Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 2/13 | Geschrieben von Nicole Thies

Nomen est omen –

oder: kirchenpolitische Inszenierung von 
charismatischer Herrschaft

Die Inszenierung des Papstes als ‘neuer Franziskus’ ist filmreif: der Papst der Armen, die Kirche der Armen und eine Kirche für die Armen – welch’ große Bilder und welch’ ein Mummenschanz! Sollte man meinen… aber der charismatische Name ist Programm mit klaren Motiven: das Stärken der Amtskirche, das Kanalisieren, das Beschwichtigen und Rückführen von sozialen Gegenströmungen, die Bekämpfung des vermeintlichen Unglaubens. Und genau darin ähnelt der Franziskus-Papst dem historischen Franziskus mehr als gerade zu vernehmen ist.

Geschichte und Geschichtsschreibung waren und sind immer auch ‘Auszug’ und Auswahl der verfügbaren Quellen. Und die Quellen über den historischen Franziskus sind tendenziös: Denn da sind die Wunderberichte und Heilig­sprechungsakten und Heiligenviten. Allesamt nach dem Tod des Franziskus (1226) verfasst – von Wegbegleitern und Ordenshistoriographen aus dem institutionellen Umkreis, wie u.a. die Vita des Thomas von Celano, einem frühen Anhänger und Franziskaner, die Papst Gregor IX. in Auftrag gab.

Diese mythologisch inspirierten Texte prägen das ‘Bild’ der historischen Franziskus-Figur in der Öffentlichkeit bis heute. Im Vordergrund steht der Spirituale, der Asket. Denn seit dem 19. Jahrhundert findet sich der religiöse Individualist im Fokus der Deutungen; nicht zuletzt, weil der protestantische Kunsthistoriker Henry Thode ihn zum Stellvertreter der „Bewegung der Humanität“ und zum Inbegriff der „Befreiung des Individuums“ werden ließ.1 Dabei werden allzu gern Leitthemen der Vitenerzählung zum Heiligen gar nicht erst benannt: Errettung der Kirche, der Kampf gegen den Unglauben sowie das Ideal der oboedientia, des Gehorsams, und der humilitas, der Demut.

Franziskus und 
die Armenbewegung 
des 13. Jahrhunderts

Der 1228 heiliggesprochene Franziskus war kein Sozialrevolutionär, wie ihn die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunders beschrieb, und mit der Opposition zu Papst und Klerus war’s wohl auch nicht weit her, was nicht allein die Tatsache zeigt, dass er und seine Anhänger sich von der Amtskirche ‘schlucken’ ließen. Überspitzt formuliert war die historische Figur eine von vielen, die sich freiwillig oder unfreiwillig als Arme durchs Leben schlugen. Ökonomisch fuhren sie damit gar nicht schlecht, denn die italienischen Stadtkommunen hatten gut ausgebaute karitative Einrichtungen, zu deren Aufgaben tägliche Armenspeisungen und die Herberge von gläubigen Christen gehörten. Denn die Kehrseite der prosperierenden Städte und ihres wachsenden Bürgertums sowie des ökonomischen, klimatischen und kulturellen Aufschwungs des 12. Jahrhunderts (relatives Bevölkerungswachstum, Uni
versitätsgründungen, autonome Laien­kultur, die sog. ‘Handelsrevolution’ mit der Öffnung nach Asien) war das Anwachsen der Armut, auch befeuert durch stetige politisch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen kaiser- und papstgetreuen Parteien. Breite Teile der Gesellschaft lebten in Armut; die Mehrzahl der Menschen war arm oder von Armut bedroht. Eine Missernte bedeutete Hunger und Not oder ein Unfall in einer handwerklichen, durch den Vater als Ernährer geprägten Familie war in der Regel mit sozialem Abstieg verbunden.

