Über den Glauben wurde und wird immer gestritten. Wenn es um „unser“ aller Anfang geht, um den Beginn des Lebens und um „unser“ Ende, dann kommt der religiöse Glaube ins Spiel – unausrottbar wie Christopher Hitchens konstatiert, zumindest solange, „wie wir unsere Angst vor dem Tod, vor der Dunkelheit, vor dem Unbekannten“ nicht überwunden haben.
Oft wird ja vermutet, Religion existiere allein, um das Diesseits und den Tod zu überwinden. Gott sei eine Projektion. Der liebe Herrgott als Wegbegleiter, Hoffnungsträger und Sinnstifter. Eine schöne Vorstellung, vor allem für jene, die nicht gerne alleine unterwegs sind. Wer Gott neben sich wünscht, der sollte dazu bereit sein, den eigenen Verstand auszuknipsen. Zum Beispiel die ungelöste Grundfrage, warum es so viel Grausamkeit und Ungerechtigkeit, Barbarei und Elend auf der Welt gibt, wenn doch alles von einem liebenden und allmächtigen Gott geschaffen wurde? Selbst die intensiv Religiösen tun sich hier mit einer plausiblen Antwort schwer. Sie sind gezwungen, sich dümmer zu stellen, als ihr lieber Herrgott sie geschaffen hat.
Keine Frage: Der Glaube kann Menschen Trost, Halt, Erleichterung und Orientierung geben, ihnen sagen, wo es lang geht in Richtung Himmelreich, dort wo ein Leben nach dem Leben auf sie wartet. Die Sehnsucht nach den Götterboten, dem Garten Eden und anderen himmlischen Wohlfühl-Oasen, sie wird verlässlich und unablässig geliefert. „Gott ist immer bei Dir. Er schenkt Dir ewiges Licht, das alles so hell, gut und warm macht. Den Glauben zu leben ist wie ein Märchen. Er schafft Sehnsüchte, um sie zu stillen“, wie Wolfgang Sofsky feststellt.
Vor mehr als fünfzig Jahren, als Siebzehnjähriger, habe ich den Hort der „Heiligen Kirche“ auf schnellstem Weg verlassen. Ich wollte mein Leben nicht mehr unter der Schirmherrschaft von Jesus und seiner Kirche leben.
Zuviel kam da zusammen: die absurde Apfelgeschichte aus dem Paradies, die kruden Erzählungen von Gottes Leihmutter Maria, vom heiligen Geist und einem doppelten Schöpfer, der aus Jesus und seinem Vater bestand; allerlei abstruse Auferstehungs- und Wundergeschichten, dazu die ständige Sünden-Drohung samt (freilich nicht mehr funktionierender) Erzeugung und Nutzbarmachung des schlechten Gewissens. Es war genug. Ich verabschiedete mich. Um mein Seelenheil musste ich mich ab sofort selbst kümmern.
Gottgesalbte Unterdrückungs- und Wahngeschichte
Religionsgeschichte ist eine Wahn- und Gewaltgeschichte. Ob der christliche Verweis auf einen von Paulus gefärbten Jesus, der vorgeblich kommt, um das Schwert zu bringen, das als Rechtfertigungsgrund gilt für Kreuzzüge, ob die Inquisition, ob die Religionskriege, ob die Bartholomäusnacht, ob die Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen, bis hinein in 20. Jahrhundert – eine Kontinuität der Barbarei.
„Unerbittlich jagen die Agenten des rechten Glaubens die Häretiker, Abtrünnigen, Ketzer. Sie werden der Folter unterworfen, zu Geständnissen gezwungen oder aber sogleich geköpft oder verbrannt. Viele Jahrhunderte des organisierten Christentums und Islams sind geprägt von brutaler Rechtgläubigkeit“, bilanziert Sofsky. Und Karlheinz Deschner, den ich später persönlich kennen- und schätzen lernen durfte, hat diese über 2000 Jahre währende Kriminalgeschichte des Christentums umfassend und profund dokumentiert.
Die Bibel? Das „Buch der Bücher“! Ein Märchenbuch für Erwachsene, ein immerwährender Leitfaden, ein Versprechen für die Ewigkeit. Da will Mohammads Gefolgschaft nicht nachstehen. Auf fast allen Seiten des Korans finden sich Hinweise und Aufforderungen, die Ungläubigen (und Andersgläubigen) samt deren Kultur und Zivilisation zu zerstören – im Namen eines barmherzigen Allahs. Und der jüdische Wahn vom auserwählten Volk? Moses, Paulus, Mohammed – ihre Biographen sind schauderhafte Belege für den rasenden religiösen Irrsinn. Für Gewalt, Missachtung, Bosheit, Hinterlist, Niedertracht, Perversion und Verbrechen – eifernd und gnadenlos im Namen ihres Gottes.
