Die Kölner Gutachter hatten den Auftrag, den Umgang mit Missbrauchstaten daraufhin zu evaluieren, ob Bischöfe und andere Kirchenverantwortliche im Umgang mit diesen Fällen die kirchlichen und staatlichen Vorgaben eingehalten haben. Das Gutachten ermittelt und benennt zahlreiche Pflichtverstöße, beispielsweise das Versäumen von Meldung, Nachforschung und Aufklärung oder das Belassen eines Missbrauchstäters in der Kinder- und Jugendarbeit. Allerdings soll das jeweilige Verhalten allein gegen Kirchenrecht verstoßen haben, Verstöße gegen staatliches Recht seien nicht zu finden gewesen.
Die Gutachter der Kanzlei Gercke/Wollschläger sind am Gutachtenauftrag früh gescheitert, nämlich schon, wo es im Gutachten um die Bestimmung des weltlich-rechtlichen Maßstabs geht. Für das staatliche Recht ist selbstverständlich hochbedeutsam, was der Bundesgerichtshof sagt. Seine Rechtsprechung haben die Gutachter in entscheidenden Punkten beiseitegeschoben. Hätten Sie dies nicht getan, hätten sich ihnen sehr wohl auch strafbewehrte Pflichten für Bischöfe ergeben. Weil die Kirche den Priester in sein Amt hebt, stattet sie ihn mit eben jenem Vertrauen und eben jener Macht und Autorität aus, die ihm das Begehen von Sexualstraftaten gegenüber minderjährigen Gemeindemitgliedern erleichtert. Deshalb haben die Verantwortlichen die rechtliche Pflicht, solche Straftaten zu verhindern, wo dies aufgrund von Verdachtsmomenten faktisch möglich ist.
Das fehlerhafte Bestimmen des strafrechtlichen Maßstabs weckt zudem Zweifel an der Vollständigkeit der im Gutachten zusammengetragenen Fakten. Denn wenn die Kriterien nicht stimmen, bleiben möglicherweise relevante Fakten ungenannt, werden sie doch gesammelt gerade mit Blick auf ihre Relevanz für die rechtliche Beurteilung. Ein Beispiel: Das Gutachten schildert in Aktenvorgang 18 den Fall eines Pfarrers, über den die Kirchenverantwortlichen glaubhaft berichtet bekamen, dass er sich seinen Messdienern in klar übergriffiger und sexueller Weise näherte; eingeschritten ist die Kirche nicht, sodass der Pfarrer fünf Jahre später weitere Sexualstraften begehen konnte. Das Gutachten lässt ungesagt, ob diese späteren Taten wiederum an Messdienern oder anderen Gemeindemitgliedern begangen worden sind, also mit Bezug zum Priesteramt. Das ist aber entscheidend. Gibt es zur Tat keinen Kirchenbezug, trifft Kirchenverantwortliche keine Verhinderungspflicht, so wenig wie bei einem Pfarrer, der im Urlaub mit gezinkten Karten Poker spielt und damit seine Gegner betrügt. Waren hingegen die Opfer wiederum Messdiener oder andere Mitglieder der Kirchenjugend, steht für die Kirchenverantwortlichen eine Strafbarkeit insbesondere wegen Beihilfe durch Unterlassen im Raum. Der Leser des Gutachtens fragt sich sogleich, in wie vielen anderen Fällen die Kölner Gutachter relevante Fakten nicht genannt haben. So wird das Vertrauen in die kirchliche Aufarbeitung des Missbrauchsgeschehens beschädigt.
Das Kölner Gutachten gibt noch einen weiteren Fingerzeig in Richtung Untauglichkeit einer Aufarbeitung, welche die Kirche in Eigenregie betreibt. Wer ein Gutachten in Auftrag gibt, nimmt möglicherweise schon mit der Auswahl des Gutachters eine gewisse Weichenstellung vor. So konnte der beim Kölner Gutachten federführende Kölner Anwalt Björn Gercke bereits wegen seiner einschlägigen Gesetzeskommentierung im Anwaltskommentar als jemand wahrgenommen werden, der in Bezug auf rechtliche Verhinderungspflichten von Vorgesetzten eine sehr restriktive und vom Bundesgerichtshof abweichende Position vertritt. Und im Gutachten hat sich denn auch das Risiko realisiert, dass er seine eigene Sicht der Rechtslage zulasten der maßgeblichen Sicht der Rechtsprechung zu Grunde gelegt hat. Staatliches Recht, dessen Einhaltung im Kölner Gutachten zu evaluieren war, konstituiert sich aber in der praktizierten Rechtsprechung – nicht im Anwaltskommentar. Ein derart handgreifliches Versagen zerstört das Vertrauen in die Aufarbeitung des Missbrauchsgeschehens: Die Kirche wählt den Gutachter, und der begeht zahlreiche Fehler, die sich sämtlich zugunsten der Kirchenverantwortlichen auswirken.1
Die Münchener Gutachter hingegen werten zutreffend einschlägige Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen aus und erklären Kirchenverantwortliche in bestimmten Fällen für pflichtig, Sexualstraftaten ihrer Kleriker zu verhindern. Maßgeblich ist: Hat die Anstellung als Priester die Tatbegehung erleichtert? Hat der Täter insbesondere seine priesterliche Vertrauens-, Autoritäts- und Machtposition ausgenutzt? Für das Missbrauchsgeschehen im Erzbistum München betonen die Gutachter, dass die Fälle zumeist genau so lagen, weil die meisten Miss brauchstäter ihr Nähe- und Vertrauensverhältnis zum Gläubigen ausnutzten.
