Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/23 | Geschrieben von Stephan Mögle-Stadel

Menschenrechte für alle – im Heimatland Erde

Garry Sol Davis und die Weltbürgerbewegung von 1948

Eigentlich war Garry Sol Davis ein Anarchist mit globalem Verantwortungsbewusstsein. Als Pilot einer „fliegenden Festung“ (B-17 Bomber) im Zweiten Weltkrieg wurde er über Peenemünde von der deutschen Flak abgeschossen und schaffte es noch über die Ostsee nach Schweden. Kampfflieger wurde er nur, weil die Wehrmacht seinen älteren Bruder tötete. „Er war mein großes Vorbild, ich handelte im Affekt, als ich mich zur Luftwaffe meldete. Aber je mehr Bomben ich auf Deutschland abwarf, desto schlechter fühlte ich mich. Und in mir entstand die Frage: wie lassen sich Nationalismus und Kriege verhindern?“

Paris 1948. Die Generalversammlung der Mitte 1945 gegründeten Vereinten Nationen tagte im Palais de Chaillot am Place du Trocadéro – mit Blick zum Eiffelturm und zum Champ de Mars. Auf der Tagesordnung stand die Debatte über ein Papier das sich „Entwurf zu einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR) nannte. Ausgearbeitet hatte es eine UNO-Kommission unter dem Vorsitz von Eleanor Roosevelt, der streitbaren und kosmopolitisch orientierten Gattin des 1945 verstorbenen US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt. Eleanor kannte den sozialistischen Schriftsteller H.G. Wells persönlich und bekam von ihm sein 1940 publiziertes Büchlein The Rights of Man geschenkt, das wiederum von Thomas Paines Schrift von 1791 inspiriert war.

Als die Delegierten der nationalen Regierungsparteien dann 1948 die 30 Artikel dieser Erklärung (AEMR) lasen, darunter u.a. das Verbot von staatlicher Folter und erniedrigender Behandlung, (Art. 5), Rechtsschutz vor staatlicher Willkür (Art. 8), Recht auf Asyl (Art. 14), Gewissens- und Religionsfreiheit, auch Freiheit von Religionszugehörigkeit (Art. 18), Recht auf freie Berufswahl und befriedigende Arbeitsbedingungen (Art. 23), Recht auf Begrenzung der Arbeitszeit und bezahlten Urlaub (Art.24) sowie das Recht auf Bildung (Art. 26), da waren viele Machthaber und ihre Diplomaten nicht mehr so begeistert – von dem Entwurf und von Eleanor Roosevelt.
Man versuchte also infolgedessen, den Entwurf zu zerreden und die Abstimmung darüber zu verschieben. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der jungen Kriegsveteran Garry S. Davis in Paris und lernte Französisch, u.a. las er den 1942 erschienenen Essay Der Mythos von Sisyphos – Ein Versuch über das Absurde von Albert Camus. In Paris hatte er auch seine Erleuchtung (im Sinne von Enlightenment), wie Nationalismus und Krieg verhindert werden könnten. In einem Nach­kriegseuropa, wo viele Flüchtlinge nicht nur Hab & Gut verloren hatten, sondern auch – bei der Flucht – ihre nationalen Ausweispapiere und nun als „paperless persons“ in Lagern festsaßen, gab Garry bei der US-amerikanischen Botschaft in Paris seinen US-Pass und seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft zurück. Er errichtete sein Zelt als nun staatenloser Weltbürger auf dem für die Dauer der UNO-Sitzung exterritorialen Gelände um das Palais de Chaillot. Einen Ersatzpass verbrannte er dann vor einer Gruppe von neugierigen Journalisten. Die Medienleute langweilten sich in Paris, da es von den trögen Diplomaten keine interessante human interest stories zu berichten gab. Nun aber war es da, das menschliche und menschheitliche Gesicht der Veranstaltung.
Die Fotos des vor dem UNO-Palais kampierenden Weltbürgers gingen um die Welt. Ein „Verrückter“, der freiwillig die siegreiche, US-amerikanische Staats(zuge)hörigkeit aufgab und einen US-Reisepass, mit dem ihm damals fast die ganze Welt offen stand. Noch dazu der Sohn des bekannten Orchester-Leiters Mayer Davis, der bei nationalen Anlässen das US-Festorchester dirigierte. Dies waren Schlagzeilen.
Garry Sol Davis hatte seine Mission gefunden. Und er fand seine Mitstreiter. Der französische Intellektuellen Robert Sarrazac organisierte ein Conseil de solidarité (Solidaritäts-Kreis), dem u.a. Albert Camus, André Breton, Jean Helion, Claude Bourdet (Herausgeber des Combat), George Altman (Heraus­geber des Franc-Tireur) und Jean-Paul Sartre angehörten.

Die Operation „Oran“1

Am 19. November 1948 schlichen sich die Weltbürger dann auf Zuschauer­tribüne und -balkon des großen Sit­zungs­saales ein. Übertragen vom fran­zösischen Staatsfernsehen unterbrachen sie die UNO-Sitzung mit dem Verlesen einer Weltbürger-Erklärung in mehreren Sprachen, in der sie forderten, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Bestandteil einer zur Weltverfassung überarbeiteten UNO-Charta verabschiedet werden soll. Im März 1948 hatte die Rechtsfakultät der Universität Chicago einen Vorentwurf zu einer solchen Weltverfassung2 publiziert, der auf eine Anregung von u.a. Thomas Mann in The City of Man. A Declaration of World Democracy (1941 bei Viking Press) basierte.

