestag des Volksaufstandes von 1959“ am 11. März 2008 behauptete er wahrheitswidrig, die Chinesen machten sich fortgesetzt „zahlreicher, unvorstellbarer und grausamer Menschenrechtsverletzungen“ in Tibet schuldig. Noch am selben Tag kam es in der nepalischen Hauptstadt Kathmandu zu gewalttätigen Ausschreitungen: mehr als 200 Mönche versuchten, die chinesische Botschaft im Stadtzentrum anzugreifen. Weitere Protestaktionen fanden in Neu-Delhi, San Francisco, New York, Marseille, Wien und andernorts statt, auch vor der Ausgrabungsstätte des historischen Olympia in Griechenland. Die Mehrzahl dieser Aktionen verlief friedlich.
Alles andere als friedlich verlief der Protest hingegen in Lhasa: mit Schlagstöcken bewaffnete Mönchstrupps aus dem Kloster Drepung zogen am Abend des 11. März durch die Altstadt, skandierten antichinesische Parolen und schlugen Fensterscheiben von Häusern und Ladengeschäften ein. Die Polizei nahm zahlreiche Verhaftungen vor. Die gezielt provozierten Zusammenstöße der Drepung-Mönche mit der Polizei ließen die Gewalt auf die beiden anderen Großklöster des Lhasa-Tales und weitere Teile der Stadt überspringen: Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge, auch Busse und Privatautos wurden umgeworfen und angezündet, chinesische Häuser und Ladengeschäfte aufgebrochen, geplündert und in Brand gesteckt. Ganze Stra.enzüge wurden verwüstet, Molotowcocktails flogen in Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser. Kursierende Gerüchte über den Opferselbstmord zweier Lamas ließen die Situation weiter eskalieren: Mönche brachen blutige Straßenkämpfe vom Zaun, an denen sich zunehmend auch entsprechend aufgepeitschte Jugendliche beteiligten. Es gab zahlreiche teils schwer Verletzte sowohl auf tibetischer als auch auf chinesischer Seite. Noch bevor nähere Informationen vorlagen, wurde von Tibet-Unterstützergruppen weltweit die chinesische Führung für den Ausbruch der Gewalt verantwortlich gemacht. Die Rede war vom „berechtigten und absolut friedfertigen Protest des tibetischen Volkes“, der von chinesischem Militär zusammengeknüppelt und niedergeschossen worden sei. Mehr als 100 Tibeter seien seit Beginn der Unruhen zu Tode gekommen. Gegen die ungeheuere Brutalität der Chinesen habe es vereinzelte Gegenwehr gegeben, was die Bilder um sich schlagender Mönche und Steine werfender Jugendlicher erkläre.
In zahlreichen West-Ländern wurden „spontane“ Solidaritätskundgebungen für den „tibetischen Freiheitskampf“ veranstaltet. Auch die Tibet-Initiative Deutschland organisierte umgehend bundesweite Demonstrationszüge und Mahnwachen. US-Präsident Bush und Kanzlerin Merkel forderten Beijing zu sofortiger Einstellung aller Kampfhandlungen und zu umgehenden Gesprächen mit dem Dalai Lama als „spirituellem Oberhaupt der Tibeter“ auf, der als einziger die „Tibetfrage“ zu lösen imstande sei. Die tatsächliche Rolle des Dalai Lama, der mit seiner Rede zum 11. März die Lunte ans Pulverfass des TPUM-Terrors gelegt hatte – auch an anderen Orten der Autonomen Region Tibet und in den Nachbarprovinzen Sichuan, Qinghai und Gansu kam es zu gezielten Übergriffen gegen Sicherheitskräfte und die chinesische Zivilbevölkerung –, wurde konsequent ausgeblendet. Desgleichen der Umstand, dass es sich keineswegs um einen „Volksaufstand“ handelte, wie allenthalben behauptet wurde, sondern dass die Verwüstungen und Gewaltakte von relativ kleinen Tätergruppen verübt worden waren, die keineswegs Rückhalt in der tibetischen Bevölkerung fanden. Unerwähnt blieb auch, dass es neben dem Dalai Lama eine Vielzahl weiterer buddhistisch-religiöser Oberhäupter in Tibet und den Nachbarprovinzen gibt, die dessen Kurs nicht mittragen.
