Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 2/24 | Geschrieben von Robert Roßbruch

Im Zweifel gegen den Angeklagten?

Zur Frage der Freiverantwortlichkeit aus juristischer Sicht

Im Frühjahr ergingen zwei Urteile gegen Ärzte, die Menschen geholfen hatten, sich das Leben zu nehmen. Es ging vor Gericht jeweils um die Frage, ob – angesichts einer psychischen Erkrankung der Betreffenden – die erforderliche Freiverantwortlichkeit bei der in den Tod begleiteten suizidwilligen Person vorgelegen habe. Sowohl das Landgericht Essen im Februar als auch das Landgericht Moabit im April beantworteten die Frage mit „Nein“ und verurteilten Dr. Johann Spittler und Dr. Christoph Turowski wegen Totschlags zu mehrjährigen Haftstrafen. Beide Urteile sind noch nicht rechtskräftig. (MIZ-Redaktion)

Die beiden Urteile gegen Dr. Spittler und Dr. Turowski haben, insbesondere im ärztlichen Bereich für Verunsicherung gesorgt. Beide wurden wegen Tot­schlags in mittelbarer Täterschaft zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. In mittelbarer Täterschaft deshalb, weil nach Auffassung der beiden Landgerichte, aufgrund der fehlenden Freiverantwortlichkeit bzw. Ambivalenz der Freitodwilligen der jeweilige freitodbegleitende Arzt die Tatherrschaft innehatte.

In beiden Verfahren ging es um die zentrale Frage, ob die beiden psychisch kranken Suizidenten freiverantwortlich gehandelt haben, also im Zeitpunkt der ärztlichen Freitodbegleitung einsichts- und urteilsfähig waren. Diese Rechtsfrage wird derzeit nicht nur unter Jurist:innen, sondern auch unter Fachärzt:innen (Psychiater:innen etc.) und Medizinethiker:innen intensiv diskutiert.
Was ist unter dem Begriff Freiver
antwortlichkeit zu verstehen? Nach ständiger höchstrichterlicher Recht­sprechung liegt Einsichts- und Urteils
fähigkeit als eine wesentliche Voraus­setzung der Freiverantwortlich­keit dann vor, wenn der Freitodwillige die Urteilskraft aufweist, um die Bedeutung und Tragweite seines Entschlusses zu erkennen und danach zu handeln. Dies setzt eine umfassende Aufklärung der freitodwilligen Person voraus.
Eine umfassende Aufklärung, so das Bundesverfassungsgericht, ist dann gegeben, wenn die freitodwillige Person „über sämtliche Informationen verfügt (…) [um] auf einer hinreichenden Beurteilungsgrundlage realitätsgerecht das Für und Wider [des Entschlusses zum Suizid] abzuwägen“. Erforderlich sei eine Suizidentscheidung „in Kennt­nis aller erheblichen Umstände und Optionen“. Hinzukommen muss die Mangelfreiheit des Freitodwillens sowie die innere Festigkeit und Dauer­haftigkeit des Entschlusses.
Selbstredend haben auch psychisch erkrankte Menschen das grundgesetzlich garantierte Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Allerdings bedarf es bei konkreten Anhaltspunkten für eine krankheitsbedingt fehlende Einsichts- und Urteilsfähigkeit eines zusätzlichen fachärztlichen Attests bzw. Gutachtens, welches dem Freitodwilligen trotz seiner psychischen Erkrankung eindeutig die zwingend notwendige Einsichts- und Urteilsfähigkeit attestiert.
Für die Feststellung der Freiverant­wortlichkeit sollten daher nicht die Aussagen „in dubio pro vita“ oder „in dubio pro mortem“, sondern „in dubio pro libertate“ oder „in dubio pro dignitate“ entscheidungs- und handlungsorientierend sein. Denn nicht der Schutz des Lebens, sondern die Würde eines Menschen ist das höchste und unantastbare Gut im Sinne unseres Grundgesetzes. Die Rechtfertigung für die Inanspruchnahme einer professionellen Freitodbegleitung ist daher nicht Krankheit oder Lebenssattheit, sondern die Freiheit.
Die Würde ist immer dann in Gefahr, wenn der Staat versucht, dem Menschen zu nehmen, was er hat: die Autonomie und Selbstbestimmung über sein Leben und sein Sterben. Solchen staatlichen Bestrebungen, die nicht selten in ein paternalistisches Mäntelchen gekleidet sind, wie beispielsweise die so genannte Fürsorge- und Schutzpflicht des Staates, gilt es eine eindeutige Absage zu erteilen.
Ähnliches gilt für gesellschaftliche Gruppen, wie z.B. die Kirchen, Parteien, ärztliche Organisationen, Wissen­schaft­ler:innen jeglicher Couleur oder selbsternannte Lebensschützer:innen, die die Würde des Menschen nach ihren weltanschaulichen, religiösen oder ideologischen Überzeugungen definieren und meinen, dieser Definition nun allgemeine Geltung verschaffen zu müssen. Dem steht jedoch unser Grundgesetz entgegen, das den Menschen auch davor schützt, zum Objekt der Men­schen­würdedefinition Einzelner zu werden.
Auf den oben dargestellten höchstrichterlichen Vorgaben zur Frage der Freiverantwortlichkeit basiert das Sicherheitskonzept der DGHS im Hinblick auf die Vermittlung von Freitodbegleitungen für antragstellende Mitglieder, das die Einhaltung hoher medizinischer und juristischer Sicher­heitsstandards gewährleistet.
Es ist daher kein Zufall, dass es bei den über tausend von der DGHS vermittelten Freitodbegleitungen bis dato zu keinem ernsthaften staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren ge
­kommen ist. Ebenso wenig, dass der Präsident der DGHS in dem Straf­prozess gegen Herrn Dr. Turowski als Zeuge geladen worden ist, um das Sicherheitskonzept näher zu erläutern.

