Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/19 | Geschrieben von Hermann Josef Schmidt

Aufklärung & Kritik als zentrale Komponenten alteuropäischer Identität

Angesichts modischen Geredes, Europa sei in ausschlaggebender Weise determiniert durch seine christlich-jüdische Prägung, kann nicht oft genug wiederholt werden, dass, wie seit vielen Jahrzehnten bekannt und längst aufgearbeitet,1 die für europäisches Denken sowie spezifische europäische Identität entscheidenden Quellen historisch bei weitem früher, nämlich im 8. bis 5. Jahrhundert vor unserer kuriosen Zeitrechnung, und geographisch im großgriechischen Kulturraum zwischen der kleinasiatischen Mittelmeerküste und Unteritalien sowie Sizilien anzusetzen sind.

In diesen wenigen Jahrhunderten entwickelte sich als Ergebnis griechischer Kultur-, genauer Literatur-, Philosophie- sowie Wissenschaftsentwicklung etwas, das als spezifisch alteuropäische Identität gegenüber vergleichbaren Identitäten anderer Kulturen wie in Ägypten, Indien oder China in demjenigen Sinne abzuheben ist, dass dabei in stärker integrierter Weise als anderenorts ein Ensemble sich wechselseitig potenzierender, nur vereinzelt auch ansonsten aufweisbarer Merkmale festgestellt werden kann, die dann dasjenige ausmachen, was als basale Komponenten alteuropäischer Identität bezeichnet werden kann: Aufklärung und bzw. durch Kritik.

Da sich dies ziemlich generell liest, konkretisiere ich und erinnere daran, dass sich frühe griechische Philosophie und Wissenschaft in Konkurrenz und zum Teil frontaler Auseinandersetzung mit griechischem Mythos und griechischer ‘Religion’ konstituierten. Das wird als Sachverhalt ebenso wie in seinen Konsequenzen selten angemessen berücksichtigt.

Im Vergleich mit Mythos und Religion waren Philosophie und in deren Windschatten einzelne Wissenschaften Spätlinge sowie Eindringlinge, konkurrierten auf längst besetztem Terrain quasi ‘strukturdestruktiv’ so, dass nach bereits wenigen Generationen die Frage nach der Wahrheit von Religion(en), Götterkonzeptionen, Mythen usw. kaum mehr gestellt wurde. Vielmehr wurde sie bereits ersetzt durch Fragen nach Genese und Funktionen von Volksreligion und Mythos. Mutet das nicht eigentümlich vertraut an?

Als Belege deshalb nur im Stenogramm2: Thales und andere Milesier entorteten schon im 6. Jahr­hundert vor unserer Zeitrechnung durch eine Sonnenfinsternisprognose, die Konstruktion eines Himmelsglobus sowie ihre Thesen zu Ursprung und ‘Struktur’ der Welt die griechischen Götter, suspendierten damit basale Grundlagen griechischer Volksreligiosität, machten diese streng genommen bereits überflüssig, wandten sich jedoch noch nicht ausdrücklich gegen sie.
Anders bereits Xenophanes von Kolophon, der das Verhältnis von Philosophie zu Mythos/Religion offenbar nicht nur als Kampfverhältnis bestimmte, sondern in seinen Silloi, einer von ihm erfundenen Gattung von Spottgedichten primär auf religiöse Vorstellungen, bereits den primär anthropomorphen Projektionscharakter von Göttergestalten demonstrierte. Dass sich in seinen Göttern der Mensch malt, sein Äußeres wie Inneres, Faszinierendes wie Allzumenschliches, wussten nicht erst Schiller oder Feuerbach. So hat bereits Xenophanes als einzelner mit dem gesamten Polytheismus aufgeräumt. Wohl um seine Fundamentalkritik zu legitimieren sowie sich als reisender Rhapsode zu schützen, entwickelte er eine henotheistische Konzeption, die lediglich Wertvorstellungen im Sinne negativer Theologie kombiniert und dabei konsequent alles suspendiert und außer Kraft setzt – darauf kam es ihm wohl an –, was normale Religiosität auszeichnet: Vorstellungen von Gott oder von Göttern, die sich um Menschen kümmern, die an menschlichem Verhalten Interesse zeigen und Fehlverhalten bestrafen.3

Läutet bereits seit Xenophanes bzw. dem späten 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung innerhalb kritischer Philosophie die Totenglocke für jedweden pantheistische Vorstellungen konkretisierenden oder ‘überbietenden’ Mono- oder Polytheismus?