Auf diese Weise die richtigen Fragen zu stellen, ist auch deshalb besonders wichtig, weil ganz ähnliche Kriterien gelten für die Frage, ob den Opfern der Kleriker ein zivilrechtlicher Anspruch auf Schadensausgleich gegen die Kirche als solvente Institution zusteht. Schließlich sind ganze Biographien von klerikalen Sexualstraftätern zerstört worden. Im Einzelfall können Schadenssummen zustande kommen, die weit über den Betrag von 50.000 Euro hinausgehen, der von der Katholischen Kirche in ihrem Anerkennungsverfahren den Opfern in der Regel maximal gezahlt wird.
Die Katholische Kirche sollte sich zunächst bewusst werden, dass die Opfer nicht als Bittsteller an sie herantreten, sondern einen handfesten rechtlichen Anspruch auf Schadensersatz nach staatlichem Recht haben. Als Körperschaft des Öffentlichen Rechts gelten für sie die Regeln des Art. 34 GG und des § 839 BGB: Die Katholische Kirche hat den Schaden auszugleichen, sofern die Straftat unter Ausnutzung des Priesteramts begangen worden ist, und zwar auch dann, wenn den „Vorgesetzen“ des Täters kein Verschulden trifft. Das wird im Münchener Gutachten im Ergebnis richtig gesehen.
Viele der Missbrauchsfälle liegen Jahrzehnte zurück und unterliegen deshalb alten und für die Opfer ungünstigen Verjährungsregeln. Die Katholische Kirche hat deshalb in vielen Einzelfällen gegenüber dem jeweiligen Missbrauchsopfer das Recht, die Erfüllung ihrer Schadensersatzpflicht zu verweigern. Dieses Leistungsverweigerungsrecht muss die Kirche allerdings aktiv ausüben, also den Umstand der Verjährung ausdrücklich einwenden, damit Zivilgerichte dies berücksichtigen. Verzichtet die Kirche auf die Einwendung, bleibt sie rechtlich zum Ausgleich des Schadens verpflichtet.
Nach dem Selbstverständnis der Katholischen Kirche sollte es sich aber von selbst verstehen, dass sie dieses Leistungsverweigerungsrecht nicht ausübt. Denn sie ist ja um Anerkennung und Ausgleich des erlittenen Leids der Missbrauchsopfer bemüht. Dazu hat sie eigens ein Anerkennungsverfahren etabliert. Gerade also auch Missbrauchsopfer, die dieses Verfahren durchlaufen haben und etwa die Regelsumme von 5.000 Euro erhalten haben, sollten sich der Kirche noch einmal als Anspruchsinhaber vorstellen. Die Kirche würde sich selbstwidersprüchlich verhalten, wenn sie diesen Missbrauchsopfern die Notwendigkeit der Leidanerkennung und des Leidausgleichs im Anerkennungsverfahren bestätigt, dann aber die Realisierung des bestehenden Rechtsanspruchs auf vollen Schadensausgleich vereitelt und den angemesseneren Leidausgleich verweigert. Dies würde die eignen Anerkennungs- und Aufarbeitungsbemühungen konterkarieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kirche diesen Weg geht, damit würde sie die Missbrauchsopfer zusätzlich schwer demütigen. Wer leistungsfähig ist und an seinem Gegenüber emphatisch interessiert ist, wird dies nicht tun. Die Katholische Kirche sollte vielmehr umgekehrt gegenüber Missbrauchsopfern rechtswirksam auf ein Erheben der Verjährungseinrede verzichten. Dann steht den Opfern der risikoärmere Weg offen für eine außergerichtliche Einigung oder für ein Beschreiten des Zivilrechtswegs. Dies sichtbar zu machen, ist ein Verdienst der Münchener Gutachter.
