Voraus gingen massive, gegen Fillon erhobene Korruptionsvorwürfe – er soll bis zu eine Million Euro aus Staatsgeldern abgezweigt haben, indem er politisch inaktive Familienmitglieder als vorgebliche Mitarbeiter deklarieren ließ. Seitdem hat die Justiz, welche Ermittlungen aufgenommen hat, die Vorwürfe noch ausgeweitet. Dennoch und trotz Versuchen aus den Reihen seiner eigenen Partei Les Républicains, François Fillon als Präsidentschaftsbewerber zu ersetzen, erhielt er starrköpfig seine Kandidatur aufrecht und blieb im Rennen.
Fillon und seine Berater beriefen sich – um die Entscheidung zur Beibehaltung des Kandidaten zu rechtfertigen – darauf, nur Fillon vermöge es, zwischen den Konservativen und der extremen Rechten zögernde Wählerinnen und Wähler bei der Stange zu halten. Ansonsten, falls ein moderaterer Vertreter (wie Alain Juppé vom wirtschaftsliberalen Mitte-Rechts-Flügel) die Konservativen verträte, würden viele heute hinter Fillon aufgereihte Wähler „in Scharen zum Front National (FN) überlaufen“. So wurde es, vor allem im Vorfeld der Pro-Fillon-Kundgebung Anfang März, durch dessen Unterstützer explizit in den Medien verkündet.
Es handelte sich um einen durchsichtigen Versuch, die bürgerliche Rechte in Frankreich zu erpressen. Dabei könnte er genau umgekehrte Ergebnisse hervorrufen: Dass die Konservativen mit François Fillon ein notorisch korruptes Gesicht behalten, könnte zögernde, eher rechte Wählerinnen und Wähler der Partei Marine Le Pens zutreiben. Tritt diese doch traditionell mit einem „Saubermann/Sauberfrau“-Diskurs auf – obwohl auch Frau Le Pen derzeit Justizermittlungen wegen Zweckentfremdung öffentlicher Gelder (etwa im Europaparlament) ausgesetzt ist, die Chefin des FN lässt jedoch alle gegen sie erhobenen Vorwürfe als „Manipulation des Systems gegen die Oppositionsführerin“ abprallen. Aber nicht nur das: Unter Fillon sind die französischen Konservativen in jüngster Zeit auf ideologischer Ebene erheblich weiter nach rechts gerückt. Eine Schlüsselrolle spielen dabei katholische Fanatiker, Abtreibungsgegner und vor allem Gegnerinnen und Gegner der Ehe für homosexuelle Paare. Letztere sind innerhalb der Partei LR mit einem eigenen Zusammenschluss unter dem Namen Sens commun (ungefähr „Gemeinsinn“) vertreten. Und Letzterer wiederum bildete das organisatorische Rückgrat beim Mobilisieren für die Kundgebung Anfang März dieses Jahres. So begründet die vermeintliche Angst vor einem Rechtsruck just einen Ruck nach rechts.
„Gott kämpft auf unserer Seite“: Diese vermeintliche Gewissheit durchströmte nicht nur Kreuzritter und Missionare, sie erfüllt auch einige Akteure im französischen Wahlkampf des Jahres 2017. Nein, die Rede ist nicht von Gestalten, die in Ritterkostümen mit schweren Lanzen auf Pferden in die Arena reiten. Die eingesetzten Kommunikationsmittel sind modern, die Ideen dagegen reaktionär. In den letzten vier Jahren hat sich in Frankreich eine wahrhafte politische Lobby herausgebildet, die gegen die – im Mai 2013 gesetzlich vollzogene – Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare eintritt, aber in ihren aktivsten Segmenten auch gegen das geltende Abtreibungsrecht kämpft, zum Teil auch gegen Verhütung und das, was sie zu „Pornographie“ erklärt.
Einer der prominenten Vertreter ist Arnaud Le Clere. Seit den Regionalwahlen vom Dezember 2015 sitzt er als Abgeordneter der konservativen Hauptpartei des rechten Bürgerblocks, Les Républicains, im Regionalparlament der Hauptstadtregion Ile-de-France. Zugleich ist er Vizepräsident der oben erwähnten Vereinigung Sens commun, die laut Eigenangaben zwischen 9.000 und 10.000 Mitglieder zählt; die Zahl der Aktiven wird von außen auf circa 6.000 geschätzt, wie das Wochenmagazin Marianne im Mai 2015 schrieb.
