Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 2/16 | Geschrieben von Nicole Thies

Bildungskanon

Was gehört denn nun in die Köpfe der Kinder?

Lehrpläne sind Zeugen und ein Spiegel des Bildungskanons in einer Gesellschaft, aber nicht in Stein gemeißelt. Individuell ist die Frage, was und wie in den Schulen unterrichtet werden soll, oft schnell beantwortet. Jedoch bei der Frage um einen Grundkonsens innerhalb der Gesellschaft zeichnen sich ebenso schnell tiefe Gräben ab.

Eine säkulare Antwort kann sein: naturwissenschaftliche Welterklärungen statt Schöpfungsmythen. Dittmar Graf stellt in dieser Ausgabe vor, wie wichtig es ist, das Thema Evolution in der frühkindlichen Erziehung und in die Lehrpläne aufzunehmen. Er legt dar, warum, in welcher Form und mit welchem Gewinn das komplexe Thema Evolution jungen Menschen beigebracht werden kann und sollte.

Ausgehend von der Forderung, Evolution statt Schöpfungsmythen an die Schule zu bringen, ist nur konsequent weitergedacht, die Abschaffung und nicht den Ausbau von konfessionsgebundenem Religionsunterricht zu fordern – gemeint ist der Ausbau als Zugeständnis an sog. gemäßigte 
Islamverbände. Wie weit entfernt dabei politische Forderungen von der Lebenswelt der Menschen sind, zeigt 
Siegfried Krebs am Beispiel des Koali­tionsvertrags von Sachsen-Anhalt. In 
diesem formuliert die Schwarz-Rot-
Grüne-Koalition ihren Konsens, Islam­unterricht an Schulen als integrative Maßnahme einzuführen – mit dem zweifelhaften Ziel gegen die Radikali­sierung von Jugendlichen präventiv vorzugehen. Aber fallen für die Radikalisierung von Jugendlichen nicht andere Gründe zunächst schwerer in Gewicht?

PISA, PIRLS und ICILS bescheinigen dem deutschen Bildungssystem seit Jahren im internationalen Leistungsvergleich von Schüler_innen mittelmäßige Zahlen. Strukturell ist das deutsche Bildungssystem nach dem Prinzip der Vereinheitlichung aufgebaut: Schüler_innen werden nach Alter und Leistung eingeteilt bzw. separiert. Lange Zeit gehörten – und gehören teilweise noch immer – auch Geschlecht und Nationalität zu den trennenden Kriterien. Und auch heute spielen Milieu und Konfessionszugehörigkeit eine wichtige Rolle: Sie öffnen oder versperren bestimmte Bildungszugänge. Die Frage, wo und von wem ein Mensch geboren oder aufgezogen wird, wird zum Zünglein an der Waage. Denn der Eindruck, dass biografische Zufälle den Erfolg von Kindern festlegen, also ob sie gute oder schlechte Schüler_innen werden, täuscht nicht. Die Chancen hängen von sowohl biografischen als auch sozialen Kriterien ab. Das Dilemma ist vorgezeichnet. Aber die Lösung liegt nicht im Festhalten an den alten Strukturen.

Die Wahrung der Privilegien und die Praxis von konfessioneller Teilung grenzen Menschen aus; teilt Menschen in die „Einen“ und die „Anderen“. Die Bandbreite von offener bis versteckter Ausgrenzung und von struktureller bis individueller Diskriminierung zeigt das Beispiel einer Schülerin im Interview „Gott zahlt keine Rechnungen“.
Aber nicht nur die Trennung der Kinder im Religionsunterricht oder die Trennung durch das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion konstruiert Unterschiede und schafft Abgrenzung, nicht zuletzt diskriminierendes Han­deln. Dazu gehört auch der Ruf nach Erhaltung von wertkonservativen Vor­stellungen wie Familie = Mutter-Vater-Kind und Partnerschaft = Mann und Frau. Denn die Lebensformen und die Beziehungsvielfalt haben sich massiv geändert. Elke Prinz schreibt in ihrem Beitrag, mit welchen Slogans sich die sog. „Besorgten Eltern“ für einen gesellschaftlichen „Rollback“ engagieren und sie plädiert hingegen dafür, dass Kinder und Jugendliche befähigt werden, diskriminierungssensibel und selbstbestimmt zu handeln. Zu dem ebenso heiß umstrittenen Feld der Sexualaufklärung von Kindern und Jugendlichen äußert sich Katharina Janko aus ihrer täglichen Praxis einer Sozialarbeiterin im Interview.

Wenn es also im Kita- und Schulleben der Kinder und Jugendlichen darum gehen soll, Chancengleichheit herzustellen und strukturelle Diskriminierung abzubauen, scheint es zielführend, folgende Kriterien und ihre Abhängigkeit zueinander in den Blick zu nehmen: soziale Herkunft, Alter, Geschlecht, Leistung, Behinderung, Na
tionalität, Migrationsstatus und Reli­gionszugehörigkeit. Zielgerichtete Maß
nahmen können deren exkludierende / ausschließende Mechanismen aufheben. Ein gerechteres Schulsystem braucht inklusivere Schulmodelle. Schulformen, in denen Menschen miteinander lernen und voneinander lernen können.