Am 7. Januar 2025, dem 10. Jahrestag des mörderischen Anschlags auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, soll es soweit sein: dann soll, wer im Strafgesetzbuch den § 166 aufblättert, nur noch lesen: „weggefallen“. Notwendig dafür wäre eine Gesetzesinitiative, und um die anzuschieben, hat die gbs eine Petition initiiert, die dann beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages einzureichen geplant ist. Begleitet werden soll die Sammlung von Unterschriften durch eine Kampagne, an der sich auch viele Künstlerinnen nd Künstler beteiligen werden.
Die Argumente gegen den § 166 StGB liegen seit Jahren auf der Hand. Denn der „Gotteslästerungsparagraf“ betreibt eine besonders perfide Täter-Opfer-Umkehr. Auf der Kampagnen-Webseite wird dies mit einem Beispiel veranschaulicht: „Nach deutschem Recht hätten die überlebenden Mitglieder der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo verurteilt werden müssen, da ihre Zeichnungen Fundamentalisten dazu animierten, Terrorakte zu begehen. ... Eine skandalöse Umkehrung des Täter-Opfer-Prinzips! Denn selbstverständlich wird der öffentliche Friede nicht durch Künstlerinnen und Künstler gestört, die auf dem Boden des Grundgesetzes Religionen satirisch aufs Korn nehmen, sondern durch religiöse Fanatiker, die es nicht gelernt haben, auf Kritik in angemessener Weise zu reagieren.“
Ob es in den kommenden Monaten gelingen wird, den § 166 StGB Geschichte werden zu lassen, ist fraglich. Aber darum geht es bei diesem Thema ohnehin erst in zweiter Linie. Denn dass es in Frankreich kein Äquivalent zum § 166 gab, hat der Charlie Hebdo-Redaktion nichts genutzt. Bei der Debatte um, vor allem satirische, Religions- und Kirchenkritik wird ausverhandelt, welche Form, welcher Tonfall von Kritik gesellschaftlich akzeptiert ist. Bei keinem anderen Thema lassen sich die Grenzen der Meinungsfreiheit besser ausloten. Und dabei ist der gesetzliche Rahmen nur ein Aspekt.
Während derzeit aufgrund der weit verbreiteten Empörung über das Verhalten der Kirchen beim Thema „Missbrauch“ über jede noch so freche Karikatur über Papst, Priester & Co. gelacht wird, sieht es anders aus, wenn es um „den Islam“ geht. Dann feiert eine Haltung Wiederauferstehung, die vor 25 Jahren oft zu hören war, als über Begriffe wie „Balkensepp“ oder „Lattengustl“ diskutiert wurde: Auch für die Meinungsfreiheit gebe es Grenzen, und es sei schon verständlich, dass Gläubige sich in Gewaltfantasien ergingen, wenn ihre religiösen Gefühle in dieser Weise verletzt würden. Und dass aus den Fantasien längst Taten geworden sind, hat nicht verhindert, dass die Auffassung ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden hat, dass eine Beschränkung der Meinungsfreiheit berechtigt ist, sofern die Kritik auf „den Islam“ zielt.
Hier setzt auch die Free Charlie!-Kampagne an. Die Freiheiten der Kunst, der Meinungsäußerung und der Meinungsbildung seien sehr viel wichtiger „als die bis ins Unendliche skalierbare Verletzbarkeit ‘religiöser Gefühle’“ (als bizarres Beispiel wird der Hass islamischer Fundamentalisten auf ein Sparschwein angeführt). In einer offenen Gesellschaft „sollte jedes Mitglied die Toleranz aufbringen, weltanschaulich-religiöse Beleidigungen ertragen zu können. Wer diese Fähigkeit nicht entwickelt hat, sollte für dieses Defizit nicht noch belohnt werden.“
Gerade mit Blick auf Verfolgte, die aus islamisch geprägten Ländern fliehen mussten, dürfe es kein Verständnis für intolerante Interpretationen von Religion geben. Im Gegenteil, selbst krasse Aktionen wie die Verbrennung eines Korans, müssten im Rahmen dessen bewertet werden, welches Leid Ex-Muslime „unter dem Diktat des islamischen Faschismus“ häufig erfahren haben. Zwar sei gerade aus dem Kontext der deutschen Geschichte jede Bücherverbrennung problematisch, aber die Zerstörung eines Buches sei trotzdem etwas anderes als die „öffentliche Hinrichtung von Zehntausenden von Menschen“, wie es in den Fragen und Antworten auf der Webseite heißt.
Letztlich, so gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon im Interview mit der Westdeutschen Zeitung, werde der „öffentliche Friede sogar auf ein stabileres Fundament“ gestellt, wenn verdeutlicht wird, „dass Intoleranz gegenüber Kritik in unserem Rechtssystem nicht belohnt wird“.
Außerdem käme Deutschland mit der Streichung von § 166 StGB einer Forderung des UN-Menschenrechtskomitees nach, das 2011 erklärte, dass Verbote von Darstellungen mangelnden Respekts vor einer Religion mit den Menschenrechten nicht in Einklang zu bringen sind. Und auch die Betroffenheitsbekundungen, wenn im Iran oder in Saudi-Arabien wieder einmal vermeintliche „Gotteslästerer“ hingerichtet werden, wären dann deutlich glaubwürdiger.
Christian Casutt studierte Informatik, Betriebswirtschaft und Business Marketing. Er richtete zwei Petitionen zur Ablösung der Staatsleistungen an den Landtag von Rheinland-Pfalz. Im Alibri Verlag erschien 2022 sein Buch „Den Bischof zahlt der Staat“. Über die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen.