Geboren wurde die Idee für den ersten Ketzertag aus Wut. Nach monatelanger säkularer Aufklärungsarbeit hatte der Rat meines Wohnortes Münster 2015 ursprünglich beschlossen, dem Veranstalter des dortigen Katholikentags 2018 nicht die beantragte Bar-Förderung in Höhe von 1,5 Millionen Euro zu gewähren. Ein historischer Akt. Noch nie hatte sich ein deutscher Stadtrat den finanziellen Wünschen eines Kirchentagsveranstalters verweigert. Und dann sowas, ausgerechnet im katholischen Münster. Der Fall ging deutschlandweit durch die Presse und klärte dabei so manchen Leser und so manche Leserin darüber auf, mit welch immensen Summen an öffentlichen Geldern die jährlich im Wechsel stattfindenden evangelischen und katholischen Kirchentage finanziert werden.
2017 jedoch wendete sich das Blatt. Die Grünen, die zuvor gegen die Katholikentagsfinanzierung waren, gingen im Stadtrat eine Koalition mit der CDU ein und stimmten nun für eine erhebliche finanzielle Förderung des Katholikentags. Als ich am Tag dieser Entscheidung im Ratssaal saß, fasste ich den Entschluss, den Katholikentag in Münster 2018 nicht ohne eine große Gegenveranstaltung verstreichen zu lassen.
Ein griffiger Name
Der Name für das Event war fast im selben Augenblick geboren. Da sich die Säkularen Münsters seit zehn Jahren regelmäßig beim vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) organisierten „Ketzerstammtisch“ treffen, lag der Name „Ketzertag“ förmlich auf der Hand. Auch in anderen Städten hatte es in der Vergangenheit während religiöser Großereignisse säkulare Gegenveranstaltungsreihen gegeben. Sie trugen Titel wie „Säkulare Tage“ oder „Religionsfreie Zone“, doch ein eindeutiges, regelmäßig wiederverwendetes und griffiges Label gab es nicht.
Dass der Begriff „Ketzertag“ das Potential für ein solches Label haben könnte, zeigte sich erstaunlich schnell. Aufgrund begrenzter finanzieller Mittel und kirchenfreundlicher Lokalmedien in Münster war die im Vorfeld des Ketzertags 2018 gemachte Werbung relativ gering. Wir zeigten Präsenz in den sozialen Medien, schalteten kostenlose Anzeigen in digitalen Portalen der alternativen lokalen Szene und versorgten die Kneipen mit Umsonst-Postkarten und Plakaten. Eine Flyer-Verteil-Aktion am Wochenende vor dem Event in der Innenstadt von Münster war dazu gedacht, unsere Bekanntheit zu erhöhen. Doch zu unserer Überraschung war der Ketzertag zu diesem Zeitpunkt bereits vielen Menschen in Münster ein Begriff.
Obwohl die Bezeichnung „Ketzer“ ursprünglich für innerkirchliche und damit religiöse Kirchenkritiker genutzt wurde, hat sie längst eine Bedeutungsverschiebung erfahren. Heute identifizieren sich – ein wenig augenzwinkernd – Menschen mit dem Begriff „Ketzer“, die kirchliche Lehren ablehnen und ‘von außen’ kritisieren. Viele Kritiker der Kirche und des Kirchentags konnten sich bei unseren Gesprächen in der Innenstadt mit diesem Begriff identifizieren. Was mit einem „Ketzertag“ gemeint ist, war ihnen unmittelbar klar. Auch in den sozialen Medien und innerhalb des säkularen Spektrums sprach sich der Ketzertag schnell herum. Was ursprünglich ein lokales Gegenevent mit religions- und kirchenkritischen Vorträgen und Veranstaltungen werden sollte, zog unerwarteterweise Säkulare aus dem höchsten Norden und dem tiefsten Süden Deutschlands ins westfälische Münster. Der Veranstaltungsraum platzte aus allen Nähten, so dass ein Livestream ins Internet und eine Übertragung ins Foyer Abhilfe schaffen mussten.