Die öffentliche Ordnung in Lhasa wurde durch massive Präsenz von Polizei und Militär auf den Straßen wiederhergestellt. Offiziellen Angaben zufolge gab es im Zuge über mehrere Tage hinweg immer wieder auflodernden Ausschreitungen zehn Tote: Opfer vor allem der Brandanschläge auf chinesische Häuser und Läden. Die Zahl der Verletzten lag bei über 600. Auch an den anderen Orten, an denen Protestkundgebungen und „direct actions“ stattfanden, gab es Schwerverletzte und Tote. Wie die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua mitteilte, seien insgesamt 22 Menschen zu Tode gekommen. Behauptungen des Dalai Lama, chinesisches Militär habe mehrfach in die Menge geschossen, wobei „mehrere hundert Tibeter getötetet“ worden seien, erwiesen sich als völlig aus der Luft gegriffen, waren aber dazu angetan, die Lage weiter anzuheizen. In zahlreichen Städten rund um den Globus verschärften sich die Proteste der örtlichen Tibeter-Vereine und Tibet-Unterstützergruppen: in Sydney, Zürich und München kam es zu massiven Zusammenstößen zwischen Ordnungskräften und Pro-Tibet-Aktivisten.
Der Dalai Lama und seine Verlautbarungsorgane setzten ihre Propaganda systematisch fort. In den bürgerlichen West-Medien wurden die frei Haus gelieferten Behauptungen aus Dharamsala ohne die geringste journalistische Distanz oder Gegenrecherche weiterverbreitet: von der „unmenschlichen Brutalität der chinesischen Machthaber“, den „grausamen Menschenrechtsverletzungen“, dem „Völkermord auf dem Dach der Welt“. Selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurden die Gruppen junger Tibeter, die da vandalierend, plündernd und Brände legend durch die Straßen zogen und auf jeden einprügelten, der nicht tibetisch genug aussah, als im Grunde friedliche Demonstranten dargestellt, die von einer brutalen Militärdiktatur an der Ausübung elementarster Rechte gehindert würden. Verfügliches Bildmaterial wurde entweder gar nicht gezeigt oder manipuliert beziehungsweise mit falschen oder irreführenden Kommentaren versehen.
Beifall aus dem Westen
In zahllosen Internetforen und -blogs wurde Verständnis und Sympathie für die – letztlich unabstreitbar von tibetischer Seite ausgehende – Gewalt geäußert, die, umstilisiert zum „heroischen Befeiungskampf eines seit 50 Jahren gnadenlos unterdrückten Volkes“, jede Unterstützung der „freien Welt“ verdiene. Schuld an den Ausschreitungen trüge allemal Beijing, den Tibetern sei gar keine andere Wahl geblieben, als sich mit Gewalt zur Wehr zu setzen, was sie nun endlich täten. Wenn es dabei gelegentlich zu Gewaltexzessen komme, sei dies durchaus nachvollziehbar: es entlade sich nur der „über Jahrzehnte aufgestaute Hass gegen die chinesischen Besatzer“. Bei YouTube eingestellte Handyvideos von Touristen, die den blanken Terror in Lhasa, Ngawa (Sichuan), Xiahe (Gansu) und andernorts dokumentierten, wurden in kürzester Zeit millionenfach angeklickt und mit hunderttausenden von – zu etwa 80 Prozent pro-tibetischen – Kommentaren versehen.2 Alle Welt sprach von Tibet und seinem „verzweifelten Kampf um Freiheit“.
