Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/18 | Geschrieben von Colin Goldner

Karmakadschiü

Unter dem Titel Hannah – Ein buddhistischer Weg zur Freiheit kam Anfang 2018 ein Film in die deutschen Kinos, der, gedreht von der britischen Regiedebütantin Marta György-Kessler, das Leben der gebürtigen Dänin Hannah Nydahl (1946–2007) nachzeichnet. Zusammen mit ihrem Ehemann Ole Nydahl (*1941) gilt sie als Begründerin des sogenannten Diamantwegbuddhismus, der, basierend auf der tibetischen Karma-Kagyü-Tradition, weltweit mehr als 650 Meditationszentren unterhält, 180 davon allein im deutschsprachigen Raum.1 Die von den Nydahls vertretene Variante des tibetischen Buddhismus dürfte hierzulande mehr Anhänger aufweisen als die des Dalai Lama.

Hannah und Ole Nydahl lernen einander Mitte der 1960er in Kopenhagen kennen. Ganz im Geiste der Zeit experimentieren sie mit psychedelischen Drogen. 1968 heiraten sie, ihre Hochzeitsreise führt sie auf dem Hippietrail nach Kathmandu, dem Sehnsuchtsort der Flower-Power-Generation: bestes und obendrein spottbilliges Ganja (= Mari­huana) wartet dort auf sie. Der Film zeigt einen bunten Bilderbogen aus dieser Zeit.

Zufällig lernen sie in der nepalesischen Hauptstadt Lopön Tsechu Rinpoche kennen, einen als „Lebender Buddha“ verehrten Meister der tibetischen Karma-Kagyü-Tradition, der seit Längerem schon in einem dortigen Kloster lebt. Zur Verdeutlichung (die der Film nicht leistet): Karma-Kagyü (sprich: Karmakadschiü) ist eine von vier Unter- und acht Unter­unterabteilungen der Kagyü-Abteilung des tibetischen Vajrayana-Buddhismus, dessen drei andere Abteilungen als Nyingma, Sakya und Gelug bekannt sind. Der Vajrayana-Buddhismus wiederum ist eine Unterabteilung des sogenannten Mahayana-Buddhismus, hat mit dessen anderen, den nicht-tibetischen Abteilungen indes wenig bis gar nichts zu tun. Sämtliche Abteilungen, Unter- und Unterunterabteilungen des tibetischen Buddhismus verfügen über je eigene Lamas, Großlamas, Rinpoches (= Lehrmeister) oder Tulkus („Lebende Buddhas“) sowie je eigene Lehrgebäude, Rituale und Praktiken. Inwieweit diese sich voneinander unterscheiden, ist für den Außenstehenden ebenso undurchschaubar wie unwichtig. Oberhaupt der Gelug-Abteilung ist im Übrigen ein weiterer „Lebender Buddha“ namens Tenzin Gyatso, besser bekannt als Dalai Lama, der, so heißt es, bereits zum vierzehntenmale als er selbst wiedergeboren wurde.

Geheime Praktiken

Lopön Tsechu also führt Hannah und Ole Nydahl in die geheimen Praktiken der Karma-Kagyü-Tradition ein, von denen die beiden so fasziniert sind, dass sie im Jahr darauf erneut nach Nepal reisen, wo Lopön Tsechu sie mit seinem eigenen Lehrmeister bekannt macht, einem gewissen Rangjung Rigpe Dorje (1924–1981). Bereits zum sechzehntenmale wiedergeboren firmiert dieser als sogenannter Gyalwa Karmapa, sprich: als Oberhaupt der Karma-Abteilung des Kagyü-Buddhismus. Rangjung Rigpe war 1959, zeitgleich mit dem Dalai Lama, vor der chinesischen Volksbefreiungsarmee geflohen und war, zusammen mit 160 weiteren Lamas und Mönchen, letztlich im nordindischen Sikkim gelandet. Dort hatte er mit dem Vermögen, das er aus Tibet herausgeschafft hatte, ein neues Kloster begründet.

Hannah und Ole Nydahl besuchen also „Seine Heiligkeit“ den 16. Gyalwa Karmapa in dessen protzig ausgestattetem neuen Kloster Rumtek und werden hier weiter in irgendwelchen Karma-Kagyü-Praktiken unterwiesen. Unter anderem seien sie in die Geheimnisse des „Chag Chen“, der „höchsten buddhistischen Sicht der Natur des Geistes“ eingeweiht worden. Wie lange sie in Rumtek „studieren“ – sie selbst sprechen 
von drei Jahren – ist nicht verbürgt. Zurück in Dänemark entfalten sie jedenfalls ab 1972 rege Missionstätigkeit für ihr als „Diamantwegbuddhismus“ bezeichnetes und freihändig interpretiertes Konglomerat aus den Lehren des Karmapa und anderer Rinpoches, Tulkus und Großlamas, die sie in Nepal und Sikkim kennengelernt haben. Es entstehen erste Diamantwegzentren in Österreich, Norwegen und Schweden, ab 1974 auch in Deutschland. Mit dem Geld, das sie über ihre Zentren einnehmen, organisieren sie großangelegte Europa- und Welttourneen für Lopön Tsechu, den Gyalwa Karmapa und zahllose andere Rinpoches und Tulkus, was zur Mehrung der Anhän­gerschaft und zur Gründung immer weiterer Zentren führt. Seit Anfang der 1980er bezeichnet Ole Nydahl sich selbst als Lama, seine Lehr- und Zentrumsbegründungstätigkeit rund um den Globus wird ihm zur Lebens­aufgabe. Meist mit dabei: Hannah Nydahl, die im April 2007 im Alter von 60 Jahren einem Krebsleiden erliegt.

