Prisma | Veröffentlicht in MIZ 2/14 | Geschrieben von Hermann Josef Schmidt und Martin Bauer

„Fluch auf das Christentum“

Ein Gespräch mit Hermann Josef Schmidt über Nietzsche 
und dessen Religionskritik

In jeder Textsammlung zur Religionskritik findet sich ein Ausschnitt aus einem seiner Werke, und das Zitat „Gott ist tot“ formuliert seine Gegnerschaft zum Christentum ebenso radikal wie plakativ. Doch auch hinsichtlich der Religion wirft Friedrich Nietzsches aphoristisch angelegtes Werk mehr Fragen auf, als es Antworten bereithält. Der Philosoph Hermann Josef Schmidt beschäftigt sich seit Langem mit Nietzsche. Sein neuer Aufsatzband setzt sich vor allem auf die Fährte des Christentumskritikers.

Martin Bauer: Nietzsche stellt seit Langem den Schwerpunkt Ihrer Ver­öffentlichungen dar. Warum gerade und immer noch Nietzsche?

Hermann Josef Schmidt: Schon früh hatte ich Nietzsche als immensen Befreier des Geistes schätzen gelernt. Doch dieser Aspekt spielte in der Interpretation eine nur sehr untergeordnete Rolle. Stattdessen wurden seine Texte eher domestiziert, normalisiert, des für sie Charakteristischen interpretativ entkernt, kurz: „entnietzscht“. Deshalb wollte ich schon früh „gegenhalten“.

Martin Bauer: Bezeichnen Sie deshalb Ihre Nietzscheuntersuchungen als „Sondervoten“?

Hermann Josef Schmidt: Ja, und aus sogar vielen Gründen. Die nahezu generelle Instrumentalisierung alles Relevanten machte auch vor Nietzsche nicht Halt. Deshalb meinerseits immer deutlichere Sondervoten.

Martin Bauer: Was ist, auf den Punkt gebracht, das Nietzsche-Spezifische an seiner Christentumskritik?

Hermann Josef Schmidt: Spezifisch dürfte sein, dass eine nietzschetypische Kette, beginnend in Nietzsches Kindheit, zu skizzieren wäre. So demonstriert schon der 11-Jährige, dass er Theodizeeprobleme für unauflösbar hält. Für welches damalige Kind galt das sonst? Der Jugendliche betont den hypothetischen Charakter christlicher Glaubensinhalte. Der 20-Jährige betont, dass die Stärke eines Glaubens unabhängig vom Inhalt oder der Qualität eines Glaubens ist. Nietzsche assimiliert und verschärft fast jedes philosophische, geistes- oder naturwissenschaftliche Argument, das er aufzuspüren und kritisch gegen Christentum zu wenden vermag. Charakteristisch ist die durchgehaltene Leidenschaftlichkeit, Polyperspektivität und zunehmende Vehemenz, seiner Auseinandersetzung, Argumentation und zuletzt Verurtei­lung. Dabei scheint er in jeden Winkel und selbst in den Bauch des Christentums gekrochen zu sein. Spät erst wird als Intention deutlich, Christentum in seinen Ansprüchen nicht nur argumentativ destruieren, sondern in einem „Todkrieg“ physisch „vernichten“ zu wollen, weil es unter anderem durch Verachtung des geschlechtlichen Lebens „die Widernatur“ lehre.

Martin Bauer: Inwiefern liefern Sie „immer deutlichere Sondervoten“ zu Nietzsche?

Hermann Josef Schmidt: Erstens betone ich die Bedeutung ‘griechisch’-tragischer und belege zweitens die Relevanz genetischer Perspektiven als Schlüssel angemesseneren Nietz­scheverständnisses – beides ist kurioserweise leider noch immer ziemlich neu. Drittens berücksichtige ich, dass Nietzsches Kritiken oftmals vehemente Kritik eigener, früherer Sichtweisen beinhalten und ich zeige viertens – ich gestehe: genüsslich – die Unangemessenheit prochristlicher Interpretationen Nietzsches oder seiner Texte bis in manches Detail. Dazu kommt, fünftens, dass ich die Bedeutung der Anregungen des Dichters Ernst Ortlepp, schon für das Kind betone; und dass die Art von Nietzsches Entwicklung auch unter der Perspektive des erbärmlichen, von Nietzsche aus nächster Nähe verfolgten Scheiterns Ortlepps zu verstehen ist. Sechstens: die These, dass Nietzsche seine Probleme lange verdeckt präsentierte, meist verbunden mit – siebtens – interpretationskritischen Anmerkungen und achtens mit weltanschauungs- und ideologiekritischen Einsprengseln, belegen und fixieren wohl auch den Sondervotenstatus meiner Schriften zu Nietzsche. „So etwas“ zitiert und bespricht nämlich kaum jemand gern...