Arnaud Le Clere ist aber auch einer der Mandatsträger, die die Region Ile-de-France offiziell im Vorstand des Centre régional d’information et de prévention du SIDA (Crips), also des „Regionalen Zentrums für AIDS-Aufklärung und -Vorbeugung“, vertreten. Und spätestens hier wird es hochproblematisch. Wie die Webseite des Wochenmagazins L’Obs – früher Le Nouvel Observateur – am 2. Februar schrieb, soll Le Clere dafür verantwortlich sein, dass es eine an Oberstufenschülerinnen und -schüler gerichtete Broschüre zur Sexualaufklärung und AIDS-Prävention nicht verteilt, sondern zurückgezogen wurde. Grund für das Einstampfen? Arnaud Le Clere bemängelte „pornographische Abbildungen“, aber auch die Passagen zur sexuellen Orientierung, die seiner Auffassung zu sehr homo- und heterosexuelle Neigungen auf eine Stufe miteinander stellen. „Es wird gesagt, ein Paar könne aus zwei Männern, aus zwei Frauen, ja sogar aus einem Mann und einer Frau bestehen. Das ist unobjektiv. Und wenn man das liest, empfindet man das als eine Art von ideologischem Aktivismus“, begründete er gegenüber L’Obs. Le Clere nahm aber auch am 30. September 2016 an einer Sendung des rechtsextremen Radio Courtoisie zu den Themen „Argumente zur Einwanderung“ und „Vor dem Bürgerkrieg?“ teil.
Sens commun wurde formal im Dezember 2013 als Komponente der UMP gegründet, der Vorläuferpartei der vor zwei Jahren umbenannten Républicains, und ging direkt aus den Demonstrationen gegen die Homosexuellenjahre von 2012/13 hervor. Konkret waren ihre Aktivistinnen und Aktivisten zuvor entweder bei der Trägerorganisation der Demonstrationen engagiert, die unter dem Namen La Manif pour tous bekannt wurde – die „Demo für alle“, so lautete die ironische Selbstbezeichnung als Gegenentwurf zur „Ehe für alle“ (le mariage pour tous). Oder aber sie waren Mitglieder der Veilleurs oder „Wachenden“. So hieß eine ebenfalls gegen das Recht der Homosexuellen auf einen Eheschluss demonstierende, sehr entfernt einem Pfadfinderverband ähnelnde Organisation von jungen Er- wachsenen. Dieser Zusammenschluss hielt Mahnwachen gegen die Homosexuellenehe ab, unter anderem im räumlichen Umfeld des französischen Parlaments, bei denen die Nächte durchwacht wurden. Die Nachtstunden wurden mit gemeinsamer Lektüre, mit Diskussionen, Liedern oder auch Gebeten gefüllt.
Argumentiert wurde dabei insbesondere mit der ökologischen Endlichkeit der menschlichen Gesellschaft, deren Berücksichtigung doch auf beiden Seiten ein Herzensanliegen darstelle. Das Wissen um diese ökologische Begrenztheit müsse dazu führen, einerseits anders zu produzieren oder zu konsumieren – andererseits aber auch auf selbstherrliche Entscheidungen der Menschheit zu verzichten wie eben den Wunsch, natürliche Familienstrukturen durch andere Formen des Zusammenlebens zu ersetzen. Denn solche Eingriffe in die Schöpfung, wie sie sich aus christlicher Sicht darstellen, führten eben auch zu künstlichen Eingriffen in den menschlichen Körper wie dem Wunsch nach Fortpflanzung durch künstliche Befruchtung. Dadurch sei die Missachtung der Natur vorprogrammiert. Auf solcher Grundlage argumentiert auch die katholisch inspirierte Zeitschrift Limite („Grenze“), deren Titel in genau dieser Hinsicht Programm ist. In Kreisen der „Demo für alle“ nannte man dieses Konzept, das die Begrenztheit der Ressourcen auf dem Planeten mit dem Respekt für angeblich natürliche Familienformen in einen Topf wirft, auch „Humanökologie“.
