Tolstoj – ein Anarchist?!
Tolstoj als einen Anarchisten zu beschreiben, fällt einerseits angesichts seiner Veröffentlichungen und seines Wirkens nicht schwer, andererseits verwendete er für sich selbst jedoch diese Bezeichnung nie. Im Gegenteil: Er stand der anarchistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund der Welle von Attentaten und terroristischen Aktionen, die Anarchisten zugeschrieben wurden, sehr skeptisch und ablehnend gegenüber und geriet – so hat es den Anschein – in das Fahrwasser bürgerlicher anti-anarchistischer Propaganda. In seinem Tagebuch notierte er am 13. Juni 1910: „Die Lehre, der ich lebe, ist nicht Anarchismus. Sondern Erfüllung des ewigen Gesetzes, das Gewalt und Beteiligung an Gewalt verbietet.“1
Tolstoj suchte jedoch auch das Gespräch mit Anarchisten. Während seiner Europareise 1860/61, traf er mit Alexander Herzen (1812-1870) und Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) in London und Brüssel zusammen. Er kannte außerdem Schriften von Peter Kropotkin (1842-1921) und Michael Bakunin (1814-1876) und am 22. August 1907 notierte er in sein Tagebuch: „Kropotkin über Kommunismus gelesen. Gut geschrieben und gute Motivation, aber von verblüffender innerer Widersprüchlichkeit: Um die Gewaltherrschaft der einen über die anderen zu beenden, soll Gewalt angewendet werden. Die Aufgabe lautet, wie läßt sich dies bewirken, daß die Menschen nicht zu Egoisten und Gewalttätern werden. Nach ihrem Programm bedarf es zur Erreichung dieses Ziels neuer Gewalttaten.“2
Umgekehrt stand Kropotkin Tolstoj ebenfalls kritisch gegenüber, beschäftigte sich aber auch sehr intensiv mit seinen Werken, hielt während seiner englischen Emigration Vorlesungen über Tolstoj und widmete ihm ein umfangreiches Kapitel in seinem Buch Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur.3 Interessant ist auch die Reaktion Tolstojs auf Paul Eltzbachers Buch Der Anarchismus (1900),4 in dem der Autor Tolstoj neben William Godwin, Max Stirner, Michael Bakunin, Peter Kropotkin als Klassiker des Anarchismus bezeichnet. Tolstoj kannte dieses Buch und schrieb an Eltzbacher, dass dieser seine Weltanschauung treffend beschrieben hätte.
Christentum und Anarchismus bei Tolstoj
Tolstoj tritt ab Ende der 1870er Jahre mit einer sozialen Utopie an die Öffentlichkeit, die er mit der Bergpredigt begründet. Mit seiner Idee vom „Reich Gottes auf Erden“ wendet er sich als christlicher Revolutionär an die Jugend, um ihnen einen neuen, d.h. gewaltfreien Weg einer gesellschaftlichen Veränderung aufzuzeigen. Tolstoj setzt dabei an die Stelle politischer Ziele die Aufforderung zur individuellen Vervollkommnung, propagiert statt Gewalt die Verweigerung und versteht seine Revolution nicht als eine proletarische und klassengebundene, sondern als eine „Menschheitsbewegung“.
Diese Elemente der Gesellschaftskritik basieren auf seiner Interpretation der Bergpredigt, die sich für ihn in fünf Geboten kristallisiert:
- „Du sollst nicht mit deinem Bruder zürnen;
- du sollst dich unter keinem Vorwande von deinem Weibe scheiden;
- du sollst niemandem einen Eid leisten;
- du sollst nicht widerstreben dem Übel;
- du sollst auch deine Feinde lieben, d.h. diejenigen, die nicht deine Volksgenossen sind“.5
Er verarbeitet diese religiöse Erkenntnis in seinen Schriften Mein Glaube, Das Reich Gottes ist inwendig in Euch, Worin besteht mein Glaube und Das Leben und entwickelt sie im Laufe der letzten drei Jahrzehnte seines Lebens zur Grundlage einer internationalen Bewegung, die nicht nur in Russland, sondern vor allem auch in Europa (Niederlande, England, Schweiz) und den USA Einfluss auf die antimilitaristische Bewegung gewinnt. Aus dieser „Reich-Gottes-Idee“ ergeben sich für ihn vier religiös-politische Grundsätze seiner Gesellschaftskritik:
- Religion ist keine Angelegenheit des Glaubens, sondern der Vernunft.