Neben diesem positiven Effekt des Münchener Gutachtens haben die von der Kirche in Auftrag gegebenen Gutachten immer auch zahlreiche Fälle klerikalen Missbrauchs benannt und gewisse Verantwortlichkeiten aufgezeigt. Gleichwohl bleibt für jedes einzelne Gutachten letztlich offen, ob die Kirchenverantwortlichen alle relevanten Unterlagen zur Verfügung gestellt haben. An der Vollständigkeit ist vor allem zu zweifeln in Bezug auf solche Unterlagen, die Kirchenverantwortliche belasten würden.
Es drängt sich deshalb die Frage auf, warum nicht die zuständigen Staatsanwaltschaften viel öfter in Fällen klerikalen Missbrauchs ermitteln. Strafverfahren und Verurteilungen gibt es nur selten. Bezogen auf Fälle, in denen Täter und Opfer bekannt sind, findet dies seinen Grund darin, dass die Taten vielfach verjährt sind und nicht mehr verfolgt werden dürfen. Häufig sind die Täter gar verstorben. Den Staatsanwälten sind dann die Hände gebunden.
Nicht nachvollziehbar ist aber das Untätigbleiben der meisten Staatsanwaltschaften nach Bekanntwerden der großen MHG-Studie. Die Studie hat das Aufkommen sexuellen Missbrauchs im Bereich der 27 Bistümer untersucht, wofür die Katholische Kirche anonymisierte Akten bereitgestellt hatte. Sechs Strafrechtsprofessoren stellten daraufhin deutschlandweit Strafanzeigen bei den zuständigen Staatsanwaltschaften.2 Mit gänzlich unplausiblen Erwägungen wurde ein – die Ermittlungspflicht auslösender – Anfangsverdacht verneint unter Hinweis darauf, dass sich aus der Studie weder Tatort, Tatzeit, Täter- und Opferidentität ergeben hatten.3 Dies alles sind jedoch Umstände, die nicht schon am Anfang eines Strafverfahrens bekannt sein müssen, sondern gerade Gegenstand des einzuleitenden Ermittlungsverfahrens sind. Obendrein waren die besagten Umstände leicht aufzuklären durch Sichtung der nicht anonymisierten Unterlagen der Kirche.4 Ein Ermittlungserfolg lag somit sehr nahe. Über die Beweggründe der Staatsanwälte muss hier nicht spekuliert werden, ihr Untätigbleiben war jedenfalls dienstpflichtwidrig.
Was lässt sich aus alldem schließen? Eine umfassende Aufarbeitung klerikalen Missbrauchs vermögen weder die Strafjustiz noch die Zivilgerichtsbarkeit zu leisten, und die Aufklärung der Kirche selbst stößt an die aufgezeigten Grenzen. Spanien und Frankreich haben deshalb mit der vom Staat eingesetzten Untersuchungskommission einen sinnvollen Weg beschritten. Die staatliche Aufarbeitung ist allein aus präventiven Gründen hoch sinnvoll.4 Auch die Betroffenen fordern deshalb schon lange eine solche „Wahrheitskommission“. Ihre Forderung entspringt zugleich einem Interesse, das Jan Philipp Reemtsma, Opfer einer beklemmenden Entführung, einmal so ausgedrückt hat: „Wenn Sie Opfer eines schweren Verbrechens geworden sind und Ihnen die Gesellschaft und der Staat nicht offiziell bestätigen, dass das, was Ihnen geschehen ist, kein Unglück, sondern Unrecht war, dann werden Sie in dieser Gesellschaft nicht mehr heimisch.“ Das ist nachfühlbar. Die Verantwortlichen in Staat und Kirche sollten es nicht länger bei Absichts- und Sympathiebekundungen belassen, sondern auch in Deutschland eine solch unabhängige Kommission einsetzen, um sichtbar zu machen, welches Unrecht den Opfern derjenigen widerfahren ist, die Trost und Beistand spenden sollten und stattdessen ihre exponierte Vertrauensstellung ausgenutzt haben.
Anmerkungen
1 Interview mit Jörg Scheinfeld: „Stets wirkten sich die Mängel zugunsten der Bischöfe aus“, in: hpd.de, 9.6.2021; Jörg Scheinfeld / Sarah Gade / Christian Roßmüller: Erzbistum Köln: Juristischer Nebel (Zugriff 23.4.2022)
2 ifw: Deutschlandweite Strafanzeigen gegen Sexualstraftäter der katholischen Kirche (Zugriff 23.4.2022)
3 FAZ-Interview mit Reinhard Merkel, zit nach: „Wenn der Staat seine Ermittlungspflicht vernachlässigt, beginnen die Normen zu erodieren“ (Zugriff 23.4.2022)
4 Frauke Rostalski: Blinde Justitia?, in: Katholische Dunkelräume, unter IV (Zugriff 23.4.2022); Scheinfeld/Willenbacher, Anfangsverdacht bei Anzeigen gegen Unbekannt. Klerikaler Missbrauch und Legalitätsprinzip, in: Neue Juristische Wochenschrift 2019, 1357 ff.