Einsichts- und Urteilsfähigkeit

Das Bundesverfassungsgericht fordert im Rahmen der professionellen Frei­tod­begleitung weder die Teil­nahme eines Arztes/einer Ärztin, geschweige denn eines Psychiaters/einer Psychiaterin. Die grundsätzliche Ein­führung einer fachärztlichen (psychiatrischen) Begutachtung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit der freitod­willigen Person setzt nicht nur bedenk­liche Hürden im Hinblick auf die Umsetzung des Freitodwunsches, sondern führt zu einer unzulässigen Umkehr der Beweislast.

Daher sei nochmals betont: Es darf keine Verpflichtung geben, psychiatrische Untersuchungen bzw. Begutachtungen nachweisen zu müssen, die dem Freitodwilligen bestätigen, dass er einsichts- und urteilsfähig ist, denn dies wird in unserem Rechtssystem bei jedem erwachsenen Menschen unterstellt. Nur dort, wo konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einsichts- und Urteilsfähigkeit möglicherweise nicht mehr gegeben sein könnte, ist eine fachärztliche Un­tersuchung bzw. die Vorlage eines fachärztlichen Attests angezeigt und verhältnismäßig.
Darüber hinaus kann nicht oft genug betont werden, dass eine psychische Krankheit das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nur dann ausschließt, wenn diese Krankheit die Freiverantwortlichkeit nachweislich beeinträchtigt. Ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben besteht auch, wenn die psychische Erkrankung der Anlass des Sterbewunsches ist. Eine inhaltliche Wertung der Gründe des Sterbewunsches verbietet sich.
Des Weiteren sind die Bedenken von Putz und de Ridder im Hinblick auf eine Personalunion zwischen der das Zweitgespräch führenden Ärztin und deren spätere Mitwirkung an der Freitodbegleitung nicht nachvollziehbar, zumal noch eine weitere freitodbegleitende Person (Jurist:in) während des gesamten FTB-Verfahrens involviert ist. Denn das Vier-Augen-Prinzip ist zentraler Bestandteil des von der DGHS entwickelten Sicher­heitskonzepts. Sowohl von den Frei­todwilligen als auch von deren An­gehörigen bekommt die DGHS direkt und indirekt zurückgemeldet, dass man durch die beiden Vorgespräche die beiden Freitodhelfer:innen kennenlernen konnte und so ein Vertrauensverhältnis zu diesen aufbauen konnte. Die logische Konsequenz einer personellen Trennung wäre, dass am Tag der Freitodbegleitung zwei völlig fremde Menschen an der Tür stünden, um die Freitodbegleitung durchzuführen. Ganz abgesehen davon, dass dies schon aus personellen Gründen nicht möglich und aus der Sicht des Freitodwilligen und dessen Angehörigen auch nicht wünschenswert ist.
Die DGHS wird also weiterhin an ihrem seit nunmehr vier Jahren in der Praxis bewährten und allgemein anerkannten Sicherheitskonzept, das weit über die Vorgaben des Bundes­verfassungsgerichts hinausgeht, festhalten.