Martin Bauer: Das klingt ja fast nach dem berühmten gallischen Dorf …

Hermann Josef Schmidt: Nur solange wir nicht vergessen, dass es dicht besiedelt war. „Sondervoten“ bedeutet nicht, dass sonst niemand die jeweils üblichen Trampelpfade meidet. Nietzsche war ein Querkopf, zog und zieht Querköpfe geradezu magisch an. So findet man ein buntes Völkchen unter seinen Lesern und Interpreten. Was nicht nur Nachteile hat. Glücklicherweise gab und gibt es auch ausgezeichnete Interpreten. Doch verzichten sie auf konsequent genetische Perspektiven. Genau diese jedoch sind bei Nietzsche unverzichtbar.

Martin Bauer: „Unverzichtbar“?

Hermann Josef Schmidt: Wir haben eine Literaturflut zu Nietzsche und über Nietzsches Themen, Jahrbücher, Tagungen, Kongresse… Doch immer kaum einen Hauch von Konsens in der Deutung größerer Zusammenhänge? Bereits die Vielheit unvereinbarer Deutungen belegt, dass sich wenigstens die meisten Autoren täuschen müssen. Ja, warum? Weil sie noch vor allen übrigen Kompetenzdefiziten genetisch abstinent, wenn nicht sogar genetisch blind sind…

Martin Bauer:… nochmals: warum entscheidet das gerade bei Nietzsche?

Hermann Josef Schmidt: Nietzsches Veröffentlichungen liegt eine erstaunliche Problemkontinuität zumal des Kritikers zugrunde, die man wohl erst dann erkennt, wenn man auch seinen frühen Nachlass nachdenklich und nicht unkundig liest. Doch genau daran hapert’s, denn beides wird, als ob ein Gelübde abgelegt worden wäre, verweigert. Das vermochte bisher niemand zu ändern.

Genetische Perspektive meint schlicht, dass man Nietzsches Texte
in Kenntnis seiner gesamten Denk­entwicklung liest; und entsprechend interpretiert. Dann lösen sich viele
Knoten. Unglücklicherweise erkennt
das wohl nur jemand, der auch Nietz­sches frühe Texte kennt; und sie nicht imperialistisch interpretiert.

Martin Bauer: „Imperialistisch interpretiert“? Was meinen Sie denn damit?

Hermann Josef Schmidt: Ohne Rück­sicht auf Wissen über die Person Nietzsche oder auf Regeln möglichst korrekter Deutung seiner Texte kontextblind in ihn oder in diese hineinzuinterpretieren bzw. aus ihnen herauszulesen, was eigenen Vorannahmen entspricht; und im Notfall interpretativer Gewaltsamkeiten nicht zu scheuen. Konsequent imperialistische
Interpretation lässt keinem Interpre­tationsobjekt die Chance, in seiner Eigenart erkannt zu werden.

Martin Bauer: „Pastorenhausatmo­sphäre“ scheint eines Ihrer zentralen Stichworte zu sein. Trägt deshalb Nietzsches späteste Christentumskritik den Untertitel „Fluch auf das Christenthum“?

Hermann Josef Schmidt: Nietzsche reflektierte noch in Der Antichrist, dabei wie barfuß auf eines Messers Schneide balancierend, wie prägend für ihn diese Atmosphäre gewesen war; prägend im Sinne bleibender Verhaftung ebenso wie systemdestruktiver Blicköffnung.

Und so wurde er als Pastorenkind zum zuerst wohl an sich selbst zweifelnden, dann zum empörten, in „griechischen Phantasien“ Schutz suchenden, später zum genialen, sensiblen, authentischen und treffsicheren Kritiker, der primär eigene Erfahrungen verallgemeinernd und sprachlich gekonnt umzusetzen vermag; immer auf der Suche nach einer Lösung seiner existentiellen Sinnfragen, pendelnd zwischen Kritik und Sinnsuche, später auch Sinnsetzung.