Wir dürfen festhalten: Die Geschichte der Religionen ist eine von flächendeckender körperlicher und seelischer Grausamkeit, von gnadenloser Machtpolitik und Unterdrückung. Und dass es kein Ende damit hat, zeigen exemplarisch die jüngsten Aufdeckungen weltweit verübten Missbrauchs von Priestern an Schutzbefohlenen. Die Kirche – ob katholisch oder evangelisch – ein einziges religiöses Schreckenshaus, in dem grässliche Dinge passiert sind und passieren.
Und so werkeln und metzeln sich die Religionen weiter durch die Weltgeschichte. Priester, Rabbiner und Imane, das eifernde Bodenpersonal Gottes, führt die Unterdrückungs- und Wahngeschichte fort. Wir müssen nicht allzu weit in der Geschichte zurückgehen (dazu bräuchte es eine mehrbändige Enzyklopädie) – nein, nur in die achtziger Jahre, als das multi-ethnische und multireligiöse Jugoslawien unter einer Hass-Lawine begraben wurde und mörderische Banden aus religiösen Eiferern und faschistoiden Vaterlandskämpfern sich gegenseitig massakrierten.
„Säuberungen“, Vergewaltigungen und Massenmord in Namen des jeweiligen Gottes. Millionen, verloren und gaben dabei ihr Leben, fielen dem Religionswahn und den „ewigen Wahrheiten“ zum Opfer. Trotz der monströsen Gräuel, die sich im Namen irgendwelcher Götter gegenwärtig in aller Welt wiederholen und fortgesetzt werden, reklamieren alle Religionen und deren Vertreter noch immer einen Alleinvertretungsanspruch ethischen Handelns, eine höhere, gottgesalbte Moral.
Historisch wie aktuell: Beseelte Glaubens-Advokaten und fanatische Gottes-Fans geben sich nicht mit ihren Versprechungen und Verheißungen zufrieden, nein, sie versuchen, sich in das Leben Nichtgläubiger und Andersgläubiger einzumischen. Diese Einmischung wird dann besonders anmaßend und giftig, wenn sich der Staat zum Komplizen macht. Mittel und Wege sind dabei variabel, die Absicht konstant: Sie propagieren die Glückseligkeit im Jenseits, wollen aber die Macht im Diesseits. Dabei können die klerikalen Angstmacher mit vielfältiger Unterstützung irdischer Machtverwalter rechnen. Politik und Religion, Staat und Kirche: eine bewährte und stabile Komplizenschaft.
Wenn Gott in die Politik zurückkehrt
Doch: Deutschland ist kein Kirchenstaat. Jedenfalls in der Theorie. Wir leben in einem säkularen Verfassungsstaat. Es herrscht Glaubensfreiheit. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen. Jeder Bürger, jeder Bürgerin darf seinen bzw. ihren Gott, auch mehrere Götter haben. Alle dürfen glauben, was sie wollen, beten, zu wem sie wollen. Alle dürfen sich ihren Sehnsüchten und Paradiesträumen hingeben, wodurch sie ihr immerwährendes Seelenheil zu erlangen erhoffen. Das private Illusionsglück steht unter staatlichem Schutz – solange es Privatsache bleibt. „In einer freien Gesellschaft gibt es keine Eintracht der Glaubensbekenntnisse. Die Glaubensfreiheit des einen endet, wo jene des anderen beginnt. Das ist das Prinzip der Religionsfreiheit.“ (Sofsky)
Der Staat selbst aber muss in Glaubensdingen – gewissermaßen zum Schutz der Menschen und ihrer Freiheit – neutral bleiben. Er muss gottlos sein.
Doch genau daran hapert es. Obwohl die Kirchen hierzulande seit Jahrzehnten rapide an Mitgliedern verlieren und inzwischen weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden christlichen Großkirchen ist, bestehen die Kirchen auf jahrhundertealten Privilegien. Und der Staat gewährt sie ihnen – in Form von Sonderrechten, zweifelhaften Subventionen und steuerlichen Vergünstigungen. Diese unheilige Komplizenschaft zwischen Staat und Kirche ist nicht mehr zeitgemäß. Keine Frage: Das „klerikale Kartell“ muss ein Ende haben. Die Errungenschaften der Aufklärung müssen verteidigt werden, damit Gott nicht in die Politik zurückkehrt.
