An der spezifisch religiösen Ausrichtung der neuen Einrichtung SeeNest für von sexuellem Missbrauch betroffene Minderjährige bestehen keine Zweifel: Bereits in den Stellenausschreibungen wurde von künftigen Mitarbeitenden – von der pädagogischen Fachkraft bis hin zum Hausmeister – eine „persönliche Identifikation mit biblischen Glaubensgrundlagen“ gefordert. Dafür wird Mitarbeitenden auch eine „geistliche Gemeinschaft“ geboten. Die Mitarbeitenden finden sich laut Wentland täglich zum gemeinsamen Gebet und Abendmahl zusammen. Zudem biete das gemeinsame Gebet die Grundlage für einen Zusammenhalt unter den Mitarbeitenden. Denn, so Wentland: „Wer zusammen betet, bleibt zusammen.“ Kritik scheint unerwünscht: „Es wird nur Gutes gesprochen. Nur Heiliges, nur was auferbauend ist. Alles andere brauchen wir nicht.“
Mittlerweile wurde der ‘herbeigebeteten’ neuen Einrichtung SeeNest im bayerischen Allgäu tatsächlich die Betriebserlaubnis erteilt und diese zwischenzeitlich auf die eigens hierfür gegründete Tochtergesellschaft von Mission Freedom, die Himmelsstürmer Deutschland gGmbH übertragen. Und dies vermutlich nicht ohne Grund.
Hamburger Behörden beurteilen Mission Freedom bereits 2013 als nicht seriös
Denn bereits 2013 stand Mission Freedom mit seiner Arbeit im Bereich Menschenhandel und Prostitution unter massiver Kritik. Anlass waren u.a. die christlich-fundamentalistischen Einstellungen von Gaby Wentland, für die die Bibel das unmittelbare Wort Gottes und höchste Gesetz ist. In Wentlands Augen ist vorehelicher Geschlechtsverkehr „die erste große Sünde vor Gott“, Homosexualität eine „Greuelsünde“. Ferner stand die missionarische Ausrichtung von Mission Freedom in der Kritik, die nach Wentlands eigenen Formulierungen vom Wunsch getragen ist, „das Reich Gottes zu bauen“ und die Frauen aus der Prostitution „rauszuholen“, so dass diese „eines Tages vom Heiligen Geist erfüllt in ihre Länder zurückgehen“.
Das Hamburger LKA beurteilte den Verein als „nicht seriös“. Der Hamburger Senat und dortige Opferschutzverbände stellten in einer Bürgerschaftsanfrage fest, dass das Konzept von Mission Freedom nicht den fachlichen Qualitätsanforderungen entspreche und lehnten ebenfalls jede Zusammenarbeit ab. Kritisch wurde insbesondere die „spezifisch religiöse Ausrichtung im Umgang mit Opfern sexuellen Missbrauchs gesehen (‘Heilung vom sexuellen Missbrauch’ […])“. Die Diakonie Hamburg, bei der Mission Freedom – bis heute – Mitglied ist, hegte „starke Zweifel“, ob Mission Freedom im geforderten Maß zwischen Sozialarbeit auf der Basis des christlichen Glaubens und dem eigenen Missionierungsauftrag unterscheiden könne.2
Hinweise auf die christliche Ausrichtung findet man auf der Homepage der neuen Einrichtung SeeNest hingegen ebenso wenig wie zu dem Fachkonzept.3 Aber Gottes Pläne sind eben gerne auch mal undurchschaubar…
Erlaubniserteilung trotz ‘attestierter Unprofessionalität’?
Der Betrieb einer vollstationären Einrichtung für Minderjährige bedarf einer staatlichen Betriebserlaubnis. Auf die Erteilung der Erlaubnis hat ein Träger einen Anspruch, wenn beim geplanten Betrieb von einer Gewährleistung des Kindeswohls auszugehen ist. Trotz Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit finden diese Freiheiten ihre Grenzen dort, wo sie mit Rechten anderer in Konflikt geraten.
Bisher betreibt Mission Freedom als dauerhafte Einrichtungen zwei Schutzwohnungen für volljährige Frauen, die aus der Sexarbeit aussteigen wollen. Mit dem SeeNest begibt man sich nun erstmalig in den erlaubnispflichten Bereich der Arbeit mit Minderjährigen. Sollte das Konzept von Mission Freedom also entsprechend der damaligen Beurteilung durch Hamburger Stellen weiterhin nicht den fachlichen Qualitätsanforderungen für diesen Tätigkeitsbereich entsprechen, dürfte von einer Gewährleistung des Kindeswohls nicht ausgegangen werden können. Hat sich Mission Freedom also zwischenzeitlich gewandelt, sind die damaligen Vorwürfe ausgeräumt, ist mittlerweile eine fachlich fundierte professionelle Arbeitsweise gewährleistet?
