Prisma | Veröffentlicht in MIZ 4/15 | Geschrieben von Viola Schubert-Lehnhardt

Die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch in der DDR

Eine Erinnerung nach 25 Jahren

In den ersten Jahren der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde sehr heftig um notwendige Veränderungen von Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch (bzw. um die Anpassung der unterschiedlichen Gesetzeslage in alten und neuen Bundesländern) gerungen und gestritten. War dies doch die einzige Gesetzeslage, die nicht mit im Einigungsvertrag geregelt war, sondern auf spätere Zeiten (bis 1993) hinausgeschoben worden war.

Seitens westdeutscher Beteiligter traf man häufig die Meinung an, dass in der DDR „Schwangerschaftsabbrüche in den letzten Jahrzehnten nie problematisiert und als ethische Frage diskutiert wurden“. Dieses pauschale Vorurteil hielt sich jahrelang hartnäckig – um so mehr, da bis heute Publikationen und stattgefundene Debatten in der DDR wissenschaftlich kaum zur Kenntnis genommen werden. Insofern soll der 25. Jahrestag der Vereinigung sowohl zum Anlass für einen Rückblick genommen werden, als auch als Möglichkeit auf die Aktualität bestimmter Argumente hinzuweisen.

Für eine Darstellung der ethischen
Diskussion um den Schwangerschafts­abbruch ist es sinnvoll, mindestens drei Ebenen zu unterscheiden: 1. die
 Diskussion unter WissenschaftlerInnen, auf Kongressen, Tagungen, in Fach­zeitschriften, etc. 2. die Diskussion in
öffentlichen Medien (Fernsehen, Rund­funk, Zeitschriften, Foren) und 3. die Einbeziehung dieser Problematik in die Ausbildung an den Schulen, medizinischen Fachschulen und Universitäten.

Schon der erste Überblick zu den drei Ebenen verweist auf eine deutliche Diskrepanz zwischen der ersten und den beiden anderen Ebenen. Während die Diskussion unter den „Fachleuten“ (gemeint sind hier nicht nur die GynäkologInnen, sondern WissenschaftlerInnen verschiedenster Fachgebiete) relativ intensiv geführt und dokumentiert wurde, fallen die zweite und dritte Ebene deutlich ab. Für diese wäre es durchaus berechtigt zu sagen, dass kaum öffentliche Diskussionen um die ethische Problematik des Schwangerschaftsabbruches stattgefunden haben. Auf Grund des offiziell „geförderten Schweigens“ zu dieser Problematik, bzw. Erschwerens der Diskussion (z.B. unterlagen statistische Angaben der Geheimhaltung) hing hier sehr viel vom Mut und der „Findigkeit bei der Themenformulierung“ engagierter Personen ab. Besonders zu würdigen ist z.B. die ständige Auseinandersetzung mit dieser Thematik in Diskussionsrunden der Jungen Gemeinde, auf Kirchentagen etc. Weiterhin gab es Bemühungen von KünstlerInnen, zu dieser Thematik die notwendige öffentliche Diskussion immer wieder in Gang zu bringen bzw. „verordnete Denkschemata“ aufzubrechen (z.B. Charlotte Worgitzki, Meine ungeborenen Kinder, Buchverlag der Morgen, Berlin 1982).

Analoge Bestrebungen gab es in den Hoch- und Fachschulbildungs­einrichtungen. Die Lehrmaterialien (z.B. die beiden zu DDR-Zeiten erschienenen Ethik-Lehrbücher, Materialien für den Unterricht an medizinischen Fachschulen) enthielten entsprechende Abschnitte und Aufforderungen zur Diskussion dieser Problematik. Als defizitär ist dagegen die Einbeziehung dieser Thematik in den Unterricht der allgemeinbildenden Schulen und Oberschulen einzuschätzen, doch auch hier waren in den letzten Jahren der DDR Fortschritte zu verzeichnen.

Selbst wenn diese Aktivitäten vom Umfang her nicht mit den stattgefundenen Diskussionen in der alten BRD vergleichbar sind, rechtfertigen sie keinesfalls die oben zitierte Wertung. Am deutlichsten wird dies, wenn man die Diskussion unter WissenschaftlerInnen rekapituliert:

Generell hat sich die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch in der DDR im Rahmen der sehr breit gefächerten Diskussion um die ärztliche Bewahrungspflicht entwickelt. In den 1950er und 60er Jahren ging es in dieser Debatte allgemein darum, soziale Ansätze verstärkt in die Diskussion medizinischen Handelns einzubeziehen. Aufgrund der damaligen sozial-ökonomischen und geistigen Situation dominierten vor allem Fragen der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Bezüglich des Schwangerschaftsabbruches wurde Wert darauf gelegt, nicht nur die medizinische Indikation isoliert von den sozialen Bedingungen unter denen die Frau lebt zu sehen, sondern die schwangere Frau als Persönlichkeit in ihrer sozialen Umgebung zu sehen und entsprechend über einen Schwangerschaftsabbruch zu befinden. Dieser generelle Ansatz (vom Interesse der Frau her zu diskutieren und zu entscheiden) bleibt in der weiteren Diskussion stets erhalten, argumentativ fanden jedoch Akzentverschiebungen statt. Vor allem ab den 70er Jahre wird zunehmend zwischen der sozialen und individuellen Verantwortung differenziert. Ende der 60er Jahre, vor allem aber mit dem Gesetz von 1972 treten dann Positionen in den Vordergrund, die von der Sicherung des Rechtes der Frau auf Selbstbestimmung (innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist), der Ausschaltung risikoreicher illegaler Abortpraktiken (im Sinne eines ethischen Konsequentialismus) und der juristischen Zulassung des Schwangerschaftsabbruches als „letztes Mittel“ ausgehen. Gerade weil die Inanspruchnahme dieses „letzten Mittels“ durch ÄrztInnen immer wieder hinterfragt wurde, wandte man sich im weiteren verstärkt ethischen Argumentationen zu diesem Eingriff zu. Hier waren es vor allem zwei Komplexe, die (bis in die 80er Jahre hinein) unter Einbeziehung der jeweils neuesten naturwissenschaftlichen For­schungsergebnisse auf dem Gebiet des werdenden menschlichen Lebens immer weiter ausgearbeitet wurden:

  1. der Status des Embryos und
  2. die Unterscheidung von absolut und 
bedingt geschütztem Leben. Hierzu wurde auf die Betonung der Wechsel­wirkung von quantitativen und qualitativen Momenten bei der Entwicklung menschlichen Lebens/des Individuums Wert gelegt. Eines der entscheidenden Merkmale der jeweiligen Quali­tätsstufe dieser Entwicklung war dabei die Wahrscheinlichkeit, mit der die Potenz für die Entwicklung menschlichen Lebens realisiert werden wird. Insbesondere J. Rothe hat sich um eine klare Unterscheidung zwischen menschlichem Leben und werdendem menschlichen Leben be
müht und die dabei auftretenden 
Qualitätsveränderungen als Begrün­dung für die Zulässigkeit des Schwan­gerschaftsabbruches interpretiert. Der in den Diskursen gleichfalls vorhandenen Zurückweisung einer differenzierten Sichtweise des Schutzes menschlichen Lebens in seinen verschiedenen Stadien wurde vor allem durch U. Körner vehement widersprochen. Er unterschied zwischen absolut und bedingt geschütztem Leben.
    Auch an anderen Stellen aufzufin­dende Positionsbestimmungen zur Differenzierung der ärztlichen Bewahrungspflicht haben stets (oftmals in 
Auseinandersetzung mit in der alten BRD dazu vertretenen Positionen) aus
führlich zu verschiedenen ethischen 
Sichtweisen/Bewertungen und Erfah­rungen für weitere Entscheidungen (IVF, Embryotransfer, Nut­zung überzähliger Embryonen zu Forschungszwecken etc.) Stellung genommen.
    Letztendlich zeigt meines Erachtens auch der fast immer verschwiegene Fakt, dass der erste Lehrstuhl für medizinische Ethik 1987 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gegründet wurde, und nicht an einer Universität der alten BRD, die intensive und staatlich erwünscht wie geförderte Auseinandersetzung mit den genannten (und weiteren medizinethischen) Themen.

Informationen Schwangerschaftsabbruch

Schwangerschaftsabbruch resp. Abtreibung ist ein umstrittenes Thema. Zwischen den Polen des Selbstbestimmungsrechtes der Frauen über ihren Körper und den selbsternannten sog. „Lebensschützern“ verlaufen tiefe Gräben. Das Thema umfasst viele Lebensbereiche: von gesetzlichen Festlegungen über religiöse und ethische Einstellungen und Einschätzungen bis hin zu gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen sowie deren individuellen Annahmen.

Aber nicht allein die Morde in den USA und die lebensbedrohenden Attacken der christlich-fundamentalistischen „Lebensschützer_innen“ 
machen das Thema nach wie vor aktuell. Sondern die Fakten sprechen für sich, und nur 
eine, wenngleich andere Sprache. Die Welt­gesundheitsorganisation WHO geht von folgen-
den Zahlen aus: Sterblichkeitsrate bei illegalem 
Schwangerschaftsabbruch 1:450, Sterblich­keitsrate bei legalem Schwangerschaftsabbruch 1:500.000 (bei einer Geburt 1:20.000).

Gesetzliche Bedingungen spielen gerade deshalb eine entscheidende Rolle – nicht zuletzt weil z.B. die Wahrnehmung im von 1949-1991 geteilten deutschen Staat eine andere war: Während in der DDR bis zur 12. Schwangerschaftswoche eine sog. Unterbrechung der Schwangerschaft gesetzlich straffrei zugesichert und erlaubt war (seit 9. März 1972), galt in den BRD zwar ebenso die Fristenregelung und Straffreiheit, aber allein auf Feststellung der vier möglichen Indikationen (medizinische, kriminologische, eugenische und Notlagenindikation). Die ‘Anpassung’ bei der Staatsvertragsschließung zum Beitritt der DDR blieb aus, die Fristen­regelung mit Beratungsschein trat in Kraft (vormals BRD-Recht). Die Wahrnehmung des Themas auf säkularer Ebene und die gegenseitige, aber differenzierte Betrachtung bleiben bis heute weitgehend aus.