Kaum weniger deutlich des Xeno­phanes jüngerer Zeitgenosse Heraklit von Ephesus, dessen religionskritische Eruptionen der Gnomen genau dasjenige massiv verspotten, was in griechischer Volksreligion einschließlich der Bakchischen und diverser Mysterienkulte sogar als Heilige Handlung galt. Und oft nur geringfügig variiert noch bis in unsere Gegenwart zum Kernbestand etwa katholischer Gläubigkeit gehört?

In den fünf bis sieben Jahrzehnten nach Xenophanes, der freilich nicht nur religiöse Vorstellungen, sondern auch „die geistigen Autoritäten“ der Kritik unterzieht, und wohl „als erster die Idee eines Fortschritts“ formuliert, „der in der menschlichen Tatkraft gründet“,4 wird eine erste Phase europäischer Aufklärung und Kritik mit einer Fülle weiterer insbesondere religionskritischer Thesen oder Einsichten abgeschlossen.

Protagoras aus Abdera stellt Hesiods Kulturdeszendenztheorie seine -aszendenztheorie entgegen; er argumentiert dabei, dass der Mensch selbst der Produzent seiner Werte ist, formuliert in religiöser Hinsicht einen agnostischen Standpunkt5 und erlegt damit die Beweislast für religiöse Behauptungen denen auf, die sie vertreten. Daran haben sich schon Platon sowie Aristoteles, Anselm und Thomas und noch Descartes und Leibniz vergebens abgearbeitet. Vermutlich ging Protagoras auch genauer als Heraklit die verschiedenen miteinander konkurrierenden religiösen Auffassungen in jeweils destruierender Absicht durch, beginnend mit den Ansprüchen der sog. Mantik und kaum endend mit differenzierten Ausführungen zu spezifischen Formen der Genese divergenter Religionen.

Religionsgenetische Fragen beantworten auch Prodikos von Keos, Demokrit von Abdera und Platons Onkel Kritias. Prodikos bietet die vielleicht erste psychologische Erklärung der Religion: sie sei ein Akt der Dankbarkeit und aus dem Ackerbau erwachsen, denn die „ersten Gegenstände religiöser Verehrung waren ... die Dinge, an denen die Erhaltung“ menschliches Lebens hängt (Brot, Wein, Wasser, Feuer usw.). Dieser ersten sei in einer zweiten Stufe der Perspektivenwechsel von den wegen ihres Nutzens verehrten Gegenständen zu den Erfindern dieser nützlichen Dinge selbst gefolgt, zu Dionysos beispielsweise und Demeter als den ‘Erfindern’ von Brot und Wein.6 Euhemerismus lange vor Euhemeros?

Demokrit bereichert die Palette früher griechischer religionsgenetischer Argumente durch dasjenige der Furcht: vor allem die Furcht vor Naturvorgängen wie Donner und Blitz, Sonnen-und Mondfinsternissen habe durch überlegene Persönlichkeiten zur Einführung (angstreduzierender) Göttervorstellungen beigetragen. Wenn nicht doch Euripides, so blieb es Platons Onkel Kritias vorbehalten, wohl erstmals die noch in der Französischen Aufklärung dominante Betrugstheorie zu präsentieren.7 So erscheint wohl schon für dieses Ensemble eigendenkerischer Köpfe der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts die Frage nach der Wahrheit von Religion als obsolet. Jedenfalls geht es nur noch um Erkenntnis der Genese und Funktion(en), erst später dann auch der Struktur(en) von Religion(en).