Auch die westlichen Printmedien und TV-Nachrichten verlagerten sich zunehmend auf die Argumentationslinie, die Ausschreitungen seien zwar zu verurteilen, letztlich aber vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Unterdrückungspolitik Beijings verständlich und als „Ausdruck der Verzweiflung“ (NZZ) oder „Schrei nach Freiheit“ (Tagesspiegel) vielleicht sogar legitim. Die TPUM-Strategie war voll aufgegangen. „Die Palästinenser“, wie es etwa in einem Kommentar auf WELT-online hieß, „haben ihren Fall in den 60er- und 70er-Jahren vor allem mit Flugzeugentführungen und Terroranschlägen auf die internationale Agenda gesetzt. Auch die Protestanten in Nordirland haben gezeigt, dass Terror funktioniert. Es ist schwer vorstellbar, dass sie es ohne die Anschläge der IRA bis zur Beteiligung an der nordirischen Regierung gebracht hätten. Im Vergleich dazu hat sich die Lage der Tibeter eher verschlechtert als verbessert. Die Lehren, die Unabhängigkeitsbewegungen daraus ziehen werden, sind klar: Nur wenn man sich mit terroristischer Gewalt auf die Weltbühne bombt, wird man irgendwann als politischer Verhandlungspartner akzeptiert.“3
Unterdessen konnte der Dalai Lama sich zurücklehnen und verkünden, China habe „als das größte Land der Welt ein Anrecht auf die Olympiade“. Die olympischen Regeln verlangten aber, dass im Gastgeberland der Spiele die Menschenrechte eingehalten würden. Da dies in China nicht der Fall sei, habe Beijing eben doch kein Anrecht. Eine Woche nach seiner Brandrede vom 11. März kehrte er zu seiner geübten Rhetorik der Friedfertigkeit zurück: in einer Fernsehansprache appellierte er an seine Landsleute, sich bei weiterem Protest „exzessiver Gewalt“ zu enthalten, ansonsten sehe er sich zum Rücktritt von seinem Amte genötigt. Der Appell erzielte den beabsichtigten Effekt: „Seine Heiligkeit“ war, zumindest in den West-Medien, schlagartig von jedem Verdachte reingewaschen – das chinesische Staatsfernsehen hatte ihn insofern als „Wolf im Mönchsgewand“ bezeichnet –, er selbst und seine Clique seien Drahtzieher der Ausschreitungen gewesen. Gegen die fortdauernde Gewalt bewirkte der Aufruf gar nichts. Kurze Zeit später wurde die Rücktrittsdrohung wieder zurückgenommen: selbstredend, so sein Pressesprecher, bleibe der Dalai Lama seinem Volke als „geistlicher und politischer Führer“ erhalten.
Anmerkungen
1 Conboy, Kenneth/Morrison, James: The CIA’s Secret War in Tibet. Lawrence, 2002.
2 www.youtube.com/watch?v=uSQnK5FcKas [20.3.2008].
3 http://www.welt.de/welt_print/article1807722/China_frdert_den_Terrorismus.html; http://www.youtube.com/watch?v=uSQnK5FcKas [18.3.2008].
Informationen
Der Dalai Lama behauptete auf einer Pressekonferenz am 29. März 2008 die Krawalle in Lhasa und andernorts seien nicht von Mönchen seines Gelbmützenordens vom Zaune gebrochen worden, sondern von als Mönche verkleideten chinesischen Soldaten. Ein im Internet kursierendes Photo, auf dem uniformierte chinesische Militärs zu sehen sind, die rote Mönchskutten unter dem Arm tragen (auf dem von uns in Schwarzweiß dokumentierten Foto nur bedingt zu erkennen), wurde als unabweisbarer Beleg der Perfidie Beijings dargestellt: es sei von einem britischen Beobachtungssatelliten aus dem All aufgenommen worden und stelle insofern eine „objektive“ Bestätigung der Aussagen des Dalai Lama dar (vgl. www.china-intern.de/page/tibet/1206290688.html [14.4.2008]. Tatsächlich war das Photo schon 2003 im Jahrbuch des in Dharamsala ansässigen Tibetan Centre for Human Rights and Democracy erschienen: ein chinesisches Filmteam, so die seinerzeitige TCHRD-Erklärung, habe eine Geschichte über Mönche in Tibet drehen wollen, diese aber hätten sich geweigert mitzumachen; daraufhin habe das Filmteam entsprechend ausstaffierte Soldaten als Statisten eingesetzt. Ein Sprecher des TCHRD musste letztlich einräumen, dass es sich in der Tat um Film-Statisten aus dem Jahr 2001 handelte. Die Story mit dem Satellitenphoto war frei erfunden. Kaum war ein Fake aufgedeckt, wurden weitere gefakete „Beweisphotos“ für die von „Chinesen inszenierten Gewaltausbrüche“ ins Netz gestellt: weitverbreitet fand sich etwa das Photo eines schwertschwingenden Mannes in traditioneller tibetischer Kleidung, bei dem es sich um einen kostümierten chinesischen Polizisten gehandelt haben soll, den eine namentlich nicht genannte Thailänderin im Fernsehen als solchen erkannt haben wollte.