Die Privatrecherche zeigt auf, dass Zweifel hinsichtlich der Professionalität und Seriosität weiter angebracht erscheinen. Den zuständigen Behörden reichten diese Informationen hingegen offenbar nicht aus, um die Erlaubnis zu versagen. Auf kritische Anfragen der Landtagsabgeordneten Gabriele Triebel teilte die Staatsregierung mit, man sehe derzeit keinen Anlass, Mission Freedom näher zu beleuchten.4 Zwischenzeitlich wurde auch in Berichten des Recherchemagazins Panorama 35 und der Süddeutschen Zeitung6 die Erlaubniserteilung kritisch hinterfragt. Dabei kam auch zu Tage, dass die Hamburger Stellen ihre damalige Kritik an Mission Freedom weiterhin aufrechterhalten. Die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung
von Parawissenschaften (GWUP) pro
blematisiert insbesondere den Umgang mit vermeintlichen Fällen sog. ritueller Gewalt und in diesem Zusammenhang die Verbreitung von Verschwörungsideologien.7
Kritiker werden dämonisiert: „Kampf mit dem Teufel“
Zwar beteuerten Mission Freedom und Gaby Wentland hinsichtlich der damals vorgebrachten Kritik zunächst, das persönliche Glaubensverständnis Wentlands hätte mit der Arbeit von Mission Freedom nichts zu tun. Anhand zahlreicher im Internet veröffentlichter Predigtmitschnitte der äußerst sendungsbewussten Wentland wird jedoch schnell deutlich, dass dies offensichtlich gelogen war.
Auf einem Vortrag resümierte Wentland zur damaligen Kritik aus Hamburg, sie habe darauf aufmerksam gemacht, dass es in Deutschland auch Kinder in der Prostitution gebe. Doch wer so etwas öffentlich sage, werde sofort mundtot gemacht, vielleicht sogar getötet. Sie sehe sich deshalb in ihren Aktivitäten in einem „geistlichen Kampf“ mit dem Teufel: „Hier ist ein geistlicher Kampf. Hier ist der Satan dabei, wieder zurückzuholen, was ihm gehört. Und ich hatte versucht, so viel Land zu bekommen wie nur möglich.“
Auch bekundet Wentland in zahlreichen im Internet veröffentlichten Videos selbst, welchen Einfluss ihre persönlichen Glaubenseinstellungen auf die Arbeit mit Mission Freedom nehmen. So sei sie angeblich persönlich unmittelbar von Gott zu ihrer Arbeit von Mission Freedom berufen worden. Immer wieder berichtet sie, wie sie und ihre Mitarbeitenden sich durch göttliche Eingebungen fortlaufend bei ihrer Arbeit leiten lassen. Immer wieder komme es dabei zu „Wundern“ und Bekehrungen von Frauen aus den Schutzhäusern. Häufig werden die von Mission Freedom betreuten Frauen in die christlichen Gemeinden von Wentland und ihre Mitarbeitenden eingeführt und dort zum Teil (auch von Wentland persönlich) getauft. Dort ‘dürfen’ die Frauen dann ihre sensationellen Bekehrungsgeschichten präsentieren. Dabei freut sich Wentland, wenn ihre Schützlinge ihre fundamentalistischen Positionen übernehmen und z. B. ebenfalls vorehelichen Geschlechtsverkehr verdammen.
Für ihre weitere Arbeit zeigt sich Wentland äußerst optimistisch: Schließlich habe Gott ihr persönlich zugesagt, dass sie eines Tages in jedem Bundesland ein Schutzhaus für Frauen aus der Prostitution haben werde. So glaubt sie fest daran, eines Tages „eine Armee von Frauen aus dem Milieu“ zusammengestellt zu haben, und hofft, dass es jetzt schneller geht, „die Ernte einzuholen“ – denn schließlich will sie an ihrem siebzigsten Geburtstag tausend Frauen „aus dem Milieu“ auf ihrer Party haben und träumt davon, das Rotlicht „zu regieren“, am Ende „zu siegen“, sodass Kirchen gebaut werden, wo heute noch große Bordelle stehen.