Die Rechte des Menschen & der Menschen als einklagbarer Bestand­teil eines übernationalen Rechts­sys­tems. Das wäre ein großer Schritt vorwärts gewesen nach den Massakern des Ersten und des Zweiten Welt­krieges, den Konzentrations- und Vernichtungslagern, den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Ein zu großer Schritt für die Mehrzahl der Delegierten und ihre Politherren.
In der am 19.11.1948 von dem Weltbürgern besetzten UNO-Versamm­lung fand sich als Gast der schwedischen Delegation auch der Staatsbeamte Dag Hammarskjöld, und oben auf einem der Balkone saß ein Student der Politologie und Diplomatie aus Ägypten namens Boutros-Ghali. Dag Hammarskjöld war dann später von 1953 bis zu seiner Ermordung 1961, durch westliche Geheimdienste im Auftrag der Anteilseigner eines Bergbaukonzerns mit Geschäftssitz in Brüssel, der bislang erfolgreichste UNO-Generalsekretär aller Zeiten. Als Kosmopolit ignorierte er z.B. 1956 das Veto im UN-Sicherheitsrat und gründete trotzdem mit Hilfe einer Mehrheit in der Vollversammlung die UNO-Blauhelme...
Boutros-Ghali wurde dann von 1992 bis 1996 UNO-Chef und durch ein Veto der USA an der Wiederwahl gehindert und aus der UNO gemobbt, da er offen bekundete („Agenda for Peace“) zur unabhängigen UNO-Zeit von Dag Hammarskjöld zurückkehren zu wollen.
Garry Davis hatte sich 1954 einen Weltbürgerpass drucken lassen, der mittlerweile von sieben kleineren Staaten anerkannt ist, und ins ersten Exemplar noch die Unterschrift von Dag Hammarskjöld hineingedruckt. Dieser verzichtete auf eine Strafanzeige wegen Urkundenfälschung, was viele verwunderte, aber im Hinblick auf sein damaliges inkognito Dabeisein, als Garry, Albert Camus & Co. die UNO besetzten, etwas verständlicher wird.3
Aber zunächst einmal blockierten WeltbürgerInnen aus aller Welt ab dem 19.11.1948 tagtäglich die Straßen und Zugänge um das Palais de Chaillot zu Sitzblockaden. Damals noch ohne Sekundenkleber. Die TV-Berichte der Wochenschauen zeigen, wie diese Frauen & Männer immer wieder von französischen Gendarmen weggetragen wurden. Der berechtigte zivile Ungehorsam der Letzten Generation vor den Kipp-Punkten hat also durchaus Vorbilder, welche über die 68er-Generation hinausreichen – bis hin zur Weltbürgerbewegung (WBB) von 1948.

Machtvolle Demonstration

Am 9. Dezember 1948, zwei Tage bevor die UNO-Delegierten sich (ohne Abstimmung) in die Weihnachts­ferien verabschieden wollten, hatte die WBB ihre eindrucksvollste Macht­demonstration. Über 20.000 Menschen füllten das Pariser Vélodrôme d’Hiver – das gelang damals nur zwei Figuren: dem KP-Chef Maurice Thorez und Ge­neral de Gaulle. Die Radrennbahn war ein historischer Ort, 1942 inhaftierten die Nazis dort fast 7000 jüdische Menschen (darunter viele Kinder), bevor diese in die KZs abtransportiert wurden. Der dokumentarische Spielfilm Die Kinder von Paris zeigt diesen Ort im Detail. Diese 20.000 „Weltbürger“ unterzeichneten zusammen mit den vielen Prominenten einen letzten Aufruf an die UNO-Versammlung. Zuvor gab es in Berlin, London und New York Solidarversammlung. Der Ehren­vor­sitzende der New Yorker Versamm­lung war Albert Einstein.4

Nach diesem medialen Volksauf­stand unterzeichneten die Delegierten am 10. Dezember dann doch noch die Allgemeine Erklärung der Men­schenrechte.
Diese war also kein Geschenk der Regierungen, sondern wurde von einer übernationalen Weltbürgerinitiative erkämpft. Und ein Mensch, Garry Davis, war „verrückt“ genug, den Stein des Sisyphos anzustoßen.
Warum dann die Weltbürger­bewe­gung im Treibsand der Geschichte verschwunden ist und welche Folgen dies für die Dynamik der Weltgeschichte hatte und hat, dies beschreibe ich u.a. in dem aktuellen Buch Die Grenze. Kollektive Selbst(zer)störung. Eine Ant­wort an den Club of Rome.

Anmerkungen

1 In Anspielung auf eine Stadt in Camus’ Novelle Die Pest.
2 Auf Deutsch 1951 unter dem etwas irreführenden Titel Ist eine Weltregierung möglich? beim S. Fischer Verlag in Frankfurt.
3 Ich beschreibe diese Dinge ausführlicher in der Biografie von Garry und der Weltbürgerbewegung unter dem Titel Heimatland: Erde, wo Garry auf dem Titelcover eine Weltbürgerflagge vor dem UNO-Gebäude in New York schwenkt: „World Citizenship is Freedom, Peace & Abundance“.
Die Beschreibung der Weiterführung der Weltbürgeridee innerhalb der UNO durch Hammarskjöld findet sich in meinem Buch Dag Hammarskjöld – Pionier einer Mensch­heitspolitik (ALV). Und mit Boutros-Ghali durfte ich 1993 das Buch UN-organisierte Welt publizieren.
4 Siehe sein Buch Über den Frieden – Welt­ordnung oder Weltuntergang?, Herbert Lang Verlag, Bern 1975.