Daher mag diese real in Armut lebenden oder von der Armut bedrohten Menschen wohl schwer beeindruckt haben, wenn ein privilegiertes Kind der Bürgerschicht – wie Franziskus – nicht nur über die ‘Nachfolge Christi’ redete, sondern es anderen Personen, die das Evangelium predigten und arm herumzogen, gleichtat. Was aber häufig vergessen wird: dieses Kind des reichen Tuchhändlers Bernardone hatte die Wahl und konnte jederzeit wieder in den behüteten Schoß seiner Familie zurückkehren (was nicht wenige nach einem ‘spirituellen Ausflug’ auch taten). Oder man (Mann wie Frau) ließ sich von der Familie und deren Kreisen ein Kloster errichten und unterhalten. Die Persönlichkeit, von der hier die Rede ist, beschloss aber, in völliger Selbstüberschätzung seine Entbehrungen lautstark publik zu machen und in der Öffentlichkeit die Nachfolge Christi (imitatio christi) zu predigen – ein Umstand, den die Amtskirche nur missmutig duldete. Denn zwei Pole prägten den Konflikt: das vermeintliche bzw. konstruierte Bild des christusgleichen ‘nackten Armen’ kontra das Gegenbild der das Evangelium nicht lebenden amtshierarchischen Kirche. Und so standen diese herumziehenden Besitzlosen ganz konkret unter Häresieverdacht (siehe Albigenser und Katharer) und ihnen drohte die Exkommunikation oder gar der Tod. Demnach tat Franziskus gut daran, sich nicht gänzlich in die Einöde zurückzuziehen, sondern sein charismatisches Talent zu nutzen und der Öffentlichkeit so oft es möglich war, seine Armut, seine Zurückgezogenheit und seinen ‘Individualgehorsam’ zu präsentieren.

Sein größtes amtskirchliches Ver­dienst jedoch: Franziskus ebnete den Weg für die ‘Resozialisation’, die Rückführung der Abtrünnigen, der Anachoreten, in die sog. ‘Gemeinschaft der Heiligen’. Denn Papst Innozenz III. und sein Kurienanhang hatten nun die zweifellos strategisch kluge Idee, diese soziale Laienbewegung der Armen und ihr aufrührerisches Potential – und die Faszination, die sie in der Bevölkerung auslösten – zu kanalisieren. Dies taten sie, indem eine Institution eingerichtet wurde: der Bettelorden vom Heiligen Franziskus oder der Minderbrüder. Will meinen, dass Papst Innozenz III. allein diejenigen der ‘Armutsbewegung’ für die ‘Wahren/Rechten’ oder die legitim Erwählten deklarierte, die zu diesem Zeitpunkt anerkannt waren und bereits einen gewissen Status für sich in Anspruch nehmen konnten. Nun erlangten später auch andere, wenige Bettelorden diesen Rang – trotz Schwierigkeiten. Dennoch blieben Laiengemeinschaften ‘verdächtig’, die Deutungsschemata oblagen nach kirchenrechtlicher Ständelehre den Klerikern und Mönchen, und nur die sog. ‘auctoritas’ des zu dem damaligen Zeitpunkt amtierenden Papstes schaffte die nötige ‘rechtliche’ Sicherheit für Laienbewegungen.

Und so entstand unter der Ägide des ‘Poverello’2 Franziskus eine zentral organisierte, allein dem Papst unterstellte Institution über deren Konstitution – es handelt sich tatsächlich um eine ‘Satzung’/Verfassung der klösterlichen
Gemeinschaft –, die Franziskus selbst mit der Amtskirche verhandelte. Dabei half ihm selbstverständlich seine Bildung, denn als Kaufmannssohn konnte er Lateinisch schreiben und lesen. Überdies schrieb sich eine Institution, wie die Franziskaner, nicht allein die Armut auf die Fahnen, sondern ‘die Errettung der Kirche’. Hiermit war einerseits die Mission gemeint – also Bekehrung im Sinne der apostolischen und neutestamentlichen Lehrmeinung – und andererseits die Verurteilung der Ungläubigen – auch Inquisition genannt, bei der die institutionelle Unterstützung der anderen Bettelorden bald gesichert war.

Außerdem wurde es an der Stelle problematisch, als Frauen, die nach dem Vorbild des Franziskus leben wollten, auf den Plan traten. Denn Franziskus sprach sich zunächst gegen die Aufnahme der Frauen in den Orden aus; während die Kirche ihrem Interesse folgte, selbstorganisierte, sich dem Klerus entziehenden Frauengemeinschaften (wie beispielsweise die Beginen) zu verhindern. Wie die Geschichte zeigt, gab Franziskus jedoch nach, was die Entstehung des Klarissenordens möglich machte.