Die Lehre Christi gilt nicht aufgrund des Glaubens an die Offenbarung, sondern aufgrund ihrer Vernünftigkeit. Der Glaube zerstört nach Tolstoj die Ethik des Christentums; denn der Mensch erkennt die Wahrheit nicht wegen seiner Glaubensfähigkeit, sondern ausschließlich mittels seiner Vernunft. Das Christentum im Sinne der Bergpredigt wird zur vollkommenen Erfassung des Gesetzes der Vernunft – sie ist die Vernunft selbst. Aus dieser Feststellung folgert Tolstoj, dass der Mensch nicht das Recht hat, sich von der Vernunft loszusagen. - Das Gesetz der Liebe.
Aus diesem Grundsatz einer Religion der Vernunft folgert er das Gesetz der Liebe. Der Weg der Liebe bedeutet für Tolstoj die Verleugnung des persönlichen Wohles und wird zum Ausdruck göttlicher Vollkommenheit. Liebe wird für ihn zur einzigen vernünftigen Tätigkeit des Menschen, die sich aus dem Gesetz Gottes ergibt. In diesem Zusammenhang unterscheidet er drei Lebensauffassungen: die tierische Lebensauffassung, bei der die Triebfeder der persönliche Genuss ist; die gesellschaftliche, bei der die Triebfeder Ruhm und gesellschaftliche Anerkennung sind; die göttliche, die die Verwirklichung des Gesetzes der Liebe bedeutet. - Verweigerung statt Gewalt.
Die gesellschaftliche Umsetzung dieses Weges der Liebe erfolgt durch das Prinzip der Verweigerung oder Gewaltfreiheit und heißt für Tolstoj: „Widerstrebe nicht dem Übel bedeutet: widerstrebe niemals dem Bösen, das heißt: tu nie einem Gewalt an, das heißt: begeh nie eine Handlung, die der Liebe zuwiderläuft.“6 Gewaltfreiheit steht für Tolstoj im Zentrum der Lehre Christi und ist für ihn die wichtigste Äußerung, die sich aus der Anerkennung des Gesetzes der Liebe ergibt. - Wider die politische Revolution und für die individuelle Vervollkommnung.
Aus diesen drei religiös-politischen Axiomen leitet er seinen Revolutionsbegriff ab, der im deutlichen und be wussten Widerspruch zu damals gängigen Ansätzen steht. Statt einer politischen Revolution fordert er (a) Aufklärung, d.h. die Veränderung der öffentlichen Meinung, (b) Verweigerung, d.h. den gewaltfreien Widerstand gegen Herrschafts- und Gewaltansprüche sowie (c) Selbstvervollkommnung, was für Tolstoj soviel bedeutet wie Veränderung der Lebensauffassung im Sinne der Gebote der Bergpredigt.