Da in diesem Jahr knapp hundert Kilometer weiter südlich in Dortmund der Evangelische Kirchentag 2019 stattfinden sollte, plante auch die vor Ort aktive säkulare Gruppe Religionsfrei im Revier – deutschlandweit bekannt durch das verbotene Aufführen des Films Das Leben des Brian am Karfreitag – eine Gegenveranstaltungsreihe. Bald fasste man den Entschluss, nach dem Erfolg des Vorjahrsevents auch in Dortmund das Label „Ketzertag“ zu nutzen. Ebenso wie im Vorjahr in Münster übernahmen die Finanzierung des Dortmunder Ketzertags IBKA und Giordano-Bruno-Stiftung (gbs).
Kein Label für alle Säkularen
Allerdings muss deutlich gesagt werden, dass sich mit dem Label „Ketzertag“ nicht alle Säkularen anfreunden können. Dies zeigte sich deutlich in diesem Jahr in Dortmund. Während Religionsfrei im Revier bereits in den Vorbereitungen zum Ketzertag steckte, wurde bekannt, dass der Humanistische Verband Nordrhein-Westfalens an seinem Dortmunder Hauptsitz parallel zu Kirchen- und Ketzertag einen Humanistentag veranstalten würde. HVD-Vertreter betonten, dass es sich lediglich um ein dreitägiges Straßenfest mit Vorträgen anlässlich des höchsten humanistischen Feiertags handle, des Welthumanistentags, der nun mal ausgerechnet während des Kirchentags am 21. Juni stattfände. Auf Seiten der Ketzertagsveranstalter wurde der Humanistentag des HVD als bewusst gesetzte Konkurrenzveranstaltung zum Ketzertag wahrgenommen. Diskussionen zwischen den Vertretern beider Lager zeigten tatsächlich, dass die Distanzierung vom Ketzertag keineswegs nur eine Einbildung war. Einige Vertreter des HVD formulierten deutlich, dass sie sich mit dem Namen Ketzertag und dessen primär kirchen- und religionskritischer Ausrichtung nicht identifizieren könnten. Eine bekannte Verwerfungslinie zwischen dem HVD, dem es primär um die Verbreitung seiner humanistischen Weltanschauung geht, und den meisten übrigen Vereinigungen des säkularen Spektrums, deren vorrangiges Ziel die Trennung von Staat und Kirche ist. Anlässlich des Ketzertags im Vorjahr waren an dieser Verwerfungslinie nur deshalb keine Spannungsbeben entstanden, da in der säkularen Diaspora Münsters außer dem IBKA keine anderen säkularen Vereinigungen Dependancen unterhielten.
Wie gut das Label „Ketzertag“ geeignet ist, kirchenferne Menschen anzusprechen, zeigte sich in Dortmund am unterschiedlichen Besuch der beiden mehrtägigen säkularen Veranstaltungsreihen. Der Ketzertag war deutlich besser besucht als das Straßenfest des HVD. Und während sich bei der Veranstaltungsreihe des HVD im Wesentlichen Vereinsmitglieder einfanden, zogen die Veranstaltungen des Ketzertags auch religions- und kirchenkritische Menschen an, die bislang noch nicht in säkularen Organisationen gebunden sind.
Der Ketzertag als Zukunftsmodell
Obwohl das Label „Ketzertag“ also wohl nie alle Säkularen unter einem Dach wird vereinen können, hat es großes Potential. Bereits in diesem Jahr während des zweiten Ketzertags schien es vielen Besuchern schon fast selbstverständlich, dass während eines Kirchentags ein kirchenkritischer Ketzertag stattfindet. Doch selbstverständlich ist das keineswegs. Es gibt keine zentrale Organisationsstruktur hinter dem Ketzertag. Die Idee des Events ist, dass der Ketzertag wie ein Wanderpokal von Kirchentagsstadt zu Kirchentagsstadt weitergereicht wird, wo die säkularen Kräfte vor Ort unter dem inzwischen bereits bekannten Label „Ketzertag“ eigenständig ihre jeweils ganz eigene Gegenveranstaltungsreihe zum Kirchentag organisieren. Die Veranstalter früherer Ketzertage stehen hierbei gern beratend zur Seite, doch die Konzeption und Organisation der einzelnen Ketzertage liegt allein in den Händen der jeweiligen Säkularen vor Ort. Ob der „Ketzertag“ auf Dauer ein Erfolgsmodell wird, hängt also von den aktiven säkularen Gruppierungen in den Regionen ab. Dass es bereits Anfragen zur Durchführung von Ketzertagen aus Städten gibt, in denen in kommenden Jahren Kirchentage stattfinden werden, lässt hoffen.