Image und charismatische Herrschaft

Selbst die charismatische Persönlichkeit des umbrischen Bürgersohnes dürfte mit seinem Tod versiegt gewesen sein. Um dem entgegenzuwirken, hat die Institution Orden sich mit der nachträglich niedergeschriebenen Gründungsgeschichte und den Mythen, die um Franziskus konstruiert wurden, einen Ordensgründer geschaffen und auf diese Weise sich selbst legitimiert. Und damit der Mythos und die Erinnerung an die charismatische Figur nicht verloren geht, wurden Erinnerungsrituale und Bilderkulte inszeniert – oft mit dem ausschließenden Effekt von autoritärer Herrschaft und autoritärer Deutungshoheit. Dazu gehörte der für damalige Verhältnisse in Rekordzeit durchgeführte Kanonisationsprozess. Und so trat nach der Heiligsprechung 1228 der Kult seinen Siegeszug an – nicht allein an der Grabeskirche in Assisi. Denn um nicht der „Veralltäglichung“ und dem Vergessen zum Opfer zu fallen, sind gerade das Ritual und die Inszenierung unbedingte Begleiter: Wohl deshalb finden viele noch heute das mittlerweile medial aufbereitete Theater vom rauchenden Schornstein bis zum kitschigen ‘Überraschungseffekt’ auf dem Balkon so faszinierend.

Und von der Antrittsmesse bis zum Pfingstwort nährt sich der Verdacht, dass Bergoglio die soziale Frage ‘nutzt’, um Arme und Perspektivlose auf Linie bringen. Denn das Gehorsams- und Demutsideal des Franziskus gehört bei dieser Sozialethik unverhohlen zum Tenor.
Nun kursiert nicht allein die Mär, Franziskus von Assisi habe die Kirche erneuert, sondern sein Handeln gilt als vorbildhaft sozial – stellvertretend für eine ganze soziale Bewegung im 13. Jahrhundert. Imitiert der alternde Konservative namens Papst Franziskus I. hier nur das Image und das Charisma? Ja, da mitunter der sprichwörtliche Eindruck entsteht: Wer’s glaubt, wird selig. Denn was die Inszenierung wohl tatsächlich in Anlehnung an die historische Situation im 13. Jahrhundert verfolgt, ist die reaktionäre Rückbesinnung auf die innerliche und zutiefst esoterische Frömmigkeitspraxis der frühen Bettelorden (im Gegensatz zu der damaligen an Universitäten diskutierten aristotelischen Ethik und die Hinwendung der sog. Scotisten zu naturphilosophischen Fragen). Und dazu gehört die stetige Betonung des Leitideals Gehorsam – wie auch in zahlreichen Äußerungen des ‘neuen Franziskus’ derzeit zu vernehmen.

Synonym(e) der Krise(n)

‘Habemus papam Franciscum’ ist also
eine bewährte kirchenpolitische Stra
tegie, die sich der historischen Konstruktion bzw. des Mythos Franziskus, vorzugsweise der Deutungen des 19. Jahrhunderts, bedient – ein probates Mittel, um charismatische Herrschaft auszuüben. Und damit lässt sich die Krise innerhalb der Institution Kirche und ‘die Krise’ (mit den bekannten wirtschaftlichen wie sozialen Folgen) in der funktional differenzierten Gesellschaft verklären und esoterisch aufladen, was nicht ohne Folgen für soziale Bewegungen und einzelne Akteur_innen bleiben dürfte. Deutungshoheiten der Sozialmoral werden reaktiviert und fleißig an einem Mythos vom Papst der Armen gestrickt. Im täuschenden sozialethischen Gewand, eine Antwort auf Finanzkrise und soziale Frage zu sein, steckt die moralisierende Demutsansprache. Die Reaktivierung des Franziskus-Mythos, der historisch große Faszination ausgeübt hat, bedient sich einer zentralen Funktion der Mythen: die Bewahrung des Charismas ihrer Führer.3

Anmerkung

1 Henry Thode: Franz von Assisi und die An­fänge der Kunst der Renaissance in Italien. Berlin 1885, S. 4.
2 Auch diese wohlwollende italienische Ver­niedlichungs- / Verkleinerungsform von ‘Armer’ ist zu dem Zeitpunkt, nämlich erst nach dem Tod des Franziskus, in den schriftlichen Quellen nachweisbar und Teil der Inszenierung und Ritualisierung.
3 Für die weitergehende Beschäftigung mit 
dem Thema: Wesjohann, Achim: Mendikan­tische Gründungserzählungen im 13. und 
14. Jahrhundert: Mythen als Element institutioneller Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten. Diss. [= Vita regularis, 49] Münster 2012.