Wenn wir auf der Grundlage dieser Analyse von Tolstojs christlich-anarchistischem Weltbild nach seiner Stellung zu gesellschaftlichen Institutionen wie Recht, Eigentum und Staat fragen, dann ergibt sich nach Paul Eltzbacher folgendes Bild:
Ein staatliches Rechtssystem, so wie es besteht, ist Ausdruck von Gewalt und widerspricht dem „Gesetz der Liebe“. Tolstoj verwirft alle Normen und Werte, die auf dem Willen von Menschen beruhen und durch Gewalt (z.B. Gefängnis, Bußgelder usw.) aufrechterhalten werden. An die Stelle eines Rechtssystems, das, neben seinem Gewaltcharakter, auch niemals Ausbeutung, Sklaverei und Herrschaftsmissbrauch dauerhaft verhindern kann, muss das Gebot Christi vom „Gesetz der Liebe“ als „Rechtsnorm“ treten. Ähnlich verhält es sich beim Eigentum, das ebenfalls nach Tolstoj gegen das Gesetz der Liebe verstößt und Gewalt sowie Herrschaftsverhältnisse zur Folge hat bzw. unterstützt. Tolstoj plädiert für die Güterverteilung sowie für Besitzverhältnisse entsprechend individuellen Bedürfnissen. Auch der Staat, der ausbeuterische Rechts- und Eigentumsverhältnisse legitimiert – und dies sind alle bekannten Formen, auch republikanische –, wird von Tolstoj kritisiert. Das Christentum selbst ist für Tolstoj antistaatlich. Staatsgewalt, egal von wem ausgehend, hält er für eine Form gesellschaftlicher Entartung und Sittenlosigkeit. Der Staat werde so zum Götzen, der sich nur durch Gewalt aufrechterhalten lässt. Unverständlich für Tolstoj ist auch die „freiwillige Knechtschaft“ nahezu aller Untertanen in Staatsgebilden. Diese Freiwilligkeit erkaufe sich der Staat (a) mit der Suggestion der Mythen von der Staatsreligion und vom Patriotismus, (b) mit groß angelegten und systematischen Bestechungen, mit denen der Staat Abhängigkeiten schafft (z.B. Beamtentum), (c) mit massiven und offenen Sanktionen durch einen legiti mierten Rechts- und Polizeiapparat sowie (d) mittels der Wehr- und Schulpflicht, die dem Staat die Möglichkeit bieten, Untertanen und Feindbilder zu reproduzieren.
Tolstoj heute
Tolstojs christlicher Anarchismus, der sich einerseits durch eine religiöse Motivation definiert und andererseits in einer radikal-pazifistischen und antimilitaristischen Haltung zeigt, gehört seit Ende des 19. Jahrhundert zu einer wesentlichen Erscheinungsformen der anarchistischen Bewegung. Gleichwohl muss für die Gegenwart festgestellt werden, dass die aktuelle libertäre Theorie- und Praxisdiskussion von Tolstojs Sozialethik und christlichem Anarchismus nur am Rande Notiz nimmt.
Überprüfen wir den Bedeutungsgehalt seiner Gesellschaftskritik für die Gegenwart, dann lassen sich verschiedene Elemente herauskristallisieren, die eine hohe Anschlussfähigkeit an aktuelle Diskussionen aufweisen:
Tolstojs Ansatz der Gewaltfreiheit ist ethisch und analytisch-systematisch begründet. Sein kritischer und rationaler Moralismus gibt Orientierungen für ein Leben ohne Gewalt und animiert zu zivilem Ungehorsam.
Tolstojs Kritik an Staat und Kirche zielt auf die Gesetzmäßigkeit der Tota lität von gesellschaftlichen Institutionen ab. Seine Institutionen- und Herrschaftskritik ist anschlussfähig an soziologische Herrschaftstheorien der Gegenwart.
Tolstojs Kritik am Christentum und seine Orientierung an der Bergpredigt findet Nachfolger bei religiösen Sozialisten oder auch in der südamerikanischen Befreiungstheologie.
Tolstojs Schulkritik hat Eingang in die Theorie und Praxis der Alternativschulbewegung gefunden und steht Pate für ein selbstbestimmtes und freiheitliches Lernen.
Anmerkungen
1 Tolstoi, Leo: Tagebücher. 3 Bände; 1. Bd. 1847-1884; 2. Bd. 1885-1901; 3. Bd. 1902-1910. Bd. 18-20 der Ausgabe Gesammelte Werke in zwanzig Bänden von E. Dieckmann und G. Dudek. Berlin (Ost) 1978, hier Bd. 3, S. 287.
2 Ebenda, S. 148.
3 Kropotkin, Peter: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur. Frankfurt a.M. 1975, erstmals engl. London 1905, dt. Leipzig 1906.
4 Eltzbacher, Paul: Der Anarchismus. Berlin 1900.
5 Tolstoi, Leo: Worin besteht mein Glaube? Eine Studie. Leipzig 1885, S. 79-124.
6 Ebenda, S. 17.