Çiğdem Akyol: Erdoğan. Die Biografie. Herder Verlag, Freiburg 2016. 384 Seiten, gebunden, 24,99 Euro. ISBN 978-3-451-32886-2
Als Recep Tayyip Erdoğan 1998 den vielsagenden Satz prägte „Die Demokratie ist nur ein Zug auf dem wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind“, hätten wohl nur die wenigsten westlich wie östlich des Bosporus wissen können, zu was Erdoğan tatsächlich fähig ist.
Die „Korannachtigall“, wie Erdogan in seinen frühen Jahren genannt wurde, ist längst kein Singvogel mehr, um bei dieser Beschreibung zu bleiben. Erdoğan ist ein nahezu perfektes Chamäleon. Stets darum bemüht, sich an die gegebenen Verhältnisse anzupassen und zum richtigen Zeitpunkt die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Doch wie wurde aus dem einst von europäischen Politiker_innen gefeierten Vorzeigetürken ein gefürchteter und autoritärer Machtmensch, der weder vor Lügen noch vor Gewalt zurückschreckt? Wie war es möglich, dass aus dem Europa zugewandten Land ein System der Angst und Terror wurde?
Die Journalistin Çiğdem Akyol hat sich mit ihrem Buch Erdoğan auf den Weg gemacht, dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Eindrücklich beschreibt die Autorin die verschiedenen Abschnitte im Leben des AKP-Politikers und zeichnet zugleich ein interessantes Bild vom derzeitigen Zustand der türkischen Gesellschaft. Akyol stellt heraus, dass der Erfolg Erdoğans ist nicht allein bestimmten politischen und wirtschaftlichen Eliten geschuldet ist, auch wenn diese einen nicht unerheblichen Anteil an seinem Aufstieg haben. Erdoğan präsentierte sich bereits in seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul als ein Mann des Volkes. Er ist, so die offizielle Lesart, ein Kümmerer. Dies gilt bis heute, obwohl Erdoğan zu den reichsten Staatsführern der Welt zählt. „Erdoğan präsentiert eine neue muslimische Intelligenz, die postmodern denkt, sich von den Eliten emanzipiert, vom unteren Ende der sozialen Skala kommt und den Islam im öffentlichen Leben sichtbar werden lässt.“ Mit anderen Worten, Erdoğan lässt viele Türken stolz auf ihr Land sein. Nicht wenige scheinen deshalb bereit zu sein, die Demokratie zugunsten eines autoritären islamistischen Regimes zu opfern.
Ein Kritikpunkt ist, dass Akyol in ihrem Buch ausdrücklich die Bezeichnung „Islamist“ für Erdoğan verneint. Sicherlich, der Islam ist für ihn ein willkommenes Instrument zur Machtergreifung, aber sein Weg wäre sicherlich nicht von Erfolg gekrönt, hätte er nicht bereits 1999 ein Zitat aus dem Gedicht Göttliche Armee von Ziya Gökalp zu seinem Leitspruch erhoben: „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen sind unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten. Diese göttliche Armee ist bereit [...] Gott ist groß, Gott ist groß.“ Von der Bedeutung des islamistischen Predigers Fethullah Gülen ganz zu schweigen.
Dass das Buch vor den Ereignissen des Putsches geschrieben wurde, tut seiner Bedeutung keinen Abbruch. Es zeichnet eindrücklich die Entwicklung eines Kindes aus dem Arbeiterviertel Kasımpaşa hin zum islamistischen Despoten und autoritären Agitator nach. Insoweit ist dieses Buch eine gut zu lesende Beschreibung der jüngeren türkischen Geschichte.