Aber solche Ideen zirkulieren nicht nur in Publikationen, die ein schmales – meist jüngeres und mehr oder minder intellektuell geprägtes – Publikum erreichen, sondern verfügen längst über Verbreitungskanäle in größeren Medien und in der etablierten Politik. Die junge Journalistin Eugénie Bastié, 25, ist zugleich Chefredakteurin bei der Zeitschrift Limite und Journalistin bei der größten konservativen Tageszeitung, Le Figaro, sowie nebenbei bei dem aggressiv neokonservativ-neoreaktionären Monatsmagazin Causeur (ungefähr: „Schwätzer“). Sie verleiht höchst rückwärtsgewandten Ideen ein foto- und telegenes Gesicht. Und als ehrenamtliche Pressesprecherin der Vereinigung Sens Commun amtiert eine Journalistin, die zugleich hauptberuflich bei dem auflagenstarken konservativ-wirtschaftsliberalen Wochenmagazin Le Point arbeitet. Phalène de la Vallette war dort 2013 für ein halbes Jahr als politische Redakteurin mit den konservativen Oppositionsparteien und der Bewegung gegen die Homosexuellenehe befasst und konnte deren eigene Inhalte direkt, als angebliche Exklusiventhüllungen, ins Blatt hieven. Seitdem wurde sie allerdings, nachdem Marianne 2015 ihr Pseudonym bei ihrer politischen Tätigkeit – „Constance Andras“ – gelüftet hatte, auf die Kulturseiten weggelobt und kümmert sich nun um Kino und Musik. Bei Le Point war sie zunächst als Ersatz für die im Mutterschaftsurlaub befindliche Redakteurin Ségolène de Larquier eingestellt. Letztere soll gerüchteweise selbst an Aufmärschen gegen die Homosexuellenehe teilgenommen haben; dies berichtet jedenfalls eine Beobachtungsstelle für Medien, OJIM.
Die Gruppierung, Sens commun, mischte und mischt ihrerseits aktiv in den parteipolitischen Auseinandersetzungen und im Wahlkampf mit. Am 1. September vorigen Jahres gab sie auf ihrer Webseite bekannt, bei der Vorwahl im darauffolgenden November zur Bestimmung des konservativen Präsidentschaftskandidaten für 2017 unterstütze sie den Bewerber François Fillon. Und nicht nur dies, die einigen Tausend AktivistInnen der sehr rührigen Bewegung waren auch in dessen Vorwahlkampagne sehr aktiv, verteilten unermüdlich Flugblätter und bearbeiteten Sympathisanten und Mitglieder der Partei Les Républicains argumentativ. Eine entschlossene Minderheit in dieser Größe kann Einiges bewirken.
Zwar verfügte das rechtskatholische Milieu über einen eigenen Kandidaten bei der konservativen Vorwahl in Gestalt des Abgeordneten von Rambouillet, Jean-Frédéric Poisson. Dieser sprach allerdings eher die älteren Semester an und schlug inhaltlich etwas über die Stränge: Er wollte in den Medien definitiv ein Bündnis der Konserativen mit Marine Le Pen nicht ausschließen, witterte allüberall „Pornographie“ und moralische Dekadenz; für den Werteverfall war vor allem 1968 schuld.
Dem Rechtsaußenkatholiken Poisson waren durch die Meinungsforscher rund fünf Prozent der Stimmen bei der konservativen Vorwahl zugetraut worden. Real erhielt er jedoch am Ende nur 1,5 Prozent, denn seine potenzielle Basis entschied sich in ihrer Mehrheit dafür, das vote utile („eine nützliche Stimme“) vorzuziehen, also für das aus ihrer Sicht kleinere Übel zu votieren. Zwar traute man Fillon nur bedingt über den Weg. Doch ähnlich, wie christliche Fundamentalisten in den USA trotz dessen „liderlichen Lebenswandels“ für Trump votierten, weil er versprach, ihnen strategische Positionen im Kampf gegen das Abtreibungsrecht zu verschaffen, erhofften sich Rechtskatholiken in Frankreich Geländegewinne von einem Wahlsieg François Fillons. Hatte dieser sich doch unter anderem als „persönlich“ gegen Schwangerschaftsabbrüche eingestellt zu erkennen gegeben.
Längerfristig ist auch eine Annäherung der Rechtskatholiken an den Front National (FN) nicht auszuschließen, wo jedoch ebenfalls ein Linienkampf zwischen der eher relativ antiklerikalen Linie von Marine Le Pen und dem katholisch-„traditionalistischen“ Flügel ihrer Partei tobt. In einem Gastbeitrag, den die Führungsmitglieder Sébastien Pilard und Madeleine de Jessy im Namen von Sens Commun im Juni 2014 in Le Point publizierten, war der FN jedenfalls auf sehr lockere Weise unter die potenziellen Bündnispartner mitgerechnet worden. Pilard und de Jessy forderten damals die Anführer der UMP (jetzt Les Républicains) dazu auf, endlich wieder inhaltlich „rechts“ zu sein. Ohne näheren Kommentaren zählten sie dann als potenzielle Bündniskonstellationen eine Allianz der UMP mit den beiden bürgerlichen Zentrumsparteien UDI und Modem und „den Versuch, UMP + FN zu addieren“ auf. Alles, was rechts ist, ist möglich...?