Es geht um die allgegenwärtige unheilige Allianz von Staat und Kirche. Es geht um vielfältige und vielfache anachronistische Wirklichkeiten, um religiöse Privilegien und Vorteilsnahmen in unserem eigentlich doch säkular verfassten Gemeinwesen. Konkret und exemplarisch: um die skandalöse Nicht-Verfolgung klerikaler Missbrauchs-Täter, um fragwürdige Sonderrechte und Subventionen – etwa 600 Millionen jährlich als „Entschädigung“ für die Enteignung von Klöstern im Jahre 1802 –, um Immobilien- und Finanzskandale – etwa 60 Millionen veruntreute Gelder bei Immobilen-Spekulationen –, um repressive Arbeitsrechte, die unser Staat den Kirchen gewährt; um den zweifelhaften Einfluss der Gottes-Lobbyisten in Politik und Medien, um die arrogante Selbstgefälligkeit einer klerikalen Oligarchie. Und es geht um den irritierenden Langmut gläubiger Mitglieder, die trotz allem auf den schalen Schein ihrer Kirche nicht verzichten möchten.
Es geht um die andauernde Verletzung des Verfassungsgebots staatlicher Neutralität – und was dagegen zu tun ist. Darüber hinaus wirft es einen Blick auf kirchliche Kuriositäten, die überdeutlich zeigen, wie weit die Kirche vom aufgeklärten Geist des 21. Jahrhunderts entfernt ist. Ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft ist stark und unheilvoll und der Glaube an die Leistungen der Religion für die Gesellschaft und den Staat noch immer mehrheitsfähig. Eine Konsequenz daraus ist: Die Vorteile religiöser Sonderrechte bleiben unangetastet und die religiösen Problemzonen werden toleriert. Das sollte ein Ende haben.
Der Staat muss gottlos sein
Welche Rolle soll Religion heute spielen? Keine – wenn es nach mir geht. Schon gar keine Sonderrolle, weil dazu „unsere“ Welt in jeder Hinsicht zu klein geworden ist. Religion durchwirkt noch immer unsere Gesetze. Auch Gott selbst wird in „unserer“ Verfassung noch immer direkt angerufen und aufgerufen. „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, und von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ So lautet die Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
Tatsache ist: der Einfluss schwindet. Nur noch 48 Prozent der Deutschen waren 2022 Mitglied einer der beiden christlichen Großkirchen, der Bevölkerungsanteil der Konfessionsfreien ist dagegen auf 44 Prozent gestiegen.
Viele haben sich zwar aus der Kirche verabschiedet, nicht aber von ihrem Glauben. In einer freien Gesellschaft ist der Glaube an einem Gott – eine Göttin – ein geschütztes Grundrecht. Ein religiöses Leben zu führen, steht unter dem Schutz des Staates. Freilich gehört die Deutungsmacht über metaphysische Wahrheitsfragen nicht in den Aufgabenkatalog des Staates. Es gibt keinen Verfassungsgott – auch nicht in einem verdeckten Schrein unseres Grundgesetzes. Gott mag für einige Menschen ein sinnhaftes Zukunftsversprechen sein, für andere eine attraktive Möglichkeit, die Gegenwart zu bewältigen. Der Staat selbst aber muss in Glaubensfragen gottlos sein.
Ob Menschen, gerade geboren, durch das Entfernen der Vorhaut traktiert werden, andere sich auf den beschwerlichen Weg nach Lourdes machen, wieder andere in die richtige Himmelsrichtung beten oder eine Hostie zu sich nehmen, um „errettet“ zu werden – es darf und sollte nur für den Einzelnen bedeutungsvoll sein.
Die Welt dreht sich weiter – auch ohne Himmels-Götter, welcher auch immer sich für eine zukunftsfähige Gegenwart zuständig fühlt. Für „unser“ irdisches Gemeinwesen ist der religiöse Glaube gesetzlich geschützt – und das ist gut so. Alle können ihren Gott oder mehrere Götter haben, der Staat selbst aber muss gottlos sein. Das ist geradezu die Voraussetzung für Religionsfreiheit und Garantie für eine friedliche Koexistenz diverser Weltanschauungen. Wir nennen es Rechtsstaat. Und was mich betrifft: Ich bin gottlos glücklich. Ich halte es mit Blaise Pascal, der an Leute wie mich dachte, als er einem Brieffreund schrieb: „Ich bin so geschaffen, dass ich nicht glauben kann.”