Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/18 | Geschrieben von Victor Schiering

Genitale Selbstbestimmung als Menschenrecht.

Der „Weltweite Tag der genitalen Selbstbestimmung“ wurde am 7. Mai 2018 zum sechsten Mal begangen

Am 7. Mai 2012 bewertete das Kölner Landgericht eine medizi
nisch nicht indizierte „Beschneidung“ an einem nicht einwilligungs-
fähigen Jungen als rechtswidrig. Dies war nur folgerichtig, denn auch Kindern standen in Deutschland die Rechte auf körperliche Unversehrtheit und gewaltfreie Erziehung zu. Warum hätten diese Rechte gerade vor dem Intimbereich haltmachen sollen, und dann auch noch exklusiv nur vor dem von Jungen?

Der Deutsche Bundestag entschied am 
12. Dezember 2012 als Reaktion auf 
das Kölner Urteil in einem Hau­ruck­verfahren, dass Eltern aus jeglichem Grunde in eine „Beschneidung“ ihrer Söhne einwilligen können – ein Widerspruch zu sämtlichem übrigen gesetzlichen Schutz von Kindern und gleich ein mehrfacher Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention.

Ein halbes Jahr später wurde Ge­nitalverstümmelung an Mädchen in jeglicher Form und Durchführung in einem eigenen Strafrechtsbestand ver-
boten. „Schon“ ein Einstich ohne Gewebeverlust durch Ärzte ausgeführt, wie er in einigen asiatischen Ländern vorkommt und immer wieder wie jüngst in den USA als Ersatzhandlung für intensivere Eingriffe vorgeschlagen wird, fällt unter diese gesetzliche Regelung.
Ob einem Kind volle oder nur eingeschränkte Rechte auf Vollständigkeit der Genitalien zugebilligt werden, entscheidet sich in Deutschland also seitdem ganz offiziell bei der Geburt am äußerlich sichtbaren Geschlechtsorgan.

Bündnisse für Aufklärung

Ein stetig wachsendes gesellschaftliches Bündnis findet sich mit dieser Situation nicht ab. Hier stehen Betroffene, Frauenrechtlerinnen, Medi-
ziner*innen, Humanist*innen und Ju-
rist*innen Seite an Seite und in stän
digem Austausch. Sie eint die Über­zeugung, dass Kinderrechte unteilbar sind. Es gilt, sich zuzuhören und Plattformen der Information zu etablieren.

Seit 2012 organisieren sich im Facharbeitskreis Beschneidungsbe­trof­fener im MOGiS e.V. Männer verschiedener Herkunft und Kulturen, die unter den Folgen einer im Kindesalter erfolgten Vorhautamputation leiden. Sie gehen mit ihrem Erleben in die Öffentlichkeit und versuchen für die mögliche Situation Betroffener zu sensibilisieren.

Auf den Webseiten www.genitale-autonomie.de sowie www.jungenbeschneidung.de finden sich wissenschaftliche Vorträge, die aus Kooperationen von MOGiS e.V. mit pro familia NRW oder dem Universitätsklinikum Düsseldorf entstanden sind.

Am 7. Mai jeden Jahres wird der 
Jahrestag des „Kölner Urteils“ als „Weltweiter Tag der genitalen Selbst­bestimmung“ für die Rechte aller Kinder (unabhängig vom Geschlecht) auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung mit einer Kundgebung in Köln gefeiert. 2018 unterstützen den Aufruf bereits 50 Organisationen aus zwölf Ländern und fünf Kontinenten mit zahlreichen Gästen vor Ort aus dem In- und Ausland. Deutschland hat damit Anschluss an eine internationale interkulturelle Menschenrechtsbewegung gefunden, die schon Jahrzehnte zu diesem Thema arbeitet.

Räume schaffen für das Unaussprechliche

Wie viele Männer unter den Erleb­nissen und Spätfolgen einer Vor­hautamputation leiden, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass kaum Räume bestehen, wo sich Männer ohne Angst vor Bagatellisierungen oder gar abwertenden Bemerkungen zu diesem möglichen Leid bekennen können. Leid im Zusammenhang mit Vorhautamputationen erfüllt einfach nicht die Erwartungshaltung, der Männer ausgesetzt sind, und das Nichterfüllen dieser Norm kann zu schweren Konflikten im persönlichen Umfeld führen. Zudem möchte jedermann aus verständlichen Gründen sein Genital positiv besetzen. Sich mit einer dort – zumal häufig aus dem eigenen geliebten Umfeld – zugefügten Verletzung zu konfrontieren, überhaupt als möglich erfassen, die eigene Sexualität könnte nur defizitär erlebbar sein, ist unangenehm und kann Abwehrreflexe aktivieren.