Anzeichen für religiösen Machtmissbrauch
Diese geradezu narzisstische Selbstüberschätzung erscheint für die im Umfeld von Mission Freedom Schutzsuchenden offensichtlich äußerst gefährlich. Auch Kirchen und kirchliche Organisationen befassen sich seit einigen Jahren mit den Gefahren religiösen Machtmissbrauchs.
Religiöser oder auch „geistlicher Missbrauch“ wird insbesondere angenommen, wenn der christliche Glaube in Abhängigkeitsbeziehungen benutzt wird, um sich anvertrauende Menschen nach den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu manipulieren. Häufig setzen dabei die Täter*innen ihre Stimme mit der Gottes gleich – so auch Gaby Wentland, die nach eigenem Bekunden ihren Mitarbeitenden sagt: „Wir sind Jesus“.
Geistlicher Missbrauch erfolgt regelmäßig sehr subtil, schleichend, wirkt auf Betroffene häufig sogar zunächst positiv. Ein Grund hierfür ist das dabei häufig angewendete sogenannte „Love Bombing“, also das Überhäufen mit vermeintlicher Liebe und Aufmerksamkeit. Bei Wentland zeigen sich entsprechende Verhaltensmuster, etwa wenn sie offenbar ohne jegliche professionelle Distanz die Schutz suchenden Frauen als „Prinzessinnen“, ihre „Töchter“ und „Freundinnen“ oder gar als ihr von Gott geschenkte „Babys“ ansieht, denen sie „ein geschütztes Zuhause“ bieten will. Und wenn sie mit den Frauen eine Brautkleidanprobe veranstaltet, letztlich nur, um ihnen dann zu sagen, so sehe sie Jesus, als seine Braut, sie seien die schönsten Frauen, die es gibt. Und dass sich doch alles zum Guten wenden wird, wenn die Frauen Gott in ihr Leben einladen.
Weitere Anzeichen geistlichen Missbrauchs ergeben sich aus Wentlands striktem Glauben an übernatürliche Kräfte und Dämonen und daraus abgeleitete Heilungsversprechen. Wentland selbst schreibt sich u. a. zu, ihren Mann schon mehrere Male von den Toten auferweckt zu haben und Krankheiten durch Gebet heilen zu können. Den Frauen wird also gesagt: Wenn du richtig glaubst, werden Krankheiten geheilt, alle Probleme gelöst, wird alles gut. Wenn das nicht funktioniert, hat Wentland den Grund gleich parat: Denn dann wird offenbar ‘nicht richtig’ geglaubt. Vielleicht vertraut man dann zu sehr den Ärzten und nicht genug dem eigenen Gebet. Oder es liegt an den ‘bösen Medien’, die jemand konsumiert – die sollte man sowieso besser (wie Wentland nach eigenem Bekunden selbst) abbestellen und strikt meiden.
Die Folgen für die physische und psychische Gesundheit von geistlichem Missbrauch Betroffener sind immens und dauern teils ein Leben lang an. Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie Kinder in einem solchen Glaubensumfeld aufwachsen und mit welchen massiven Ängsten sie ihr Leben lang zu kämpfen haben, dem sei die erschütternde Lebensgeschichte von Berndt Vogt in seinem lesenswerten Buch Missbraucht im Namen des Herrn empfohlen.
Gebete zur Befreiung von Dämonen und Homosexualität?
Weitere im wahrsten Sinne des Wortes perfide Manipulationstechniken werden in der Zusammenarbeit von Mission Freedom mit dem Bethel SOZO Deutschland e.V. bzw. dem von diesem entwickelten sog. „SOZO-Dienst“ offenbar. Bei SOZO handelt es sich um ein aus der radikal-charismatischen Bethel Church heraus entwickeltes ‘Befreiungsgebet’, das u.a. von dämonischen Besessenheiten ausgeht. Auch Homosexualität soll zu den sexuellen Sünden gehören, von der – so die Website der „Entwicklerin“ des Dienstes, Dawna de Silva – befreit werden kann.8 Wie genau SOZO in der Arbeit von Mission Freedom angewendet wird, ist nicht bekannt. Durchaus aber, dass Mission Freedom seine Mitarbeitenden in diesen Praktiken, die auch bei schwerwiegenden Erkrankungen wie einer Dissoziativen Identitätsstörung Anwendung finden sollen,9 schulen lässt. Veröffentlichte Bilder zeigen die begeisterte Wentland auf dem Weg zu einer entsprechenden Schulung mit Dawna de Silva – gemeinsam mit der heutigen Geschäftsführerin der Himmelsstürmer Deutschland gGmbH, Inga Gerckens.