Weniger Dokumentation 
als PR-Film

Von alledem erzählt der Film in großer Ausführlichkeit und einigermaßen chronologischer Reihenfolge. Gleichwohl ist das Ganze, anders als von den Machern behauptet, alles andere als ein Dokumentarfilm. Vielmehr kommt der 120-Minuten-Streifen als äußerst suggestiv aufgemachtes und daher umso durchsichtigeres PR-Unterfangen daher, Hannah Nydahl irgendwie in den Stand einer Karma-Kagyü-Heiligen zu versetzen und damit das Image des seit Jahren von inneren Konflikten und öffentlich ausgetragenen Kontroversen angekränkelten Nydahl-Imperiums aufzupolieren. Al­lein die ständig in Zeitlupe durch den Film flatternden Tauben, die, überlagert von pompösen Soundeffekten, wohl irgendwie Hannahs „Weg zur Freiheit“ versinnbildlichen sollen – was immer das auch sein mag –, gehen dem Nicht-Diamantwegbuddhisten im Kinopublikum schon nach wenigen Sequenzen gehörig auf den Senkel. Der schwülstige Pathos, den Interviewpartner mit Blick auf die zur „Mutter des Buddhismus“ verklärten Hannah Nydahl verbreiten, tut insofern ein Übriges.

Kritik an der Nydahlschen Variante des Karma-Kagyü-Buddhismus gibt es seit je. Ende der 1990er hatte sich sogar der Dachverband der in Deutschland organisierten Buddhisten (DBU) dagegen gewandt, der ansonsten selbst abgedrehteste Hirngespinste mitträgt, solange nur das Etikett „Buddhismus“ darauf klebt. Die Rede war von „Mißachtung der Ethik, extremem Sektierertum und der unseriösen und irreführenden Vermittlung buddhistischer Inhalte“.2 In einer Studie des Bayreuther Religionswissenschaftlers Oliver Freiberger von 2001, die sich mit der „fortwährenden Kontroverse“ um Ole Nydahl innerhalb der DBU befasste, wird auf zwei Artikel im DBU-Mitteilungsblatt „Lotusblätter“ verwiesen, in denen Nydahl, so Freiberger, „nicht nur beschuldigt wurde, auf eingebildete und militaristische Weise zu sprechen, sondern auch rechtslastig, rassistisch, sexistisch und feindselig gegenüber Ausländern zu sein“.3

Auch wenn die Kritik sich in erster Linie gegen Ole Nydahl richtete, war Hannah, deren Lehr- und Missionstätigkeit sich von der ihres Ehemannes nur unwesentlich unterschied - mit Ausnahme vielleicht dessen fortgesetzter Sexeskapaden4 – immer auch mitgemeint. Erwartungsgemäß kommt all dies in dem Film nicht vor. Nicht zuletzt deshalb, weil Regisseurin und Co-Produzentin Marta György-Kessler seit je persönlich und geschäftlich eng mit den Nydahls und ihrem Diamantwegbuddhismus verbandelt war und bis heute ist.5 Apropos: Eine von Ole Nydahl eingerichtete „Stiftung Diamantweg“ – Vorstandsvorsitzender Lama Nydahl höchselbst – verfügt laut 
Jahresbericht 2016 über ein Gesamt­vermögen von 31,4 Mio Euro.6

Selber schuld?

Im Übrigen gibt der Film auch keine Antwort auf die Frage, was der frühe Tod Hannah Nydahls aus karmischer Perspektive bedeutet, die für Karma-Kagyü-Adepten doch von so großer Bedeutung ist. War sie irgendwelcher Vergehen in früheren Leben wegen selbst für ihr Krebsleiden verantwortlich? Und wann, wo und in welcher Gestalt wird bzw. wurde sie wiedergeboren? Spätestens am 49. Tag nach dem Tod, so die Lehre des Diamantwegbuddhismus, sucht das im sogenannten „Bardo“, einer Art „Zwischenzustand“ zwischen Tod und Wiedergeburt gefangene Bewusstsein der verstorbenen Person sich ein karmisch passendes neues Elternpaar: „Das Bewusstsein verbindet sich mit Samen und Ei der Eltern, und ein neues Leben entsteht. […] Da Ursache und Wirkung auf der relativen Ebene immer funktionieren, bestimmt auch hier unser Karma das nächste Leben: Wo werden wir wiedergeboren (in westlichen Demokratien oder armen Diktaturen)? Mit welchen geistigen Tendenzen (z.B. hilfsbereit, aggressiv, lernwillig, unterdrückend, neurotisch)? Wie ist unser Körper beschaffen (z.B. gesund, athletisch, kränkelnd, behindert)?“7

Oder durfte Hannah Nydahl auf ihrem „Weg zur Freiheit“ gar aus dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten aussteigen und sich ins „reine Land“ des Nirvana auflösen? Was ja zumindest der Filmtitel nahelegt.

Anmerkungen

1 vgl. www.lama-ole-nydahl.de/zentren.htm
2 zit.in: https://info-buddhismus.de/PDF/OleNydahl-DBU-Analyse.pdf
3 vgl. www.globalbuddhism.org/jgb/index.php/jgb/article/view/28/36 (FN 30, bezugnehmend auf Lotusblätter 13, # 4, 1999, 64f. und Lotusblätter 14, #1, 2000, 56f.)
4 vgl. www.lamatruth.com/ying/?type=detail&id=34
5 vgl. www.epd-film.de/filmkritiken/hannah-ein-buddhistischer-weg-zur-freiheit
6 www.buddhismus-stiftung.de/export/sites/germany_stiftung/de/Stiftung/Jahresabschluesse/JA_2016_de.pdf
7 www.buddhismus-schule.de/inhalte/wiedergeburt.html