Nietzsches schon frühe christen­tums- und später religionskritischen
Perspektiven machen seine Problem­kontinuität aus: Schließlich galt es, noch Gottes Schatten, Auswirkungen christlicher Auffassungen in Philo­sophie, Wissenschaft, Literatur und Politik beispielsweise, zu besiegen. Daran arbeitete er sich bis zu seinem Zusammenbruch zunehmend lautstark ab. So ist und bleibt Nietzsche auch als Provokateur ein immens anregender, denkstimulierender Autor für kritischere Köpfe. Glücklicherweise waren bisher weder er noch andere Aufklärer interpretativ ‘totzukriegen’.

Martin Bauer: Es klingt, als ginge es Ihnen nicht lediglich um Nietzsche. Instrumentalisieren damit nicht auch Sie Nietzsche? Tun also das, was Sie anderen vorwerfen?

Hermann Josef Schmidt: Nur dann, wenn Nietzsche nicht schon von Kind an auf Selbstdenken gesetzt und sich nicht zum radikalen Aufklärer entwickelt hätte. Würde ich den dominanten Umgang mit Nietzsche und mit Fragen der Nietzscheinterpretation nicht als exemplarisch einschätzen, hätte ich mich auch als Autor längst anderen Themen zugewandt. Interpretations- und wohl auch weltanschauungskritische Akzente gehören in einer möglichst nietzscheangemessenen Nietz­scheinterpretation unabdingbar dazu.

Martin Bauer: Was hat es mit dem Titel auf sich? Wem wird hier der Tod angedroht?

Hermann Josef Schmidt: Das Zitat stammt vom 18-Jährigen, der sich mit Kriemhilds Reaktion auf die Ermordung ihres Gatten Siegfried zu identifizieren scheint. Cum grano salis kann es als Kürzel für die frühe Motivation der Auseinandersetzung mit dem Gott seiner Väter verstanden werden, da dieses Kind, den Glaubensvorgaben seiner Familie entsprechend, in einigen Texten den Eindruck erweckt, niemanden anders denn den Allmächtigen als verantwortlich für das vielmonatige Leiden und den Tod seines früh verstorbenen Vaters rekonstruiert zu haben. Die Drohung bezog sich zuerst nur auf den Allverantwortlichen, dann auf den heimischen Glauben, später auf Christentum und weltflüchtige Religionen insgesamt.

Martin Bauer: Letzte Frage: Erst nach einer Pause von 10 Jahren haben Sie jetzt wieder ein Buch zu Nietzsche vorgelegt. Was bringt es an Neuem und in welchem Verhältnis steht es zu Ihren übrigen Veröffentlichungen zu Nietzsche?

Hermann Josef Schmidt: Nicht selten bekam ich zu hören, ich schriebe zwar spannend, doch meine Bände zu Nietzsche sowie zu Ortlepp, Zentrum einer Pförtner Subkultur, seien zu umfangreich und meine Methodenkritik in Wider weitere Entnietzschung Nietz­sches wäre zwar stichhaltig, aber eher speziell. Es fehle eine meine Thesen insgesamt präsentierende, komprimierte und preiswerte Fassung auf höchstens 250 Seiten. Solange diese nicht vorläge, sabotierte an erster Stelle ich selbst den Erfolg meiner Argumentationen…

Diesen Vorwurf teste ich nun. Der Band bietet deshalb acht besonders informationshaltige, möglichst gut lesbare Vorträge, die dank ihrer Anordnung und inhaltlichen Vernetzung ermöglichen, Nietzsches Entwicklung primär als betroffener Christentumskritiker und „Feind … Gottes“ so nachzuvollziehen, dass sie nicht nur als verständlich, sondern als konsequent, ja „logisch“ erscheint.

Damit liegt ein vielfach angefragtes Komprimat meiner Thesen und Überlegungen zur Entwicklung dieses so treffsicheren Kritikers vor. So kann jetzt jeder sein Urteil über Nietzsche überprüfen; und vielleicht spannende Entdeckungen machen.

Das Interview erschien ursprünglich in einer deut­lich umfangreicheren Fassung im Humanistischen Pressedienst (hpd.de/node/18751).