Das Berliner Urteil

Im Fall Turowski wurde die Verur­teilung durch das Landgericht Berlin I aufgrund der angeblich fehlenden Wil-
lenskonstanz bzw. einer vorhandenen Ambivalenz am Tag der zweiten, erfolgreich durchgeführten Frei­todbegleitung begründet. Bei der ersten, nicht erfolgreich durchgeführten Freitodbegleitung unterstellte das Landgericht das Vorliegen der Kriterien der Freiverantwortlichkeit, zur der ja neben der Einsichts- und Urteilsfähigkeit auch die Willenskonstanz gehört. Da­her sprach das Landgericht Herrn Dr. Turowski hinsichtlich der ersten, nicht erfolgreichen Freitodbegleitung frei, während es ihn hinsichtlich der zweiten, erfolgreichen Freitodbegleitung zu einer Freiheitsstrafe verurteilte.

Aus meiner Sicht vermag die bis dato nur mündlich vorliegende Urteils­begründung nicht zu überzeugen. Zwar hat der vom Gericht beauftragte psychiatrische Sachverständige festgestellt, dass der Freitodwille der Suizidentin krankheitsbedingt beeinträchtigt gewesen sei, dass er jedoch keine die Freiverantwortlichkeit ausschließende Kriterien bei der Suizidentin feststellen konnte und auch die vom Gericht unterstellte Ambivalenz nicht als eindeutigen Beleg gegen den freiverantwortlichen Willen gewertet werden kann.
Dabei ist den Richtern der 40. Straf
kammer zugute zu halten, dass die Frage, wie denn die „innere Festigkeit und Zielstrebigkeit“ eines Suizid­wunsches zu ermitteln ist und ob dieses Erfordernis neben jenes einer von akuten psychischen Störungen freien Entscheidung tritt oder gerade Kennzeichen des Fehlens einer solchen Störung sein soll, höchstrichterlich noch nicht entschieden worden ist.
Jedenfalls hätte es mit der Fest­stellung des psychiatrischen Sachver­ständigen nahegelegen, Zweifel an der Schuld des Angeklagten aufkommen zu lassen und daher gemäß dem Rechtssatz „in dubio pro reo“ den Angeklagten freizusprechen. Dies ist jedoch nicht geschehen.

Zum Kommentar des Richters

Es mag die inkonsistente und daher wenig überzeugende mündliche Urteilsbegründung sein, die den Vor­sitzenden Richter der 40. Straf­kammer des Landgerichts Berlin I zu der ungewöhnlichen Aussage veranlasst hat, dass die Kammer es begrüße, wenn der Verurteilte Rechtsmittel einlege, damit die maßgebenden Rechts­fragen geklärt würden; die bisherige Rechtsprechung, so der Vorsitzende Richter, sei „im Hinblick auf Leitplanken dürftig, der Gesetzgeber selbst sei untätig“.

Zur kritischen Anmerkung des Vor-
­sitzenden Richters der 40. Straf­kam­mer im Hinblick auf die Untätig­keit des Gesetzgebers sei angemerkt, dass alle bis dato vorgelegten Ge­setzes­entwürfe die Frage der Freiver­antwort­lichkeit nicht ausdrücklich gesetzlich 
geregelt hatten. Selbst wenn eine ent­sprechende Klärung des Begriffs der 
Freiverantwortlichkeit gesetzlich ge­-
regelt werden sollte, so werden die Gerichte nicht umhinkommen, für jeden 
rechtlich zu entscheidenden Einzelfall das Vorliegen der Freiver­ant­wort­lich­keit individuell zu prüfen und eine ent-
sprechende verfassungskonforme Aus
legung dieses Begriffs vorzunehmen.
Die beiden verurteilten Ärzte werden selbstredend in die Revision gehen. Die DGHS hat übrigens beide Ärzte sowohl ideell als auch finanziell unterstützt.