Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 2/18 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Eigentlich…

Eigentlich könnte es ein Aufbruchsignal für gesellschaftliche Veränderung sein: Im April wurde in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs festgestellt, dass die Nichtberücksichtigung einer konfessionslosen Bewerberin durch ein Unternehmen der Diakonie gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen hat. Und Ende Mai kam der Generalanwalt des Gerichts im Fall der Kündigung 
eines Chefarztes eines „katholischen“ Krankenhauses zu dem Schluss, dass die Wiederverheiratung nach einer Scheidung bei einem Mediziner kein zulässiger Kündigungsgrund sei. Da das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wegen der Sonderbehandlung der Kirchen bereits kurz nach seinem Inkrafttreten ins Visier der EU-Kommission geraten war, kam die Entwicklung nicht wirklich überraschend. Und eigentlich wäre nach so einer klaren Ansage aus Luxemburg der Gesetzgeber gefordert, die deutschen Rechtsvorschriften an europäische Standards anzugleichen.

Zumal das kirchliche Arbeitsrecht mit seinen „Loyalitätspflichten“ für die Beschäftigten und der Ablehnung von Betriebsräten und Tarifverträgen auch unter Kirchenmitgliedern keine allzugroße Zustimmung erfährt. Und selbst für diejenigen, die in Ein­richtungen in kirchlicher Trägerschaft arbeiten, spielen, wie Umfragen zeigen, Vorstellungen wie die „Dienst­gemeinschaft“ keine Rolle.

Im letzten Bundestag hätte es sogar eine (rechnerische) Mehrheit für eine Abschaffung der diskriminierenden Sonderregelungen gegeben (wenn wir die Aussagen der Wahlprogramme mal ernst nehmen). Doch im Frühjahr blieb es ziemlich still. Die Fraktionen von SPD und FDP hatten zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes nichts zu sagen, die AfD-Abgeordneten auch nicht (sie beantragten dafür in der betreffenden Sitzungswoche, die weltweite „Christenverfolgung [zu] stoppen und [zu] sanktionieren“).

Lediglich die Fraktionen von Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen äußerten sich. Doch während der Be­auftragte für Religion und Weltan­schauungen Konstantin von Notz, die klare Forderung aufstellte, das AGG umgehend zu reformieren, erklärte die religionspolitische Sprecherin der Linksfraktion Christine Buchholz in dürren Worten, dass es gut sei, „wenn die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegenüber kirchlichen Arbeitgebern gestärkt“ würden – um die völlig unsinnige Forderung anzuschließen, die Bundesregierung müsse „tätig werden und entsprechende Änderungen des Kirchenrechtes [sic!] auf den Weg bringen“.

Dass die kleinste Oppositionspartei alleine das kirchliche Arbeitsrecht zu Fall bringen wird, ist unwahrscheinlich. Von den organisierten Kon­fes­sionslosen muss die Entwickung als Alarmsignal verstanden werden. Buch­holz’ Äußerung ist wahrscheinlich nur ein „Versprecher“, aber illustriert das Problem sehr gut: In maßgeblichen Teilen der Politik, bis weit hinein ins linke Spektrum, herrscht wieder die Vorstellung, dass Religionen außerhalb der für alle geltenden Regeln stehen, dass es prinzipiell in Ordnung ist, wenn Religionsgemeinschaften Bereiche abstecken, in denen Verfassung, Bürger- und Menschenrechte nur eingeschränkt gelten. Dann ist es eben auch „logisch“ nicht eine Änderung staatlicher Gesetze zu fordern, hier: die Streichung der Ausnahmestellung der Kirchen in AGG und Betriebsverfassungsgesetz, sondern an eine Änderung des „Kirchen­rechts“ zu denken (was nicht in der Kompetenz staatlicher Organe liegt).

Eigentlich ist es eine Grundlage des 
Rechtsstaates, dass Gesetze für alle gel-
ten, und eigentlich müsste der Miss­brauchsskandal zur Genüge klar gemacht haben, was herauskommen kann, wenn eine Religionsgemeinschaft der Auffassung ist, dass für sie bestimmte Vorschriften keine Bedeutung haben. Der Begriff der „Selbstbestimmung“ (den 
die Verfassung nicht kennt, dort ist nur von einem Selbstverwaltungsrecht in den Schranken der für alle geltenden Gesetze die Rede) hat dem Vorschub geleistet.

Hinzu kommt, dass in der Debatte 
um religiöse Minderheiten die Kultur-
relativisten aller politischen Lager die Auflösung der Vorstellung von Gleichheit betreiben. Unter dem Vor­wand, sich für deren Gleichberech­tigung einzusetzen, wird Gläubigen das Recht zugebilligt, nach den Vor­gaben ihrer Religion (bzw. nach ihrer oft genug reaktionären Interpretation derselben) gesellschaftliche Fragen für alle verbindlich zu beantworten. Das hart erkämpfte Recht auf Meinungsfreiheit (beispielsweise) gilt dann nicht mehr, wenn eine religiöse Gruppierung der Meinung ist, dass irgendein religiöses Symbol oder jemand aus dem göttlichen Personal nicht (oder nicht so) dargestellt werden darf. Durch die Hintertür hält so wieder Einzug, was seit der Aufklärung mühsam „ausgetrieben“ wurde: das Vorrecht der Kirchen, die Gesellschaft nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.

Die teils ausgesprochen aggressiven Verbalattacken auf politisch Aktive, die sich für das Berliner Neutralitätsgesetz aussprechen, haben die Zielsetzung, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Insofern wäre eine Debatte über die Rolle von Religion respektive religiösen Organisationen in der Gesellschaft angesagt. In meinen Augen, wären dabei drei Fragen zu diskutieren:

  1. Wie viel Einfluss dürfen Religio­nen auf die Gestaltung der Gesellschaft haben? Welches Gewicht steht ihnen im Vergleich zu anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen zu? Welche Ein­flusskanäle sind legitim (und welche nicht)?
  2. Inwieweit dürfen Religionsge­meinschaften anderen Gruppen oder Einzelpersonen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben? Gibt es hier legitime Tabus, die nicht durch die allgemeinen Gesetze abgedeckt sind?
  3. Wie weit geht das Recht von Re­ligionsgemeinschaften, von ihren eige­nen Mitgliedern ein bestimmtes Ver­halten zu verlangen und dies durchzusetzen?

Das Kirchliche Arbeitsrecht wäre ein gutes Beispiel, dies durchzuexerzieren. Darin könnte auch ein Ansatz liegen, von einer „Islamdebatte“ weg­zukommen, in der sich AfD, konser­vative Islamverbände und ihre Steig­bügelhalter in allen politischen Lagern die Bälle zuspielen und gemeinsam den gesellschaftlichen Rückschritt einleiten.