1978 ist das Jahr, in dem Nina Hagen sang: „Warum soll ich meine Pflicht als Frau erfüll’n? Für wen? Für die? Für dich? Für mich?“ und sich dabei „unbeschreiblich weiblich“ fühlte. 1978 ist auch das Geburtsjahr der Autorin und Dokumentarfilmerin Sarah Diehl, die diesen Song – einer der wenigen, in denen eine Frau ihre Kinderlosigkeit positiv formuliert – in ihrer Streitschrift Die Uhr, die nicht tickt zitiert. 36 Jahre sind vergangen, eine dritte Welle der Frauenbewegung ist über den Globus geschwappt, doch allzu viel hat sich anscheinend nicht getan – eher ist das heutige Mutterideal noch überfrachteter, der Druck, der auf Frauen ausgeübt wird, noch größer geworden. Diehl, die sich seit vielen Jahren mit Gender-Themen und reproduktiven Rechten von Frauen beschäftigt, bekommt den Druck – wortwörtlich – am eigenen Leib zu spüren. Mit 36 ist sie nämlich im besten Alter, um ständig mit der „biologischen Uhr“ konfrontiert zu werden, die angeblich in ihr tickt. Doch Diehl hört das innere Ticken einfach nicht, so genau sie auch hinhört. „Ich bin also eine jener ichbezogenen, kinderfeindlichen, egoistischen und hedonistischen Frauen, die seit einiger Zeit gegen Mütter in Stellung gebracht werden. Eine Latte-macchiato-Kinderlose sozusagen“, stellt sie provokativ fest.
Für ihr Buch hat sie etwa dreißig Frauen unterschiedlichen Alters aus ganz verschiedenen Berufsfeldern und Herkunftsfamilien interviewt. Nur eines haben sie gemeinsam: Die bewusste Entscheidung gegen eigene Kinder. Was nicht bedeutet, dass sie keine Kinder in ihrem Leben haben (wollen). Einige arbeiten in pädagogischen oder pflegerischen Berufen, andere betreuen Kinder von Freund_innen oder Familienangehörigen mit. Wieder andere interessieren sich wenig oder gar nicht für Kinder und setzen andere Prioritäten. Womit Diehl schon mal den ersten Mythos entkräftet: Es gibt nicht die „Essenz“ der kinderlosen Frau.
Die Nicht-Mütter, die sie interviewt hat, sind weder egoistischer noch karrierefixierter noch verbitterter als Mütter. Das „Phantom der späten Reue“, mit dem kinderlose Frauen zur Räson, sprich: doch noch zum Kinderkriegen gebracht werden sollen, existiert in der Realität einfach nicht. Wenn Frauen ihre eigene Entscheidung anzweifeln, so verweist dies für Diehl nicht auf die Biologie, sondern vielmehr auf den extremen gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck, dem Frauen im gebärfähigen Alter ausgesetzt sind. Um nicht auf Unverständnis zu stoßen oder als hedonistisch zu gelten, bringen viele Frauen „umstandsbedingte“ Gründe für ihre Kinderlosigkeit vor. Diese allerdings verfestigen wiederum den Glauben, alle Frauen hätten einen Kinderwunsch, und nur das Fehlen des richtigen Partners oder das suboptimale Kinderbetreuungssystem in Deutschland hielten sie davon ab.
Wobei natürlich das aktuell vorherrschende Idealbild der Superfrau, die sowohl erfolgreich im Beruf sein als auch ihre Kinder optimal fördern muss und dabei auch noch sexy aussieht, nicht gerade dazu beiträgt, Frauen zum Gebären zu animieren. Hier kritisiert Diehl insbesondere die deutsche Familienpolitik, die sich weiterhin an das Modell der heterosexuellen Kleinfamilie klammert, in der Care-Tätigkeiten vor allem an den Frauen hängen bleiben.
Zwar dekonstruieren feministische Autorinnen den Müttermythos schon seit Jahrzehnten, doch anscheinend ist dies noch immer – oder wieder – bitter nötig. Deshalb rollt Diehl noch einmal die wechselvolle Geschichte von Kindheit und Mutterschaft auf. Nicht zufällig fiel die Erfindung des „Mutterinstinkts“ – die angeblich natürliche Begabung der Frau zur Fürsorge und Aufopferungsbereitschaft – zusammen mit dem Aufkommen der bürgerlichen Kleinfamilie, für deren Funktionieren die Zweiteilung in eine „männliche“ (öffentliche) und eine „weibliche“ (häusliche) Sphäre unerlässlich war. Dass die „Natur“ je nach wirtschaftlichen Erfordernissen und politischem Willen unterschiedlich ausgelegt werden kann, zeigen die jeweiligen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland: Während es in der DDR für Frauen selbstverständlich war, ihre Kinder schon früh in eine Krippe zu geben, um dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, wurde in Westdeutschland das Versorgermodell stark gefördert und im Kontrast dazu die „Rabenmutter“ ins Feld geführt.
Eine noch jüngere Erfindung ist das „Projekt Kind“, das schon im Mutterleib mit Mozart beschallt wird, im Vorschulalter Chinesisch lernt und natürlich von Anfang an vegan und glutenfrei ernährt werden muss. Inwieweit Kinder als „Sinncontainer der Moderne“ der egoistischen Selbstverwirklichung vieler Mütter dienen, reißt Diehl nur an, zumindest aber führt dieser Exkurs das Argument der angeblich so narzisstischen Kinderlosen ad absurdum.
Nüchtern und unaufgeregt dekonstruiert sie ein populäres Halbwissen nach dem anderen, und genau diese
sachliche Analyse ist ein großes Verdienst ihres Buches. Zum ersten Mal
bekommen Frauen ein sowohl praktisches als auch theoretisches Hand
werkszeug, um ihre eigene Entscheidung für oder gegen Kinder sachlich darlegen und vorurteilsbehaftete Gegenargumente entkräften zu können. So ist es beispielsweise ein Irrglaube, der Geburtenrückgang läge ausschließlich an gebärunwilligen Frauen. Tatsächlich gibt es weitaus mehr zeugungsunwillige Männer im selben Alter.
Darüber hinaus ist Die Uhr, die nicht tickt ein starkes Plädoyer für die Erweiterung und Flexibilisierung des Familienkonzepts und die Loslösung des Fürsorgebegriffs von biologischer Mutterschaft. Solidarität und Engagement, so argumentiert Diehl, können auch in anderen Formen des Kollektivs verwirklicht werden, auch und gerade von Kinderlosen, die überhaupt die Kapazitäten dazu haben, alternative Arten der Zusammengehörigkeit zu leben. Diehls Streitschrift ist eine lange überfällige feministische Antwort auf die hitzigen Debatten um den „Gebärstreik“ – und wer sie gelesen hat, wird diesen Begriff wahrscheinlich ohnehin nur noch mit amüsiertem bis genervten Augenrollen verwenden.
Anja Kümmel
Die Rezension erschien erstmals unter www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/sarah-diehl/die-uhr-die-nicht-tickt. Leicht gekürtzer Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.