Entsprechend der damaligen „Verteidigungsstrategie“ von Mission Freedom beteuert Inga Gerckens als heutige Geschäftsführerin der Himmelsstürmer Deutschland gGmbH gegenüber Panorama 3 erneut, die persönlichen Weltanschauungen Wentlands hätten mit der dortigen Arbeit nichts zu tun. Dass man für die eigene Arbeit aber explizit diesen „Weltanschauungen“ entsprechende Mitarbeitende auswählt, bleibt unerwähnt. Ebenso die dem eklatant widersprechenden unzähligen Äußerungen Wentlands. Im Übrigen wirkt es geradezu grotesk, wenn eine angestellte Geschäftsführerin behauptet, die Einstellungen ihrer weisungsbefugten vorgesetzten Arbeitgeberin und Gesellschafterin hätten mit ihrer Arbeit nichts zu tun.
Gaby Wentland jedenfalls zeigt sich davon unbeeindruckt: Sie ist fest davon überzeugt, ihrer göttlichen Berufung entsprechend eines der nächsten Schutzhäuser in Deutschland eröffnet zu haben. Schließlich begrüßte sie die dortige Unterbringung erster Kinder als größte Freude ihres Lebens: „Das ist so, als wenn Gott mir drei neue Baby geschenkt hat“.
Was muss passieren?
Die Räumlichkeiten der Einrichtung SeeNest werden Mission Freedom von der Katholischen Jugendfürsorge Augs- burg vermietet. Laut Süddeutsche Zeitung nehme man die Vorwürfe sehr ernst. Was das genau heißt, bleibt ebenso offen, wie die Frage, warum es überhaupt zu einer Vermietung kam.
Ebenso offen bleibt, warum weiterhin Jugendämter die Einrichtung mit Kindern belegen. Offensichtlich wird die Verantwortung der zuständigen Heimaufsicht zugeschoben – immerhin verfügt das SeeNest ja über eine gültige Betriebserlaubnis.
Und die Heimaufsicht? Die ist offenbar dazu verurteilt abzuwarten, bis sie Verstöße konkret nachweisen kann. Also darauf, dass ohnehin bereits missbrauchte Minderjährige erneut zum Missbrauchsopfer werden? Was hat man eigentlich aus den kirchlichen Missbrauchsskandalen der vergangenen Jahre gelernt?
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: ‘Werden hier sehenden Auges schwerst missbrauchte Minderjährige in die Obhut einer missionarisch ausgerichteten christlich-fundamentalistischen Organisation gegeben?’. Das kann anhand der Fakten wohl nur bejaht werden. Das einzige, das zynischerweise bisher für einen auch öffentlich wahrgenommenen Skandal ‘fehlt’: aussagewillige geschädigte Opfer.
Anmerkungen
1 Die Privatrecherche mit Nachweisen zu den in diesem Artikel wiedergegeben Zitaten kann unter folgendem Link abgerufen werden: .
2 Vgl. zur Bürgerschaftsanfrage vom 29.10.2013 die Parlamentsdatenbank der Hamburger Bürgerschaft, dort Drs. 20/9964, abrufbar unter: Zugriff jeweils
3 https://himmelsstuermer.org/.
4 Vgl. Antwort der Staatsregierung auf die schriftliche Anfrage MdL Gabriele Triebel (Bündnis90/Die Grünen), Drs. 19/2044 v. 07.06.2024.
5 Bericht Panorama 3 vom 16.7.2024: „Christliche Nächstenliebe? Dubioser Verein kümmert sich um Minderjährige“ (Anfang August noch abrufbar in der ARD-Mediathek).
6 „Material, was Gott braucht, um sein Reich zu bauen“, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.7.2024.
7 Artikel im Blog der GWUP |Die Skeptiker vom 16.7.2024: „Rituelle Gewalt-Mind Control: Eine verschwörungsgläubige Organisation darf im Allgäu traumatisierte Kinder betreuen“, .
8 Vgl. https://dawnadesilva.com/closing-thefour-doors/.
9 Vgl. zu SOZO: Hardecker, Svenja / Kohler Philipp: „Seelsorge auf Speed?! Der Befreiungsdienst ‘SOZO’ der Bethel Church“, in: ZRW 86/6 (2023), S. 414 ff.