Was lässt sich aus diesem Rückblick zugunsten der Titelthese entnehmen? Wohl zumindest dies, dass Aufklärung und Kritik, genauer: dass die früheste belegbare Geschichte europäischer Philosophie und Wissenschaften bereits auch eine Geschichte von Religionskritik(en) in konsequent aufklärerischer Perspektive ist; noch genauer, dass religionsethnologische, -historische, -kritische, -philosophische, -psychologische, -soziologische usw. Fragestellungen in nicht immer präzise voneinander abgrenzbarer Form bereits vor etwa zweieinhalbtausend Jahren ansatzweise entwickelt waren. Oder, anders gesehen, dass erstaunlich viel des seitdem zu Religion(en) kritisch Geäußerten nicht unbedingt originell oder gar prinzipiell weiterführend zu sein scheint.

Wichtiger freilich dürfte sein, festzuhalten, dass sich bereits in dieser frühen, polydimensionalen Ausein­an­dersetzung mit die archaische griechische Kultur konstituierenden religiösen Auffassungen etwas herausbildete, das in vergleichbarer Form offenbar in keiner anderen Kultur sich in dieser Konzentration und Radikalität ähnlich rasant entwickelte.

Dass die seitherige europäische Geistes- und Philosophiegeschichte in nicht geringem Maße auch als Verrat an frühen kritischen und aufklärerischen Errungenschaften gelesen werden kann, ist zwar ein anderes, höchst trauriges Kapitel, sollte aber nicht von demjenigen ablenken, was in Europa bereits vor nahezu zweieinhalb Jahrtausenden nicht nur möglich war, sondern demonstriert wurde: in beeindruckender Weise in Szene gesetzte radikale Aufklärung und Kritik. Setzen wir sie als Kernmomente europäischer Identität. Aufklärer haben hinreißende geistige Ahnen: ehren wir sie durch Weiterführung von Aufklärung und Kritik insbesondere jedweder Art von geistige und realisierte Freiheiten beeinträchtigendem Fundamentalismus! Schon damit haben wir wohl nicht nur gegenwärtig genug zu tun.

Anmerkungen

1 In diesem Zusammenhang ist noch immer von besonderer Bedeutung Nestles Monographie Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens. Stuttgart, 1940 (2.Aufl. 1942), deren Forschungsergebnisse er in bestlesbarer Form in Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian in ihrer Entfaltung vom mythischen zum rationalen Denken dargestellt. Stuttgart, 1944 (2. Aufl. 1956) vorgestellt hat. Hier berücksichtige ich weitestmöglich 1944, S. 58-186, weil ich Nestle die Ehre geben und für Lektüre sowie Nachdruck dieses meiner Ansicht nach brillanten Werks werben möchte.
2 Die Skizze komprimiert nochmals den seinerseits bereits komprimierten Text des zweiten Teils meiner Dortmunder Abtrittsvorlesung vom 29. Juli 2004, längst in www.f-nietzsche.de.\hjs_start.htm.
3 Vgl. etwa Platon, Nomoi X, 1977a
4 Xenophanes, Die Fragmente. Hrsg. von Ernst Heitsch. München / Zürich 1983, S. 11.
5 Die Schrift Über die Götter soll eröffnet worden sein mit: „Von den Göttern vermag ich nicht zu wissen, daß sie sind, noch von welcher Art ihre Gestalt ist. Denn vieles steht dem im Wege: sowohl die Dunkelheit der Sache als auch die Kürze des menschlichen Lebens.“ DK 74, B. 4; übersetzt nach Wilhelm Nestle, 1944 (2.Aufl. 1956), S. 160.
6 Vgl. Ebenda, S. 1 72ff.
7 In der Tragödie Sisyphos (DK 88, 25; vgl. Nestle, Vom Mythos zum Logos, S. 195-199).