Sensibilisierung für ein Thema fängt häufig mit Worten an. Der Begriff „Beschneidung“ verharmlost, denn eine abgeschnittene Vorhaut wächst nicht nach. Es findet vielmehr eine Amputation („amputare“: ringsherum abschneiden) statt, die den Verlust von durchschnittlich 50% der gesamten Penishaut und des für sexuelle Empfindungen sensibelsten Teils mit sich bringt und die natürliche Physiologie des Penis sowie dessen Erscheinungsbild irreversibel verändert.

Pro und contra Selbstbestimmung

Die weltweite Verbreitung von Vor­haut­amputationen an Jungen liefert gleich das essentiellste Argument für ihre Abschaffung. Zum Massenphänomen hat sich der Eingriff nämlich immer nur in Kulturen und Gesellschaften entwickelt, wo er an Kindern durchgeführt wird, d.h. ohne mündige und informierte Zustimmung der Person, die allein die Durchführung ertragen und für immer mit den Folgen leben muss. Überall, wo Menschen mündig und informiert über ihre Genitalien entscheiden, sind Operationen dort ohne medizinische Notwendigkeit die absolute Ausnahme und sind in die Gruppe von anderen kosmetischen Operationen von Erwachsenen einzuordnen.

Folglich macht es keinen Sinn, eine gesellschaftliche Debatte zu einem generellen Pro und Contra „Beschneidung“ im Sinne von Religion, Kultur oder gar zu persönlichen ästhetischen oder sexuellen Präferenzen zu führen. Alles das betrifft individuelle Vorstellungen, über die sich nicht streiten lässt. Eine Debatte hingegen ist nur deshalb notwendig, weil man diese irreversible Genitaloperation Kindern aufzwingt. Es geht also um eine Diskussion pro und contra sexuelle Selbstbestimmung von Jungen und den Männern, die aus ihnen werden, über ihr Genital. Es geht darum, keine Ausnahmeregelungen in eigentlich völlig selbstverständlichen Grundrechten mehr zuzulassen. Wer wollte bitte das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder wichtige ethische Grundsätze wie „Erwachsene haben an Genitalien von Kindern nichts zu suchen“ in Frage stellen?

In Deutschland überwiegend ein medizinisches Thema

Unter der Leitung der Deutschen Ge­sellschaft für Kinderchirurgie erschien 
im Dezember 2017 die neue Leitlinie „Phimose und Paraphimose“, die sich der größten Gruppe von Beschnei­dungsbetroffenen in Deutschland widmet: denjenigen, die aufgrund einer Vorhautenge im Kindesalter diesem Eingriff unterzogen wurden. Damit wurde die bisherige überwiegend willkürlich erfolgende medizinische Praxis auf wissenschaftliche Daten hin untersucht. Das Ergebnis der Überprüfung ist angesichts der jahrzehntelangen Handhabung in Deutschland revolutionär: Eine beschwerdefreie Vorhautenge im Kindes- und Jugendalter per se ist keine Krankheit und bedarf gar keiner Behandlung. Oft weitet sich die Vorhaut erst in der Pubertät. Bei tatsächlichen Beschwerden helfen in den meisten 
Fällen nicht-operative Therapien. Auch zur sexualsensorischen Funktion der Vorhaut und zu möglichen Lang­zeitkomplikationen ihrer Entfernung ist laut der neuen Leitlinie ab sofort in Aufklärungsgesprächen durch die behandelnden Ärzte aufzuklären.

In Clemens Bergners 2015 erschienenem Buch Ent-hüllt! kommen 70 Betroffene zu Wort und berichten von ihrem Erleben. Das immer noch häufig zu hörende „Es hat sich noch nie jemand beschwert“ ist also nur ein Mythos. Die Frage sollte vielmehr heißen, warum man männlichen Betroffenen so lange nicht zugehört hat. Diesen Vorwurf müssen sich auch große Teile der deutschen Politik gefallen lassen, die im Gesetzesverfahren im Jahre 2012 großes Bemühen zeigten, Stellungnahmen organisierter leidvoll Betroffener aus den entscheidenden Gremien herauszuhalten.

Gesellschaftlicher Wandel braucht Initiativen, Geduld und Vertrauen für die Überwindung von Ängsten. Es geht nicht um Konfrontation, sondern um die Achtung der Menschenrechte und Respekt vor der Selbstbestimmung des Individuums als Basis eines friedlichen multikulturellen Zusammenlebens.

Ein langer Weg und ein wichtiges Ziel, das die Offenheit und Impulse vieler Menschen braucht. Immer mehr Menschen gehen und gestalten ihn mit.